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Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt auf dem Weg in die natio­na­le­go­is­ti­sche Sackgasse - Politische Demokratie in Gefahr

Grundrechte-Report 2013, Seite 167

Im Juni und September 2012 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gleich zweimal binnen kurzer Zeit über die Europapolitik der Bundesregierung geurteilt. Beide Male stand der permanente Rettungsschirm der EU (ESM: European Stability Mechanism) im Fokus der Verfassungsrichter.

In beiden Fällen hat das Gericht Korrekturen an den Gesetzen vorgenommen, die allerdings das zentrale Problem, den Abbau gesellschaftlicher Demokratie, nur streifen. Seit dem Lissabon-Urteil durchzieht ein roter Faden die Entscheidungen des Verfassungsgerichts. Es versucht, das strukturelle Demokratiedefizit der EU durch Stärkung der nationalen Organe zu kompensieren. Diese Strategie geht jedoch am Kern des Problems vorbei und forciert eine national orientierte Europapolitik, wie aus den jüngsten Urteilen hervor geht.

Urteil über Betei­li­gungs­rechte des Bundestags

Dreh- und Angelpunkt des Urteils vom 19. Juni 2012 (Az. 2 BvE 4/11)  waren die Informations- und Beteiligungsrechte des Bundestages im Rahmen der Verhandlung der Regierung über den ESM-Vertrag. Die Fraktion der Grünen hatte gerügt, dass sie nicht ausreichend und frühzeitig über die Verhandlungen zu ESM und Euro-Plus Pakt informiert wurde.

Artikel 23 Absatz 2 GG normiert explizit, dass die Bundesregierung den Bundestag in Angelegenheiten der EU umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten hat. Die Bundesregierung ist nach Ansicht der Grünen ihrer Pflicht zur Unterrichtung nicht nachgekommen. Dabei hatte sie argumentiert, dass der ESM-Vertrag ein völkerrechtlicher Vertrag sei, der „intergouvernemental“ zustande gekommen sei und damit keine Unionsangelegenheit im Sinne der Norm darstelle. Dieser Argumentation ist das BVerfG im konkreten Fall nicht gefolgt, und hat den Anwendungsbereich des Artikels 23 Absatz 2 GG auch auf völkerrechtliche Verträge, die in einem Näheverhältnis zum Recht der EU stehen, erweitert. Der Bundestag hätte also über die Verhandlungen zum ESM-Vertrag informiert werden müssen, um eine „frühzeitige und effektive Einflussnahme auf die Willensbildung der Bundesregierung“ zu gewährleisten.

Im Lissabonurteil vom 30.6.2009 hatte das BVerfG versucht, das Demokratiedefizit auf europäischer Ebene durch Kontroll- und Entscheidungsrechte des Bundestages auszugleichen. Neben unverbindlichen Stellungnahmen solle der Bundestag der Regierung in bestimmten Fällen Weisungen zu ihrem Abstimmungsverhalten im Rat erteilen können. Diese Weisungsbefugnis des Parlaments gegenüber der Regierung war eine folgerichtige und der Zeit angemessene Weiterentwicklung des Demokratieprinzips für die Gesetzgebung im Mehrebenensystem. Diesen positiven Ansatz greift das Gericht nicht wieder auf. Es bleibt dabei, dass die Regierung Stellungnahmen des Bundestages lediglich berücksichtigen muss – also nur Mitsprache statt Mitentscheidung. Die an sich begrüßenswerte Ausweitung der Informationsrechte bleibt ein Papiertiger, mit dem eine ausreichende demokratische Legitimation intergouvernementaler Vereinbarungen, die letztlich zumindest für die Regierungsfraktionen politische Fakten schaffen, nicht herzustellen ist.

Für die politische Demokratie in einem Mehrebenensystem wird die Entscheidung problematisch, weil der Ansatz des Lissabonurteils nicht nur nicht aufgegriffen wird, sondern in einem obiter dictum als verfehlt charakterisiert wird. Das Gericht behauptet nun, dass eine Programmierung der Exekutive über bindende Weisungen nicht vorgesehen sei. Dies ergäbe sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung, die das Gericht nur funktional interpretiert und nicht als Versuch der Dekonzentration von Macht. In der Außenpolitik habe die Bundesregierung „einen weit bemessenen Spielraum zu eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung“, der das Parlament konsequent außen vor lässt. Sofern der Kernbereich der Exekutive, der „einen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich einschließt“, betroffen sei, habe das Parlament nicht mal einen Anspruch auf Unterrichtung und schon gar nicht auf Entscheidungen.

Eine angemessene Legitimation politischer Entscheidungen im (europäischen) Mehrebenensystem ist so nicht mehr zu konstruieren, wenn sie je gerechtfertigt war und nicht der etatistischen Tradition deutscher Staatsrechtslehre entspringt. Schon Weisungsrechte des Bundestages wären nur ein Hilfskonstrukt gegenüber einer parlamentarischen Legitimation auf europäischer Ebene, weil die Abgeordneten des Bundestages nicht die Unionsbürger vertreten, sondern – aus europäischer Perspektive – immer nur regionale Interessen. Die Willensbildung muss perspektivisch auf der Ebene demokratisch werden, auf der die Entscheidungen fallen. Informationsrechte des Bundestages jedenfalls reichen nicht aus, um ausreichend Einfluss auf präjudiziell wirkende politische Entscheidungen der Exekutive im europäischen Kontext zu gewinnen. „Schon mal ganz nett, aber unzureichend“, ließe sich das Parlamentsrecht zusammenfassen.

ESM und Fiskalpakt- Urteil – Haftungs­be­schrän­kung für den Rettungs­schirm

In der Eilentscheidung zum ESM und Fiskalpakt vom 12. September 2012 ging es um zwei sehr unterschiedliche Verträge, mit denen die europäischen Regierungen glaubten, die Folgen der Finanzkrise in der EU begegnen zu können, die sich darin zuspitzten, dass die Euro-Staaten des Südens Refinanzierungsschwierigkeiten hatten. Mit dem ESM-Vertrag wurde ein europäischer Rettungsschirm geschaffen, der direkt auf die Probleme der Refinanzierung oder Kreditaufnahme auf den Finanzmärkten antworteten sollte. Wirkungsvoller als dieser Fonds, das lässt sich Ende 2012 schon erkennen, war ein Satz des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Draghi, der kurz vor Verkündung des Urteils erklärte, die EZB werde unbegrenzt Staatsanleihen aufkaufen. Der Fiskalpakt sieht vor, dass alle Vertragsstaaten eine Schuldenbremse in ihre Verfassung aufnehmen. Auch hier ist deren Folge abzusehen: entweder sie bleibt politisches Geklingel und wird ausgetrickst oder sie vergrößert die Probleme der Staaten, angemessen auf wirtschaftliche Krisen zu reagieren, verschärft also die Krisen. Das hat das europäische Spardiktat für die Länder des Südens im Realexperiment deutlich vor Augen geführt.

Die Kläger hatten gerügt, dass mit der unkontrollierten Schuldverpflichtung des ESM die Budgethoheit des Bundestages als wesentliches Element des Demokratieprinzips ausgehebelt wird. Mit dem Fiskalpakt kann sie direkt ausgehebelt werden, weil dieser für Defizitstaaten vorsieht, dass diese Haushaltsprogramme von Kommission und Rat genehmigen lassen sollen. Im Wesentlichen hält das Gericht die Verträge für verfassungskonform und mit dem Demokratieprinzip für vereinbar.

Mit Blick auf den ESM hatte das Gericht insbesondere Zweifel an der Begrenzung der Höhe der deutschen Einlagen. Da das Einlagevolumen des ESM vertraglich festgeschrieben ist, befürchtete es einen Haftungsautomatismus. Der Vertrag lasse sich unterschiedlich auslegen, aber er lasse auch verfassungskonforme Auslegung zu, die völkervertraglich abgesichert werden müsse. Es forderte „faktisch“ eine Beschränkung der Haftung auf die festgeschriebene Summe von ca. 190 Mrd. Euro, solange der Bundestag nicht ausdrücklich beschließt, die Haftungssumme zu erhöhen.

Suspen­die­rung von Stimm­rechten „nicht unpro­ble­ma­tisch“

Neben der Haftungsbeschränkung erachtet das Gericht die Suspendierung von Stimmrechten im ESM-Vertrag als „nicht unproblematisch.“ Mitglieder des ESM schicken jeweils je nach Finanzkraft Vertreter in den Gouverneursrat des ESM, wo die relevanten Entscheidungen fallen. Ist nun ein Land nicht in der Lage, seinen Zahlungsverpflichtungen für den Fonds nachzukommen, wird sein Stimmrecht solange ausgesetzt. Das hieße, dass in diesem Fall auch gegen Deutschland entschieden werden kann, was sonst wegen einer Vetoposition nicht geht. Dazu meinte das BVerfG lapidar: Der Bundestag müsse sicherstellen, dass er seine Verpflichtungen erfüllen kann. Dann wäre eine Aussetzung der Stimmrechte „praktisch ausgeschlossen“ und somit auch die Budgethoheit gewahrt. Das ist fast gut genug fürs Kabarett.

Demokratie wird in der Entscheidung wieder nur national gedacht. „Wir Deutschen“ müssen souverän über „unser“ Geld entscheiden können – dann ist alles in Ordnung. Völlig unproblematisiert blieb das sogenannte „Memorandum of Understanding“, das Staaten unterschreiben müssen, die Kredite vom ESM bekommen wollen. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die Vereinbarung von Spar- und Austeritätsprogrammen, wie sie im Falle der Südländer ausreichend demonstriert worden sind. Inzwischen hat sich herum gesprochen, dass der Krise auf diese Weise nicht zu begegnen ist. Die Folgen für die Demokratie bleiben aber noch außerhalb des Blickfeldes. Letztlich diktieren die gerade zufällig wohlhabenden Staaten den anderen, die zentralen politischen Entscheidungen, wo Leistungen gekürzt, was privatisiert und wo Löhne zu senken sind. Demokratische Entscheidungen sind in diesen Staaten zur Farce geworden, die ihren Höhepunkt in der Absetzung gewählter Ministerpräsidenten (Griechenland, Italien) ebenso wie in der Anordnung einer Neuwahl fand, so dass eine der EU genehme Regierung gebildet werden konnte (Griechenland). Demokratie kann unter einer einheitlichen Währung nicht mehr national gedacht werden. Das kann allerdings nicht ins Blickfeld des BVerfG rücken; vorzuwerfen ist diesen, dass es schon an einer Transferleistung mangelt: auch die BRD könnte ja in die missliche Situation geraten ein Memorandum of Understanding unterzeichnen zu müssen. Da hilft die obige Weisheit: die Regierung muss dafür sorgen, dass genügend Geld da ist.

Fiskalpakt durch­ge­wunken

Wenig erstaunlich ist es da, in welcher Form sich das BVerfG mit dem Fiskalpakt beschäftigt hat. In wenigen Seiten winkt es die Regelungen durch. Zwar erkennt das Gericht an, dass der Fiskalpakt die demokratischen Spielräume beschränkt, jedoch „dient sie doch zugleich deren Sicherung für die Zukunft.“ Hier wird die neoliberale Grundhaltung deutlich, frei nach dem Motto: erst müssen Schulden abgebaut werden, damit Handlungsspielräume für Politik bestehen. Die umgekehrte Argumentation, dass die Demokratie zu einer inhaltsleeren Hülle verkommt, wenn es nur noch darum geht, wo der Haushalt gekürzt wird, scheint nicht auf fruchtbaren Boden zu stoßen.

Das Gericht lässt vor allem Artikel 5 des Fiskalpaktes unbeanstandet, wonach Länder mit hohem Defizit ihre Wirtschafts- und Haushaltsprogramme der Kommission und dem Rat zur „Genehmigung vorlegen“ müssen. Die Kläger sahen dadurch die Haushaltshoheit des Bundestages verletzt. Das BVerfG bemerkt dazu nur gleichsam nebenbei in einem Satz: „Ein unmittelbarer ‚Durchgriff’ der Organe auf die nationale Haushaltsgesetzgebung ist in Artikel 5 SKSV nicht vorgesehen.“ Die Aussage stimmt insofern, als „nur“ Haushaltsprogramme genehmigt werden müssen. Aber diese Programme dürften gerade die Funktion haben, den Haushalt entsprechend zu strukturieren. Das BVerfG argumentiert nicht, sondern behauptet apodiktisch und verharrt dabei in einem überzeichneten Formalismus, d.h. es verkennt die faktische Wirkung der Genehmigung. Man kann wohl nicht davon ausgehen, dass das von der EU genehmigte Haushaltsprogramm für den vom Bundestag zu verabschiedenden Etat irrelevant ist.

Schutz der demokra­ti­schen Fassade

Die Bundesregierung hat inzwischen deutlich erklärt, wohin die Reise gehen soll: nämlich zu einem europäischen Finanzminister mit einer Vetoposition gegenüber den Haushaltsentscheidungen der nationalen Parlamente. Schäuble hat dafür in 2012 noch keine Unterstützer gewinnen können, aber die europäische Politik funktioniert bekanntlich nach der Salamitaktik – immer ein Scheibchen mehr. Die Haushaltskontrolle durch einen Finanzminister gibt es nicht nach dem GG und auch nicht nach den Landesverfassungen. Mit einer Vetoposition der EU gegenüber nationalen Haushalten begibt man sich auf den Weg in eine neue Form der autoritären Aushöhlung demokratischer Rechte; befördert wird ein Regime mit einer autoritären Wirtschaftsregierung. Eines der wesentlichen Parlamentsrechte, das Budgetrecht, läuft leer, bleibt nur formale Hülle einer europäischen Finanzautokratie. Der Fiskalpakt ist der erste Schritt in diese Richtung. Das ist dem BVerfG verborgen geblieben. Ausgeglichen wird dieser Demokratieabbau sicher nicht durch die Stärkung parlamentarischer Informationsrechte. Das BVerfG hat mit den Urteilen nur die demokratische Fassade geschützt.

Literatur

BVerfG vom 12.9.2012 (Az. 2 BvR 1390/12)

BVerfG vom 30.6.2009 (Az. 2 BvE 2/08)

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