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Der markt­kon­forme Streik - Folgen der EuGH-Recht­spre­chung auf das Streikrecht

Grundrechte-Report 2013, Seite 121

Das Grundgesetz enthält keine Aussage zum Streik. Artikel 9 Absatz 3 GG garantiert lediglich das Recht für jedermann, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Die Rechtsprechung hat aus diesem sehr allgemein gehaltenen Recht in der Folgezeit ein ausgeklügeltes Arbeitskampfrecht entwickelt, das Streiks unter vielen Auflagen zulässt.

In einer Marktwirtschaft bedeutet ein Streik stets einen Eingriff in die Freiheit der Unternehmer, ihr Eigentum ungehindert zu nutzen. Die Rechtsprechung erlaubt grundsätzlich einen solchen Eingriff durch Streiks, soweit sie verhältnismäßig sind. Seitdem gibt es ein ständiges Tauziehen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden darüber, wo die Grenzen liegen.

In dieses Tauziehen wurden 2012 Vorschläge von Akteuren mit unterschiedlichem Gewicht eingebracht, die im Ergebnis auf eine marktkonforme Domestizierung von Streiks hinauslaufen. Der eine Vorschlag kommt von der Europäischen Kommission, der andere von deutschen Professoren im Auftrag einer Stiftung.

Streiks im EU Binnenmarkt – markt­scho­nend

Die Europäische Kommission präsentierte im Frühjahr 2012 einen Regelungsentwurf, der unter dem Namen des italienischen Interims-Ministerpräsidenten und früheren EU-Kommissars Monti firmiert (Monti-II-Verordnung). Sie reagierte damit auf die Erregung, die zwei Urteile des EuGH von 2007 zum Streikrecht vor allem unter den Gewerkschaften verursacht hatten, die Fälle Laval und Viking (siehe Kempen in Grundrechte-Report 2009, S. 131 ff.).

Bei Laval handelte es sich um eine lettische Baufirma, die mit ihren Bauarbeitern in Schweden eine Schule errichten sollte. Sie weigerte sich, mit der schwedischen Baugewerkschaft einen Tarifvertrag abzuschließen, da sie bereits einen Tarifvertrag mit einer lettischen Gewerkschaft geschlossen hatte, zu deutlich niedrigeren Bedingungen. Boykottmaßnahmen schwedischer Gewerkschaften zwangen Laval zur Aufgabe der Baustelle. Im zweiten Fall betrieb das finnische Unternehmen Viking eine Fähre zwischen Helsinki und Tallinn unter finnischer Flagge mit einer Besatzung unter einem internationalen Tarifvertrag der Internationalen Transportarbeitergewerkschaft (ITF). Viking wollte die Fähre künftig unter estnischer Flagge mit neuer Besatzung ohne Tarifvertrag betreiben. ITF rief daraufhin zu Boykottmaßnahmen auf.

In beiden Fällen sah der EuGH einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit der Unternehmer. Ein solcher Eingriff müsse sich rechtfertigen lassen und stehen unter dem Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit.

Diese beiden Urteile hatten zu einem Aufschrei der Gewerkschaften geführt. Im internationalen Recht seit langem garantiert, ist das Streikrecht seit Inkrafttreten der Grundrechtecharta 2009 auch im EU-Rahmen als Grundrecht verankert. Um die Wogen zu glätten, präsentierte nun die Kommission einen Regelungsvorschlag, eine Art Auslegungshilfe bei künftigen Streiks im Binnenmarkt. Danach sollen die Unternehmer bei Ausübung ihrer Dienstleistungsfreiheit das Streikrecht respektieren, die Gewerkschaften bei Streiks aber auch die Dienstleistungsfreiheit der Unternehmer. Begründung: Dienstleistungsfreiheit und Streikrecht seien gleichberechtigt, ohne Vorrang des einen noch des andern. Bei der Ausübung ihrer Rechte sollen beide Seiten den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten.

Nach internationalem Recht gibt es jedoch keine Verpflichtung für Gewerkschaften, bei Durchführung von Streiks auf die ökonomischen Interessen der Unternehmer zu achten und ihre Aktivitäten am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auszurichten. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) z.B. hat nachdrücklich auf die Gefahren hingewiesen, die bei einem Verhältnismäßigkeitstest bestehen: die Androhung von Schadensersatzklagen, die eine Gewerkschaft ruinieren könnten. Deshalb gesteht das internationale Recht den Gewerkschaften einen Beurteilungsspielraum zu, welche Streikmaßnahmen sie für geeignet halten. Dieser Beurteilungsspielraum soll lediglich einer eng begrenzten gerichtlichen Überprüfung zugänglich sein (Missbrauch, illegitime Interessen, Sicherstellung essentieller Versorgung).

Der Monti-II-Entwurf lässt einen solchen Beurteilungsspielraum der Gewerkschaften bei Streiks jedoch nur beschränkt zu und unterwirft ihn völliger gerichtlicher Kontrolle. Das birgt die Gefahr, dass am Ende nur Streiks akzeptabel sind, die „schonend“ die ökonomischen Freiheiten der Unternehmer begrenzen. Streiks haben marktkonform zu sein und dürfen die Marktkräfte bei ihrer Entfaltung im Binnenmarkt möglichst wenig beeinträchtigen. Ein „soziales Europa“ wird dadurch nicht befördert! Das sahen im Sommer 2012 auch genügend Mitgliedstaaten und stoppten den Vorschlag – bis auf Weiteres.

Streiks im Bereich der Daseins­vor­sorge – stran­gu­liert

Ein marktkonformes Streikmodell liegt auch dem deutschen Professorenvorschlag zur Regelung von „Arbeitskämpfen in der Daseinsvorsorge“ zugrunde, der im März 2012 im Auftrag der Carl Friedrich von Weizsäcker Stiftung der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist. Er ist vor dem Hintergrund zunehmender Streiks sog. Spartengewerkschaften zu sehen, sei es der Lokführer oder Vorfeld-Arbeiter auf Flughäfen. Damit wird ein verbreitetes Unbehagen bedient, wenn kleine Gewerkschaften ihre strategisch wichtige Position ausnutzen und durch Streiks erhebliche Beeinträchtigungen etwa bei der Personenbeförderung verursachen. Der Vorschlag will offensichtlich diesem „Missstand“ einen Riegel vorschieben und beruht auf der Annahme, dass andernfalls die Allgemeinheit bei wichtigen Bereichen der sog. Daseinsvorsorge in Geiselhaft genommen werden könnte. Er ist aber in Wahrheit ein Versuch, im Bereich der Daseinsvorsorge Streiks künftig erheblich zu erschweren oder gar unmöglich zu machen.

Der Vorschlag geht von einem extrem weiten Begriff der Daseinsvorsorge aus und fasst darunter nicht nur die üblichen Bereiche wie medizinische Versorgung (Krankenhäuser), Verkehr, Energie, Wasser oder Müllabfuhr, sondern auch das Bankwesen. Der Bankensektor würde damit in eine „geschützte“ Zone verwandelt – und das trotz der Erfahrungen aus der Finanzkrise, dass Banken als ihr Hauptziel gerade nicht mehr die Versorgung der Realwirtschaft mit Krediten ansehen, sondern die Steigerung ihrer Gewinne durch immer undurchsichtigere Finanzgeschäfte. Den Bankbeschäftigten würde es dadurch künftig deutlich schwerer fallen, Forderungen nach einer Abschöpfung dieser Gewinne über Lohnerhöhungen durch Streiks Nachdruck zu verleihen.

Ein Streik im Bereich der Daseinsvorsorge soll vier Tage im Voraus angekündigt werden. Diese Ankündigungspflicht ist von besonderer Brisanz, weil sie der Gegenseite die Gelegenheit gibt, rechtzeitig ein Schlichtungsverfahren einzuleiten, während dessen Laufzeit Streiks verboten sein sollen. Die Ankündigung eines geplanten Streiks kann also zur sofortigen Gegenreaktion der Arbeitgeber führen: bereits der Antrag auf Einleitung eines Schlichtungsverfahrens führt zu einem Arbeitskampfverbot und könnte jeden geplanten Streik im Keim ersticken.

Ein Streik soll schließlich überhaupt nur dann zulässig sein, wenn der angestrebte Tarifvertrag mindestens 15 % der Arbeitsverhältnisse erfasst. Das bedeutet konkret, dass kleine Branchengewerkschaften praktisch keine Chancen mehr haben, ihren Tarifforderungen durch Streiks Nachdruck zu verleihen. Damit würde aber durch die Hintertür wieder die sog. Tarifeinheit im Betrieb eingeführt, also das von Arbeitgebern vehement vertretene Prinzip, dass in einem Unternehmen nur ein Tarifvertrag gelten soll. Das Bundearbeitsgericht hatte diesem (von ihm ursprünglich selbst erfundenen) Prinzip im Jahr 2010 eine Absage erteilt; seitdem pochen die Arbeitgeber auf eine gesetzliche Lösung (vgl. Däubler, Grundrechte-Report 2012, S.109 ff.).
Der Vorschlag würde den gesamten Bereich der Daseinsvorsorge in einen Friedhof verwandeln – eine lebendige, auch kontroverse Debatte über den Umfang von Tarifforderungen und die adäquate Form ihrer Durchsetzung würde nicht mehr von den Betroffenen geführt (in Auseinandersetzung mit einer kritischen, weil betroffenen Öffentlichkeit), sondern von oben oktroyiert. Dies kommt einer Kampfansage an das bisherige System der Selbstregulierung von Arbeitsbedingungen durch die Tarifvertragsparteien gleich, deren Nutznießer in erster Linie die Arbeitgeber wären. Sie bräuchten künftig den Druck durch Streiks nicht mehr zu befürchten und könnten Tarifforderungen, die sie für überhöht halten, einfach aussitzen.

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