Heinisch vs. Germany: Whistleblowing als freie Meinungsäußerung
Grundrechte-Report 2012, Seite 78
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 21. Juli 2011 die Bundesrepublik Deutschland zu einer Schadensersatzzahlung von 15.000 Euro verurteilt, weil ihre Gerichte das Recht einer Klägerin auf freie Meinungsäußerung missachtet und damit gegen Artikel 10 der Europäischen Menschrechtskonvention (EMRK) verstoßen haben. Die Klägerin war Brigitte Heinisch. Die Fünfzigjährige kämpft seit beinahe sieben Jahren gegen die fristlose Kündigung ihres Arbeitgebers und die Weigerung deutscher Arbeitsgerichte sowie des Bundesverfassungsgerichts, diese aufzuheben. Das Urteil des Berliner Landesarbeitsgerichts (LAG) muss jetzt im Wege der von Frau Heinisch bereits eingereichten Restitutionsklage förmlich aufgehoben werden.
Sachverhalt und Urteil
Brigitte Heinisch war viele Jahre Altenpflegerin in einer Berliner Pflegeeinrichtung des mehrheitlich landeseigenen Vivantes Konzerns mit zirka 160 Pflegeplätzen. Dort wurden vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen schwerwiegende Mängel festgestellt und in Prüfberichten dokumentiert: personelle Unterbesetzung; gravierende Defizite hinsichtlich Nahrungs- und Getränkeversorgung; kein angemessenes pflegerisches „Schmerzmanagement“; freiheitseinschränkende Maßnahmen ohne Zustimmung; kein regelmäßiges Duschen/Baden; keine fachgerechte Inkontinenzversorgung u. v. a. (Prüfbericht vom 10. Mai 2006). Seit 2003 hatte sich Frau Heinisch mit entsprechenden Beschwerden und Überlastungsanzeigen an die Leitung ihrer Pflegeeinrichtung gewandt. Nach langjährigen, fruchtlosen Auseinandersetzungen erstattete sie durch ihren Rechtsanwalt Strafanzeige wegen schweren Betruges. Vivantes erbringe nicht die vertraglich zugesicherten Pflegeleistungen und gefährde die Patienten. Daraufhin kündigte der Heimträger ihr Anfang 2005 fristlos.
Während Heinisch mit ihrer Kündigungsschutzklage in der ersten Instanz obsiegte, unterlag sie mit Urteil vom 28. März 2006 vor dem LAG Berlin. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) wurde nicht zugelassen. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision wurde zurückgewiesen, die eingelegte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Dagegen hat Heinisch Beschwerde beim EGMR erhoben.
Der Straßburger Gerichtshof hat das Recht des Arbeitsgebers Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH auf Loyalität seiner Angestellten und Schutz seines guten Rufs gegen das Grundrecht der Klägerin Heinisch auf Freiheit der Meinungsäußerung „abgewogen“. Ein zentrales Kriterium war dabei das öffentliche Interesse an der Information. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass die deutschen Gerichte keinen fairen „Ausgleich“ herbeigeführt hätten. Es liege eine Verletzung von Artikel 10 EMRK vor.
Recht auf freie Meinungsäußerung und „öffentliches Interesse“
Deutsche Gerichte haben die Meinungsäußerungsfreiheit von Whistleblowern bisher unzureichend geschützt. Das wird sich infolge des EGMR-Urteils ändern müssen.
Das Meinungsäußerungsrecht des Artikel 10 Absatz 1 Satz 1 EMRK schließt „die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe … zu empfangen und weiterzugeben“. Damit sind auch Tatsachenbehauptungen explizit abgedeckt. Allerdings unterliegen Meinungs- und Informationsverbreitungsfreiheit gemäß Artikel 10 Absatz 2 gewissen Einschränkungen. Diese müssen aber „gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein.
Im vorliegenden Fall sieht das Gericht eine gesetzlich vorgesehene Einschränkung der Meinungsfreiheit „zum Schutz des guten Rufes“ und der geschäftlichen Interessen des Arbeitgebers zwar als gegeben an. Es kommt aber zu dem Schluss, dass in einer demokratischen Gesellschaft das öffentliche Interesse an Informationen über Pflegemängel diese Arbeitgeberinteressen überwiege. Es hebt die zunehmende Bedeutung der Altenpflege sowie die Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit der betroffenen Personen hervor. An die Leistungen der mehrheitlich landeseigenen Pflegeeinrichtung Vivantes als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge legt es zudem besonders hohe Qualitätsmaßstäbe an.
In Deutschland – anders als etwa in den USA – wird dagegen das öffentliche Interesse an einer Information, das beim Whistleblowing ein wesentliches Motiv sein kann, bisher in der Regel nicht in den gerichtlichen Abwägungsprozess mit den jeweiligen Arbeitgeberinteressen einbezogen. Arbeitnehmer dürfen danach interne Informationen in der Regel nicht an eine außerbetriebliche Stelle oder an die Öffentlichkeit und eben auch nicht an die Strafverfolgungsbehörden geben. Tun sie es dennoch, riskieren sie Sanktionen und letztlich die Kündigung. Der Arbeits- und Datenschutzrechtler Spiros Simitis argumentierte in seiner Laudatio auf Brigitte Heinisch, als diese im Jahr 2007 den Whistleblower-Preis der IALANA und der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler erhielt: Es gehe nicht an, der öffentlichen Diskussion Informationen vorzuenthalten, „die nur aus der unmittelbaren Kenntnis des Gegenstands und Ablaufs der je spezifischen beruflichen Tätigkeit entstehen können“.
Beweislast bei Whistleblowing
Es liegt auf der Hand, dass ein Whistleblower die Informationen, die er oder sie weitergibt, sorgfältig auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüfen muss, soweit ihm/ihr das möglich ist. Gleichwohl können sich seine Angaben als falsch herausstellen. Mit dieser Begründung ist eine fristlose Kündigung aber nur dann zulässig, wenn der Arbeitnehmer die falschen Angaben wissentlich oder leichtfertig gemacht hat.
Der Straßburger Gerichtshof urteilte nun, dass die Beweislast im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen den Angezeigten von jener des Whistleblowers/Anzeigenden im arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzverfahren zu unterscheiden sei: „(E)in Mangel an Beweisen (kann) zwar zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens führen, dies (führt) aber nicht unbedingt zu der Schlussfolgerung, dass die der Strafanzeige zugrunde liegenden Behauptungen von vornherein einer sachlichen Grundlage entbehrten oder leichtfertig waren“. Er kommt in Würdigung der Gesamtsituation zu dem Schluss, „dass die Beschwerdeführerin in gutem Glauben handelte, als sie Strafanzeige gegen ihre Arbeitgeberin erstattete“.
Das Urteil des EGMR ist von Arbeitgeberseite und einem Teil der deutschen Presse heftig angegriffen worden. „Da hat man in Deutschland eine Rechtsfrage über Jahre hinweg ausgeklügelt beantwortet und etwaige Grundrechtseingriffe austariert – und dann kommen die Straßburger Richter, verwenden die Europäische Menschenrechtskonvention wie ein großes Bügeleisen und glätten die feinen deutschen Konturen aus.“ (Caroline Freisfeld in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.8.2011)
Geheimhaltung wird rechtfertigungsbedürftig
Das Urteil des EGMR stärkt die Rechte von Whistleblowern in Deutschland als Recht der freien Meinungsäußerung und Informationsverbreitung im öffentlichen Interesse.
Die Bundesregierung ist der medienwirksam vorgebrachten Aufforderung des empörten Arbeitgeberpräsidenten Hundt nicht gefolgt, gegen das von einer Kammer des Straßburger Gerichtshofes gefällte Urteil die Große Kammer anzurufen.
Geheimhaltung wird schwerer – für Arbeitgeber auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Sie wird rechtfertigungsbedürftig in dem Maße, wie Transparenz und Öffentlichkeit als Funktionsvoraussetzungen von Demokratie zunehmend ins Bewusstsein der Bürger dringen. Inzwischen haben die Grünen und die Linken Vorschläge für gesetzliche Whistleblowerschutzregelungen vorgelegt. Der Gesetzgeber und die Rechtsprechung werden das Urteil des EGMR, welches das Fehlen solcher Regelungen in Deutschland explizit anspricht, sowie die dort empfohlenen Grundsätze beherzigen müssen, wenn sich die Bundesrepublik nicht weitere Rüffel aus Straßburg einhandeln will.
Literatur
Deiseroth, Dieter, Kündigungsschutz bei Kritik an Missständen in der Altenpflege, in: Arbeit und Recht 2007, H. 6, sowie die Replik von Binkert und die Duplik von Deiseroth ebda.
Simitis, Spiros, Whistleblowing – Vom individuellen Risiko zur staatlichen und unternehmenspolitischen Instrumentalisierung, in: Deiseroth, Dieter/Falter, Annegret (Hrsg.), Whistleblower in Altenpflege und Infektionsforschung, Berlin 2007, S. 72 ff.
Presseinformation zum Urteil:
http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view.asp?action=open&documentId=888512&portal=hbkm&source=externalbydocnumber&table=F69A27FD8FB86142BF01C1166DEA398649
Zusammenfassende Darstellung und Würdigung des Urteils: www.whistleblower-net.de/content/view/242/1/lang,de/