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Insel außer Kontrolle - Karlsruher Rüffel für die Siche­rungs­ver­wah­rung

Grundrechte-Report 2013, Seite 74

„Wegschließen, und zwar für immer!“ – Was Gerhard Schröder einst als Reaktion auf schwerste Verbrechen propagierte, wurde im Verlauf des letzten Jahrzehnts allmählich zur Realität. Die Rede ist von der stetigen Ausweitung der Sicherungsverwahrung, die nicht einmal vor Jugendlichen Halt machte. Ihr jähes Ende fand die Renaissance jener Maßregel jedoch spätestens am 4. Mai 2011 (siehe Pollähne, Grundrechte-Report 2012, S. 194 ff.). An diesem Tag verwarf das Bundesverfassungsgericht seine bisherige Rechtsprechung und urteilte, dass alle Vorschriften über Anordnung sowie Dauer der Sicherungsverwahrung auf Grund ungenügender Einhaltung des Abstandsgebots nicht mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 i. V. m. Artikel 104 Absatz 1 GG vereinbar und nur noch für eine Übergangszeit bis 31. Mai 2013 anwendbar seien. In den sogenannten „Altfällen“ (d. h. bei Sicherungsverwahrten, deren Unterbringung über die bis 1998 geltende Höchstfrist von zehn Jahren rückwirkend verlängert wurde) sowie in Fällen der nachträglichen Sicherungsverwahrung liege zudem ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot vor. Eine Fortdauer der Unterbringung komme in diesen Fällen nur noch nach strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung und bei hochgradigen Gefahren schwerster Straftaten in Betracht. Diese „Karlsruher Kehrtwende“ (vgl. Pollähne, Grundrechte-Report 2010, S. 232 ff.) kam freilich keineswegs überraschend, sondern muss vor dem Hintergrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 17. Dezember 2009 gesehen werden. Darin monierten die Straßburger Richter die Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung in Deutschland und stellten im Hinblick auf die bereits erwähnten „Altfälle“ Verstöße gegen Artikel 5 Absatz 1 und 7 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention fest.

Freiheit oder Sicherheit?

Die genannten höchstrichterlichen Entscheidungen erhitzen seither die Gemüter. Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzungen ist die Frage, wie mit den zu entlassenden Sicherungsverwahrten umzugehen ist. Die Diskussion, die sich im Spannungsfeld zwischen der Freiheit des Einzelnen und der Sicherheit der Allgemeinheit bewegt, trägt mitunter geradezu hysterische Züge. Angeheizt durch die Berichterstattung der (Boulevard-)Medien mit Schlagzeilen wie „Der Tod ist jetzt auf freiem Fuß – nach 30 Jahren Knast“ kommt es bundesweit immer wieder zu Demonstrationen aufgebrachter Bürger.

„Wir kommen wieder bis ihr geht!“

Ein solcher Sachverhalt lag auch der Entscheidung zu Grunde, die das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt am 25. April 2012 (Az. 3 M 100/12, NJW 2012, S. 2535) getroffen hat. Konkret ging es um das seitens der zuständigen Versammlungsbehörde ausgesprochene Verbot, im unmittelbaren Wahrnehmungsbereich der Wohnung zweier ehemaliger Sicherungsverwahrter, die in Folge des EGMR-Urteils von 2009 entlassen worden waren, zu demonstrieren. Gegen diese Anordnung wehrte sich die Antragstellerin, die im Zeitraum vom 29. Februar bis 27. April 2012 wiederholt wöchentlich entsprechende Versammlungen in dem kleinen Ort Insel durchführen wollte. Das Oberverwaltungsgericht bestätigte jedoch die behördliche Verfügung und wies darauf hin, dass die Durchführung der Demonstration unmittelbar vor dem Wohnhaus dazu führe, dass den Entlassenen die Ausübung ihres Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit faktisch unmöglich würde. Ein freies Betreten oder Verlassen des Hauses wäre in diesem Fall aufgrund des Belagerungszustandes ebenso wenig möglich wie der ungestörte Aufenthalt in der Wohnung. Darüber hinaus wies das Gericht darauf hin, dass die seit September 2011 – mit gewissen zeitlichen Unterbrechungen – wöchentlich vor dem Wohnhaus der ehemaligen Strafgefangenen durchgeführten Versammlungen letztlich den Zweck hätten, durch den Einsatz von akustischen Hilfsmitteln wie Trillerpfeifen und Trompeten sowie dem Skandieren von Parolen („Wir kommen wieder bis ihr geht!“) einen Vertreibungsdruck zu erzeugen, der die ehemaligen Häftlinge zur Aufgabe des von ihnen gewählten Wohnsitzes zwingen solle. Derartige, rein auf Zermürbung angelegte Aktionen stellten eine Verletzung der Menschenwürde dar, so dass es die Schutzpflicht des Staates gebiete, dem entgegenzuwirken (Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 GG).

Grundrechte gelten für alle!

Die begrüßenswerte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes Sachsen-Anhalt führt vor Augen, dass in unserer Gesellschaft niemand rechtlos ist – auch diejenigen nicht, die schwere Verbrechen begangen haben. Obwohl es sich dabei eigentlich um eine Binsenweisheit handelt, sieht die Realität oft ganz anders aus. Ein Blick auf das politische Handeln seit dem richtungsweisenden Urteil des EGMR macht dies deutlich: Hier ging es weniger um die Rechte der betroffenen Gefangenen, sondern vielmehr um die Frage, wie man diese auch weiterhin möglichst intensiver staatlicher Kontrolle unterwerfen kann. An Antworten hierauf hat es nicht gemangelt: So wurde das Therapieunterbringungsgesetz erlassen, um psychisch gestörte Straftäter nach wie vor geschlossen unterbringen zu können, die elektronische Aufenthaltsüberwachung als Maßnahme im Rahmen der Führungsaufsicht eingeführt oder das Mittel der dauerhaften Observation zum Einsatz gebracht (unter hohem Kostenaufwand und auf langfristig gesehen fragwürdiger Rechtsgrundlage, s. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8.11.2012, Az. 1 BvR 22/12).

Ambivalenz des politischen Handelns

Es soll hier gewiss nicht in Abrede gestellt werden, dass die Sicherheit der Bevölkerung ein wichtiges Anliegen ist, um das sich Politik kümmern muss. Allerdings dürfen dabei die Rechte der Entlassenen nicht vernachlässigt werden. Es ist daher mehr als befremdlich, wenn sich  – wie auch im vorliegenden Fall – Bürgermeister an vorderster Front für die Ausgrenzung ehemaliger Sicherungsverwahrter einsetzen und dabei offenbar auch Neonazis herzlich willkommen heißen (vgl. „Spiegel Online“ vom 8.6.2012). Richtig war es hingegen, dass sich Abgeordnete aller im Landtag von Sachsen-Anhalt vertretenen Fraktionen Mitte 2012 in einer bis dahin landesweit einmaligen Aktion gemeinsam auf den Weg gemacht hatten, um sich vor Ort für die Rechte der beiden entlassenen Häftlinge einzusetzen. Leider ist derart tatkräftiges Engagement der politisch Verantwortlichen eher die Ausnahme. Die Regel sind allenfalls halbherzige Bekenntnisse zur Resozialisierung oder gar das komplette Wegducken vor der Übernahme von Verantwortung – wie etwa im Jahr 2010, als sich der damalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein nach dem Protestbrief eines Bürgermeisters weigerte, einen aus der JVA Freiburg entlassenen Sicherungsverwahrten in einer Therapieeinrichtung seines Landes aufzunehmen und damit dessen wochenlange Odyssee durch mehrere Bundesländer (wenigstens vorerst) zu beenden (vgl. Hamburger Abendblatt vom 11.9.2010).

Fakten statt Hysterie

Noch kritischer fällt die Bewertung der Hetzjagd in Insel übrigens aus, wenn man einen Blick auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse wirft, die zeigen, dass das von entlassenen Sicherungsverwahrten ausgehende Gefährdungspotenzial erheblich überschätzt wird. So werden jedes Jahr in Deutschland ohne großen öffentlichen Aufruhr tausende Gefangene aus Haftanstalten entlassen, die weitaus rückfallgefährdeter sind als die meisten von denen, die aufgrund des EGMR-Urteils von 2009 auf freien Fuß gesetzt wurden. Bei den letztgenannten Personen handelt es sich nämlich – wie auch im Fall der beiden entlassenen Männer in Insel – nicht selten um Menschen, die nach jahrzehntelangem Freiheitsentzug alt oder krank sind. Bezeichnenderweise haben viele der Anwohner, die sich an den Vertreibungsaktionen in Insel nicht beteiligt haben, deshalb weit mehr Angst vor ihren Nachbarn und deren Vergeltungsmaßnahmen als vor den freigelassenen Häftlingen. Das sollte zu denken geben!

Literatur

Alex, Michael: Die Instrumentalisierung von entlassenen Sicherungsverwahrten für Ausgrenzungsstrategien, in: Neue Kriminalpolitik (NK) 2012, S. 42 ff.

Bachmann, Mario/Goeck, Ferdinand: Das Urteil des EGMR zur Sicherungsverwahrung und seine Folgen, in: Neue Justiz (NJ) 2010, S. 457 ff.

Greve, Holger/Lucius, Julian von: Überwachung entlassener gefährlicher Straftäter durch die Polizei, in: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2012, S. 97 ff.

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