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Das verhinderte Tarif­mo­nopol - Gewerk­schafts­mit­glieder denken und handeln

Grundrechte-Report 2012, Seite 109

In einem Unternehmen mit 800 Mitarbeitern gibt es ca. 40 ver.di-Mitglieder; sechs davon gehören dem Betriebsrat an. Der Vorstand will sparen und schließt mit einer sich „christlich“ nennenden Gewerkschaft einen Firmentarif ab, der erheblich unter dem Niveau des ver.di-Flächentarifs liegt. Welcher Tarif geht vor?

Lernpro­zesse in der Recht­spre­chung

Bis vor kurzem galt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) der Grundsatz der Tarifeinheit. Auch wenn zwei verschiedene Gewerkschaften Tarifverträge geschlossen hatten, durfte im Betrieb nur einer gelten. Welcher das war, bestimmte sich nach dem sogenannten Spezialitätsprinzip. Dabei war der Firmentarif immer der „speziellere“ im Verhältnis zum Flächentarif. Also war der ver.di-Tarif verdrängt und der Vorstand konnte sich ins Fäustchen lachen. Hatten die Nichtorganisierten in ihren Arbeitsverträgen stehen, dass der jeweils im Betrieb geltende Tarif auch für sie maßgebend sei, fuhren sie automatisch im „Aufzug“ nach unten mit.

Seit rund zwanzig Jahren lehnen fast alle Arbeitsrechtler in ihren Veröffentlichungen diese „Tarifeinheit“ ab, weil sie schlicht verfassungswidrig sei: Den Mitgliedern der Gewerkschaft, die den „verdrängten“ Tarifvertrag geschlossen habe, würden die Früchte ihrer Mitgliedschaft entzogen, sie stünden wieder so, als wären sie in keiner Gewerkschaft organisiert. Dies lässt sich mit der Koalitionsfreiheit des Artikel 9 Absatz 3 GG nicht vereinbaren.

Nach langem Zögern hatte das BAG Anfang 2010 ein Einsehen. Die zuständigen Senate änderten ihre Rechtsprechung und gaben den Grundsatz der Tarifeinheit auf. In Zukunft können mehrere Tarifverträge im Betrieb nebeneinander existieren, es gilt „Tarifpluralität“. In unserem Beispiel würden die „Christen“-Tarife nur für die Mitglieder der fraglichen Gewerkschaft gelten, die ver.di-Mitglieder hätten weiter ihren Flächentarif. Auch bei den übrigen würde sich nichts ändern, es bliebe bei den ver.di-Tarifen.

Die DGB-B­DA-I­n­i­tia­tive

Also Ende gut, alles gut? Leider nein. Am 4. Juni 2010 traten DGB und BDA (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände) mit einer gemeinsamen Erklärung an die Öffentlichkeit. Sie verlangten eine gesetzliche Korrektur der BAG-Rechtsprechung; es solle wieder Tarifeinheit gelten. Dabei müsse sich im einzelnen Betrieb der Tarif der Gewerkschaft durchsetzen, die dort die meisten Mitglieder habe. Dies wurde im Einzelnen in einem Gesetzentwurf ausformuliert, der offiziell nicht existierte, aber gerade deshalb umso schneller unter die Leute kam. Im Streitfall sollte mit Hilfe eines Notars festgestellt werden, wer im Betrieb mehr Mitglieder hat.

Was war die Logik dieses Schulterschlusses mit der Arbeitgeberseite? Spartengewerkschaften wie die Organisationen von Lokführern, Ärzten und Piloten sollten keine Tarifpolitik mehr machen können. Sie vertreten typischerweise eine Minderheit in den Betrieben, also kommen ihre Tarifverträge nicht zur Geltung. Ausdrücklich wurde die Friedenspflicht aus dem Mehrheitstarif auch auf die Minderheitsgewerkschaften erstreckt. Und in einer offenen Tarifrunde nach abgelaufener Friedenspflicht? Formal hätten die „Kleinen“ zwar verhandeln und streiken können, aber wer engagiert sich schon, wenn klar ist, dass das Ergebnis dann von dem verdrängt wird, was die anderen ausgehandelt haben? Inhaltlich ging es auf Seiten des DGB also um die Beseitigung der „Überbietungskonkurrenz“; die lästigen Organisationen, die immer wieder zeigen, dass doch mehr drin ist, wären endlich handlungsunfähig und mundtot gemacht. Für die Arbeitgeberseite eine angenehme Perspektive: Sie hätte es nur noch mit einem Verhandlungspartner zu tun, der sich überdies meist als „pflegeleicht“ erweist.

Widerstand in der Gesell­schaft…

Gegen die DGB-BDA-Initiative regte sich Widerstand. Dieser kam einmal von Arbeitsrechtlern, die kritisierten, dass man bestehenden Gewerkschaften nicht mit einem solchen „Trick“ Tarifautonomie und Streikrecht nehmen könne; das verstoße gegen Artikel 9 Absatz 3 GG. Auch die BAG-Präsidentin und einer ihrer Vorgänger äußerten deutliche verfassungsrechtliche Bedenken. Das beabsichtigte „Tarifkartell“ hatte keine gute Presse. Die gemeinsame Erklärung und der Gesetzentwurf waren überdies in einer Art Geheimdiplomatie von den einflussreichsten Personen auf beiden Seiten ausgearbeitet worden. Zahlreiche gewerkschaftliche Vorstandsmitglieder, selbst solche, die für Tarifpolitik zuständig waren, erfuhren von der Abmachung aus der Zeitung. Dennoch gab es keinen „Aufstand“: Man kann doch nicht den Großen Vorsitzenden im Regen stehen lassen.

…und Kritik in den eigenen Reihen

Trotzdem war die Angelegenheit damit nicht erledigt. Wenn man das „Fass“ Tarifrecht und Arbeitskampf erst einmal aufmacht, kann am Ende eine ganz andere gesetzliche Regelung herauskommen. Auch hatten die „führenden Köpfe“ die Situation in den Betrieben nicht voll im Blick: In den Zeitungsredaktionen würde der Deutsche Journalisten-Verband die Mehrheit stellen. Der Marburger Bund hat einen sehr hohen Organisationsgrad (er tut ja auch was für seine Mitglieder); ist ver.di in einem Krankenhaus schlecht organisiert, kann er Mehrheitsgewerkschaft sein. Für das Pflegepersonal gibt es dann überhaupt keine Tarifverträge mehr. Bei der Lufthansa und den Flughafengesellschaften ist ver.di in den Betriebsräten meist in der Minderheit; wahrscheinlich hätte sich sehr schnell eine Luftverkehrsgewerkschaft gebildet, die dann überall die Mehrheit gestellt hätte. Der Schuss wäre nach hinten losgegangen.

Im Laufe der Monate gab es innerhalb von ver.di viele Diskussionen und Gremienbeschlüsse. Irgendwann war klar, dass der Gewerkschaftstag mit deutlicher Mehrheit gegen die bisherige Linie votieren würde. Um die noch größere Niederlage abzuwenden, zog der Vorstand die Reißleine: Er schlug dem Gewerkschaftsrat im Mai 2011 selbst vor, sich aus der Initiative zurückzuziehen. Dies wurde einstimmig beschlossen. Wenige Tage später erklärte auch der DGB, er habe immer die richtigen Ziele verfolgt, aber die konkreten Forderungen halte man nicht aufrecht.

Konsequenzen

Ein paar Dinge lassen sich aus dieser Erfahrung lernen. Die Geheimtreffen mit der Arbeitgeberseite scheinen eine Art „Bunkermentalität“ erzeugt zu haben. Ohne Rückkoppelung zu den Vorstandskollegen oder gar zu engagierten Kollegen an der Basis entstehen automatisch Fehlvorstellungen von der Realität. Man erkannte nicht, dass man in unserer Gesellschaft nicht einfach (über die Arbeitgeberseite) mit der Kanzlerin sprechen kann und schon ist alles in trockenen Tüchern. Der politische Prozess ist sehr viel komplizierter. So darf man etwa die wichtige Rolle, die die verfassungsrechtliche Diskussion spielt, nicht aus den Augen verlieren; andernfalls endet der Höhenflug ziemlich schnell mit einer Bauchlandung in Karlsruhe. Die Ministerialbürokratie kann ein Vorhaben fördern oder es in die Länge ziehen; da sind die obersten Chefs ziemlich machtlos. Weiter hat man übersehen, dass es doch so etwas wie eine innergewerkschaftliche Demokratie gibt: Wenn man die eigenen Leute nicht „mitnimmt“ bei einem so riskanten Vorgehen wie dem Schulterschluss mit den Arbeitgebern im Tarifrecht und beim Arbeitskampf, dann erleidet man Schiffbruch.

Es gibt eine große Organisation, deren Justiziar weiter verkündet, man habe alles richtig gemacht. Wer es nicht glaubt, wird ignoriert oder bekommt eine aggressive Antwort. Ob irgendwann ein Zustand erreicht ist, dass man es mit Gelassenheit hinnimmt, in der Minderheit geblieben zu sein? Das wäre ein wichtiges Zeichen funktionierender innergewerkschaftlicher Demokratie.

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