Der Raum der Freiheit. Die Verfassungsordnung als Angebot, Aufgabe und stets gefährdete Chance
Helmut Simon
Grundrechte-Report 1997, S. 15-20
Gustav Heinemann hat die Verabschiedung des Grundgesetzes als Sternstunde unserer Geschichte bezeichnet. Ich sehe den besonderen Lebenswert dieser Verfassung darin, daß sie die überkommene Rechtsstaatsidee mit dem Demokratieprinzip und dem Sozialstaatsgebot in einem historischen Kompromiß zu einem unauflösbaren Dreiklang verschmolzen und auf einen Wertekonsens in Gestalt verbindlicher Grundrechte gegründet hat.
Bringen wir Demokratie auf die Formel: „Der Staat ist die Gesamtheit aller gleichberechtigten Staatsbürger, die als Inhaber der öffentlichen Gewalt Herrschaft auf Zeit verleihen“, dann läßt sich der ergänzende rechtsstaatliche Gedanke so umschreiben: „Der Staat – auch die frei gewählte Mehrheitsdemokratie – kann und darf nicht alles.“ Das Sozialstaatsgebot schließlich ergänzt das ursprüngliche Postulat der rechtsstaatlichen Freiheit vor dem Staat mit der Forderung nach Teilhabe am sozialstaatlichen Leistungsangebot und nach Daseinsvorsorge durch die Solidargemeinschaft.
Hinter diesem Dreiklang steht als Idealtypus der Mensch als Träger unveräußerlicher Grundrechte und als mitverantwortliches, in freier Selbstbestimmung wirkendes Glied einer freien Gesellschaft, wobei das Grundgesetz die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft im Sinne einer Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden hat.
Diese Verfassungsordnung ist zu keiner Zeit sicherer Besitz, sondern Angebot, Aufgabe und stets gefährdete Chance. Gefährlicher noch als ihre erklärten Gegner können unmerkliche Erosionen und schleichende Umwertungen werden, denen sowohl die genannten drei Strukturentscheidungen als auch die Grundrechtsverbürgungen ausgesetzt sind.
1. Der Rechtsstaatsgedanke wird zunehmend obrigkeitlich interpretiert und gleichgesetzt mit dem Gehorsam der Bürger gegenüber staatlichen Vorschriften. Werden diese verletzt – etwa im Protest gegen Mißstände oder im zivilen Ungehorsam gegenüber bedrohlichen Entwicklungen -, dann ertönt das Lamento, der Rechtsstaat schlechthin sei in Gefahr, und sogleich wird gefordert, er habe mit majestätischer Härte zu reagieren. Nun ist es sicher richtig, daß jeder Staat, auch der Rechtsstaat, auf die Gesetzestreue seiner Bürger angewiesen ist und auf die Achtung legaler Entscheidungen, deren Geltung nicht davon abhängen kann, daß jeder sie als legitim anerkennt. Recht bändigt die Gewalt und ist in seiner friedensschützenden Funktion auch dort zu achten, wo es noch unzulänglich ist. Aber die Gemeinschaft vor Rechtsbrüchen zu schützen war schon Aufgabe des obrigkeitlichen Polizeistaates. Die Besonderheit der Rechtsstaatlichkeit, ihr eigentlicher Lebenswert, liegt anderswo:
Sie zielt auf die Bindung zuerst und vor allem der staatlichen Organe an das Recht, auf Begrenzung und Bändigung der Staatsgewalt durch das Recht und schützt durch eine Reihe von Vorkehrungen den Bürger vor staatlichem Machtmißbrauch. Dazu gehören: die Teilung der Gewalten zwischen Volksvertretung, Regierung und Gerichten, die sich gegenseitig hemmen und kontrollieren sollen; die Bindung staatlichen Handelns an förmliche Gesetze; die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes sowie das Rückwirkungsverbot; das Recht der Bürger, gegen staatliche Eingriffe in ihren Interessenbereich unabhängige Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht anzurufen, die ihrerseits in einem rechtsstaatlichen geordneten Verfahren unter strikter Wahrung des Rechts auf Gehör zu entscheiden haben.
Grenze und zugleich Richtschnur für das staatliche Handeln sind vor allem die Grundrechte in ihrer Ausgestaltung als unmittelbar geltendes, einklagbares Recht, das notfalls durch Inanspruchnahme herausprozessiert werden muß. Sie orientieren sich an der Würde des Menschen, die im Grundgesetz als oberster Wert gilt. Sie garantieren, „daß dem einzelnen Bürger eine Sphäre privater Lebensgestaltung verfassungskräftig vorbehalten ist, also ein letzter unantastbarer Bereich rechtlicher Freiheit, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen ist“ (BVerfGE 6, 32 [41]). In einer Serie denkwürdiger Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist es gelungen, herkömmlichen Verbürgungen wie Glaubens- und Gewissensfreiheit, Berufsfreiheit, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Gleichberechtigung, Schutz vor Freiheitsentziehungen und Eigentumsverletzungen Geltung zu verschaffen und sie auch in wichtigen Punkten fortzuentwickeln, etwa in Gestalt des Persönlichkeitsrechts und eines informationellen Selbstbestimmungsrechts über die persönlichen Daten. Aus diesen Verbürgungen hat das Bundesverfassungsgericht eine „grundsätzliche Freiheitsvermutung zugunsten des Bürgers“ hergeleitet, die in Verbindung mit der Rechtsstaatsidee zu der Forderung führt, daß der einzelne nicht nur vor ungesetzlichen, sondern auch vor unnötigen Eingriffen des Staates bewahrt bleiben muß. Der ungeschriebene rechtsstaatliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, gelegentlich auch als Verbot übermäßiger Eingriffe bezeichnet, hat sich in dieser Rechtsprechung geradezu zu einem Supergrundrecht entwickelt.
Inzwischen lassen sich gegenläufige Tendenzen beobachten. Das beschränkt sich nicht auf die Aushöhlung unbequemer Grundrechte wie Asylrecht oder Unverletzlichkeit der Wohnung. Im Streit um die Kruzifix-Entscheidung setzten sich konservative Kreise über das fundamentale und bislang anerkannte Verfassungsverständnis hinweg, daß Grundrechte als das Unabstimmbare in ihrem Kernbereich sogar für Mehrheitsentscheidungen unverfügbar sind und demgemäß gerade auch Minderheiten zugute kommen.
2. In der deutschen Verfassungstradition ist das Demokratieprinzip ähnlich wie der Rechtsstaatsgedanke zunächst allzu eng verstanden worden, indem es kurzerhand mit dem allgemeinen Wahlrecht gleichgesetzt wurde. Eine Kräftigung erfuhr es durch die verfassungsgerichtliche Forderung, daß in einem demokratischen Gemeinwesen vor allem der vom Volk unmittelbar legitimierte parlamentarische Gesetzgeber dazu berufen ist, durch förmliche Gesetze im öffentlichen Willensbildungsprozeß unter Abwägung der verschiedenen, häufig widerstreitenden Interessen nach dem Mehrheitsprinzip über die von der Verfassung offengelassenen Fragen, namentlich über grundrechtsrelevante Maßnahmen zu entscheiden. Diese Parlamentsverantwortung ist nicht mehr zureichend gewährleistet, seit in großem Umfang Entscheidungsbefugnisse auf die Europäische Union übertragen wurden und hier bevorzugt von der Exekutive und den Regierungschefs der Mitgliedsstaaten ausgeübt werden. Zurückgedrängt wurde sie vor allem im militärischen Bereich, leider mit weitgehender verfassungsgerichtlicher Billigung.
Auch in anderer Hinsicht ist das Demokratieprinzip, ähnlich wie die Rechtsstaatsidee, Erosionen und Umwertungen ausgesetzt. Seine zentrale Aussage, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, verflüchtigt sich mehr und mehr zu einem bloßen Ursprungsmythos. Protestbewegungen werden arrogant als Druck der Straße abgetan. Bedenklich erscheint bereits, daß der erwähnte Vorrang des Parlaments fälschlich gegen die Bürger ins Feld geführt wird statt gegen die Exekutive und ihre Bürokratie. Vor allem wird ein einzelner Bestandteil der demokratischen Ordnung, nämlich das Repräsentationsprinzip, überfrachtet und dem Bürger im Sinne eines repräsentativen Absolutismus angesonnen, gefälligst zu parieren, wenn die mehrheitlich gewählten Repräsentativorgane entschieden haben. Zwar ist das Repräsentationsprinzip ein unverzichtbarer Notbehelf, um die Massendemokratie funktionstüchtig zu halten. Aber dieser Notbehelf ist nicht das maßgebliche Kennzeichen des demokratischen Gedankens und darf dessen eigentlichen Lebenswert nicht verdrängen. Dieser zielt auf Mitbestimmung und partizipatorische Mitwirkung aller Bürger bei der Bildung des Staatswillens, auf das Recht zur Bildung und Ausübung von Opposition, auf andauernde öffentliche Kontrolle der Regierenden und deren Rechenschaftspflicht gegenüber den Regierten sowie auf möglichst weitgehende Selbstbestimmung des einzelnen. Ist es nicht an der Zeit, darüber hinaus dem Volk als Träger der Staatsgewalt endlich durch Volksbegehren und Volksentscheid breitere Möglichkeiten zur unmittelbaren Beteiligung an der Staatswillensbildung einzuräumen?
Diese Willensbildung muß in einer Demokratie nach einem der grundlegenden Verfassungsgerichtsurteile zur Parteienfinanzierung vom Volk zu den Staatsorganen hin und nicht umgekehrt verlaufen; die Teilhabe an der politischen Willensbildung äußere sich nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen, sondern auch in der Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen Meinungsbildung, die sich in einer Demokratie frei, offen, unreglementiert und grundsätzlich staatsfrei vollziehen müsse. Es liegt auf der Hand, daß in dieser Sicht die Grundrechte eine überragende Rolle spielen, insbesondere der Gleichheitssatz mit dem daraus herleitbaren Gebot der Chancengleichheit und vor allem die politischen Freiheitsrechte, also die Meinungs-, Medien- und Demonstrationsfreiheit. Für deren Verwirklichung hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren wegweisenden Entscheidungen – vom Lüth- bis zum Brokdorf-Beschluß – Entscheidendes geleistet. Es hat die Meinungsfreiheit als eines der vornehmsten Menschenrechte, als schlechthin konstituierend für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung und im gewissen Sinn als Grundlage der Freiheit überhaupt gewürdigt. Andererseits ist die Kritik nicht unberechtigt, das Gericht habe mitunter im Interesse des „Staatsschutzes“ zu weit gehende Einschränkungen der Grundrechte toleriert und nicht genügend beachtet, daß eine streitbare Demokratie am verläßlichsten durch streitbare Demokraten geschützt wird.
3. Freiheitsrechte wären – so heißt es im ersten Numerus-clausus-Urteil – wertlos ohne die tatsächlichen Voraussetzungen, sie in Anspruch nehmen zu können. Für die Masse der Staatsbürger schafft erst der soziale Leistungsstaat die reale Chance dafür, bis ins Alter ein einigermaßen menschenwürdiges Leben in Freiheit und Selbstbestimmung zu führen. Demgemäß verpflichtet das Sozialstaatsgebot der Verfassung den Staat nach anerkannter Rechtsprechung dazu, für einen Ausgleich sozialer Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen. Am wirksamsten hat sich dieses Gebot bisher in Verbindung mit anderen Verfassungspostulaten erwiesen, namentlich mit dem Gleichheitssatz, der einseitige Begünstigungen oder Benachteiligungen bei leistungsrechtlichen Regelungen verwehrt, ebenso bei der sozialstaatlich motivierten Auslegung der Berufs-, Ausbildungs- und Koalitionsfreiheit und bei der Erstreckung der Eigentumsgarantie auf Renten und andere Positionen der sozialen Sicherung. Wäre es nicht an der Zeit, darüber hinaus aus dem Sozialstaatsgebot ähnlich wie aus dem Rechtsstaatsprinzip praktizierbare Verbürgungen herzuleiten, etwa ein Verschlechterungs- und Rückwirkungsverbot, das dem Gesetzgeber nur dann einen Sozialabbau erlaubt, wenn er dies mit überragenden Gemeinwohlbelangen rechtfertigen kann?
Statt das Sozialstaatsgebot in ähnlicher Weise wie das Rechtsstaatsprinzip zu aktivieren und dem gefährlichen Sozialdarwinismus entgegenzuwirken, ist es in jüngster Zeit in noch stärkerem Maße als die beiden anderen Strukturentscheidungen der Verfassung Umwertungen und Erosionen ausgesetzt. Diese Tendenz steigert sich bis zur Schmähkritik am Wohlfahrtsstaat und seinem vermeintlich zu engmaschigen sozialen Netz und wird begleitet von gezielten Sprachregulierungen wie „Sozialklimbim“, „soziale Hängematte“ und „kollektiver Freizeitpark“. Wortführer sind jene, deren eigener Lebensstil nichts zu wünschen übrigläßt und die ihre systemverändernden Bestrebungen auch noch gerne als besonders verfassungstreu ausgeben. Zugleich wird die Kluft zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit gerade in der Sozialpolitik immer tiefer. Vergessen wird dabei, daß das Sozialstaatsgebot nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in umfassender Weise die Idee der sozialen Gerechtigkeit verkörpert und daß gerade das Sozialrecht die Würde von Menschen schützt, die auf Hilfen für ein gelingendes Leben und eine verläßliche Lebensplanung angewiesen sind.
Die soziale Ausrichtung unserer Wirtschafts- und Sozialordnung war lange Zeit unser Stolz und Grund für die Überlegenheit gegenüber sozial unausgeglichenen, extrem kapitalistischen Systemen. Nach dem verdienten weltweiten Sieg der Marktwirtschaft und dem Zusammenbruch sozialistischer Gegenmodelle bestand ein gesteigertes Bedürfnis, diese soziale Ausgestaltung zu stärken und verfassungskräftig unzweideutig abzusichern. Ich halte es für ein Versagen unserer Generation, daß in den Beratungen der Verfassungsreformkommission der Versuch gescheitert ist, das Sozialstaatsgebot ähnlich wie in einigen Landesverfassungen und internationalen Vereinbarungen durch soziale Staatszielbestimmungen wie Recht auf Arbeit, Recht auf soziale Sicherheit und Recht auf Wohnung zu konkretisieren. Wären unsere Vorfahren so denkfaul und immobil gewesen wie wir – die rechts- und sozialstaatliche Demokratie wäre hierzulande nie Wirklichkeit geworden.