Themen / Lebensweisen / Pluralismus / Tagungsprotokoll: Wege zu einer neuen Psychiatrie

Bedingungen der ambulanten psycho­so­zi­alen Behandlung und Betreuung

08. Dezember 1980

Ursula Plog

aus: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Tagung. HU-Schriften 9, München 1980, Seite 16 – 17

Bei der Diskussion der Bedingungen ambulanter psychosozialer Versorgung standen in letzter Zeit immer die institutionellen Aspekte im Vordergrund, so dass alle anderen Probleme eher verschwommen gesehen werden. Es steht außer Zweifel, dass das gegenwärtige psychiatrische Versorgungssystem dem Grundsatz der Menschenwürde nicht gerecht wird, und dies bezieht sich nicht nur auf die Landeskrankenhäuser, sondern auch auf die niedergelassenen Nervenärzte. Fest steht auch, dass dieses Versorgungssystem medizinisch unzureichend ist. Es ist leicht, einen Konsens darüber herbeizuführen, dass die Landeskrankenhäuser aufgelöst werden müssen. Die Frage aber, was danach kommt, löst Angst aus. Es reicht nicht aus, Übergangsheime, Übergangswohngemeinschaften u.s.w. zu schaffen, das Wesentliche ist, diejenigen zu wollen, die da zur Zeit ausgegliedert, abgeschoben oder langzeittherapiert werden. Wenn wir Schwachsinn, Unvernunft, Irrsinn und Leid hospitalisieren und institutionalisieren, verleugnen wir einen Teil von uns. Psychisch Kranke gehören zu uns, sind Menschen wie wir, die ein Recht darauf haben, genau dort zu sein, wo auch wir sind. Dies ist ein Grund für die Forderung nach gemeindenäher, ambulanter Versorgung die mehr Willen zur Durchdringung erfordert, geographisch, sozial und psychisch. Nach dem Gleichheitsgrundsatz sind Sonderkindergärten, Sonderschulen und Sondereinrichtungen jeglicher Art untragbar. Um Behinderte und psychisch Kranke in ihren Lebens-Zusammenhängen belassen zu können, ist zunächst eine Reduzierung des all-gemeinen Stress nötig sowie ein größeres Maß an Toleranz gegenüber diesem Personenkreis. Es gilt im wesentlichen, die Prinzipien „Solidarität, Achtung und Gleichheit“ zu realisieren, wobei mit Gleichheit „Gleichwertigkeit“ und Gleichwürdigkeit“ gemeint sind, gewiss auch soziale Gleichheit, nicht aber psychische oder biologische Gleichheit, denn die Vielfalt menschlicher Existenz muss erhalten, gepflegt und geachtet werden. Dem psychisch Kranken oder Behinderten müssen Partizipationsmöglichkeiten geschaffen werden; der Begriff ist nicht ganz identisch mit Teilhabe, Teilnahme oder Mitbestimmung, umfasst aber alle drei und geht noch ein wenig darüber hinaus.

Zu den institutionellen Bedingungen psychosozialer ambulanter Betreuung zählt neben der Gemeindenähe, die berufsübergreifende Hilfe. Einzelhilfe führt oft zur Abhängigkeit und zur Vernachlässigung des sozialen Anteils an Leiden. Jeder Professionelle hat seine Kategorien, mit Genen er das Leid verwaltet. Der Mensch wird zerteilt. Die unterschiedlichen Facetten müssen jedoch zu einem Ganzen zusammengefügt werden.
Unter Beteiligung der Betroffenen und Betroffene sind alle in einer Gemeinde Lebenden, nicht nur die Arbeitenden und nicht nur die Kranken muss die Finanzierung und die Planung, der Aufbau und die Kontrolle psychosozialer Hilfe gewährleistet sein. Die Finanzierung muss tarifrechtlich geregelt sein, unterschiedliche Kostenträger müssen ihren Aufgaben entsprechend beteiligt werden. Außerdem muss die Hilfe durch psychosoziale Ausschüsse verwaltet werden. Es darf nicht nach dem Einzelleistungsprinzip abgerechnet werden, weil ein Einzelleistungsprinzip bereits beinhaltet, dass jemand als Individuum abweichend diagnostiziert wird. Auf diese Weise wird sowohl ein übergreifender Einsatz in Gruppen verhindert als auch ein präventiver Einsatz. Berufsübergreifende und institutionsübergreifende Fortbildung ist unerlässlich. Da der wesentliche Wirkfaktor psychosozialen Handelns der Mensch ist, auch wenn er Tabletten gibt, ist es notwendig, ihn zu befähigen, in Nähe und Distanz sein therapeutisches Handeln mit Nachdenken durchzuführen. Die so organisierte Hilfe dient dem Ziel der Hilfe zur Selbsthilfe, das hat viel zu tun mit Selbstbestimmung und wenig mit Selbstverwirklichung, Während Selbsthilfe auch den Umgang mit dem Leid beinhaltet, leugnet Selbstverwirklichung die Tatsache des Bestandes von Leid und verspricht Heil.
Die professionellen Hilfeleister dürfen nicht die Lastträger bleiben, sondern auch andere müssen zu dieser Hilfe zur Selbsthilfe befähigt werden. Prävention und ambulante Hilfe können nicht das Auftreten von Störungen vermeiden, sondern in der Gemeinde müssen andere Lösungen und Duldungen erarbeitet werden als das Ausgrenzen und die Akzeptierung des bisherigen Systems Psychiatrie.

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