Themen / Lebensweisen / Pluralismus / Tagungsprotokoll: Wege zu einer neuen Psychiatrie

Geschicht­liche Hinter­gründe des heutigen Psych­ia­trie-­Ver­ständ­nisses

04. Dezember 1980

Klaus Dörner

aus: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Tagung. HU-Schriften 9, München 1980, Seiten 10-11

Da in der Kürze der Zeit kein historischer Überblick gegeben werden konnte, setzte Dörner einige Schlaglichter, die als Anregung zum weiteren Nachdenken geeignet sind.

1. Zur Entstehung der Psychiatrie: Psychiatrie als Institutionsgefüge und Wissenschaft steht im engen Zusammenhang mit der Industrialisierung. Das Verhalten des Menschen muß in stärkerem Maße berechenbar und kontrollierbar sein, weil die zwischenmenschlichen Verhältnisse komplizierter, weil das gesamte Gefüge störanfälliger wird. Erwünscht ist ein Verhalten, das keine Überraschungen in sich birgt, damit das Funktionieren des Gesamtsystems garantiert ist. In Gesellschaften, die sich industrialisieren, wird einerseits ein soziales Hilfssystem aufgebaut, auf der anderen Seite ein Kontrollsystem, und folglich ist das soziale Hilfssystem vom Kontrollsystem kaum mehr zu unterscheiden. In dieser Grauzone zwischen Hilfe und Kontrolle ist Psychiatrie bis auf den heutigen Tag angesiedelt.

2. Die Medizinierung der Psychiatrie: Im Verlauf des 19. Jh. ging man von einem pädagogischen Konzept in der Psychiatrie zu einem medizinischen über, nachdem es der Pädagogik nicht gelang, den psychisch Kranken „zur Räson zu bringen“. Es begann mit einer diagnostischen Epoche: Man beobachtete, registrierte, klassifizierte, schaffte also ein diagnostisches Kategoriensystem, ohne jedoch zu wissen, was man psychiatrisch tun könne. Die therapeutische Epoche, in der wir uns auch heute noch befinden, begann mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds, hat inzwischen zahlreiche psychotherapeutische Konzepte hervorgebracht, sowie die Erfindung von Psychopharmaka bis hin zu den Schocktherapien. Therapie bedeutet in der Psychiatrie in jedem Fall ein tiefes Eingreifen in die menschliche Persönlichkeit, über dessen Berechtigung man nachdenken sollte.

3. Psychiatrie im 3. Reich: Im 3. Reich wurden die Möglichkeiten des Eingreifens in den Menschen konsequent zu Ende gedacht. Die Allmachtsvorstellungen, die der Psychiatrie eigen sind, man könne den Menschen verändern, ihm helfen, geriet an ihre Grenzen und machte den andersartigen Menschen, den Menschen als leidendes Wesen zum Feindbild. In einer Gesellschaft, die den gesunden, starken, glücklichen Menschen über alles stellte, gab es keinen Ort für den leidenden, auch unrettbar, unheilbar leidenden Menschen. Er mußte weggedacht, weggeschlossen, sterilisiert und schließlich ermordet werden. Das organisierte Töten wurde nicht etwa von der SS, sondern von Psychiatern begonnen. Dabei spielte durchaus auch Mitleid eine Rolle, Mitleid mit den erbarmungswürdigen Kranken, denen man ein schlimmes Schicksal ersparen wollte, so daß man sich recht gut dabei fühlte, zumal sich Mord mit dem Begriff Euthanasie umschreiben ließ. Diese Verwandtschaft von sentimentalem Mitleid auf der einen Seite und vernichtender Kontrolle auf der anderen hat auch in der gegenwärtigen Psychiatrie noch ihren aktuellen Bezug.

4. Psychiatrie heute: In der gegenwärtigen Psychiatrie muß man lernen, von der Allmachtsvorstellung herunterzukommen, so daß man nicht mehr meint, alles tun zu können, von dem man annimmt, daß es eigentlich zur Psychiatrie gehöre. Es muß eine Haltung gefunden werden, die in jedem einzelnen Fall Schaden und Nutzen gegeneinander abwägt. Außerdem haben wir uns allen Konsequenzen zu stellen, die aus der Gemeinde-Psychiatrie erwachsen. Es scheint verhältnismäßig leicht, den Teil des Leidens abzuschaffen, der institutionell durch die Psychiatrie bedingt ist, verhältnismäßig leicht auch den Teil, der durch soziale Ungerechtigkeit und Unterprivilegierung entsteht, sehr viel schwerer jedoch ist es, das Leiden, das nicht abzuschaffen ist, dem wir hilflos gegenüber stehen, zu ertragen, mit ihm in der Gemeinde, Nachbarschaft und Familie zu leben und zu akzeptieren, daß es eine leidensfreie Gesellschaft nicht gibt.

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