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Menschen­würde und die Vertei­di­gung der Luftsi­cher­heit

Grundrechte-Report 2007, Seiten 21 – 25

Man müsse dem System vertrauen und schulde ihm Gehorsam, hatten Offiziere eines Jagdgeschwaders erklärt, deren Aufgabe es sein sollte, über der Bundesrepublik auch ein vollbesetztes Passagierflugzeug auf Befehl abzuschießen, wenn seine Entführer es allem Anschein nach als Waffe einsetzen wollen. Das System heißt NLFZSiLuRa – Nationales Lage- und Führungszentrum Sicherheit im Luftraum -, sitzt in Kalkar, alarmiert die Abfangjäger-Rotte, gibt seine Befürchtungen an den Inspekteur der Luftwaffe weiter, und der lässt den IBUK – den Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt, also den Verteidigungsminister – entscheiden, ob abgeschossen wird oder nicht. Wonach soll der sich entscheiden? Wie kann er wissen, was sich an Bord des sich irregulär bewegenden Flugzeuges ereignet: ob es tatsächlich eine ernsthafte Entführung und mit welcher wirklichen Absicht ist oder ob es sich nur um einen Instrumentenausfall, einen ohnmächtigen oder unfähigen Piloten handelt? Wie kann er wissen, ob die Maschine – wenn sie abgeschossen werden würde – auf eine Schule, ein Krankenhaus, oder den Potsdamer Platz stürzt? Soll der Minister seine Entscheidung davon abhängig machen, ob sich an Bord der Maschine eine beliebte Fußballmannschaft, eine ausländische Delegation oder nur normale Menschen – und dann wie viele befinden? Das Gesetz schweigt. Die Entscheidung sei schwer, meinte der Minister, und er werde zurücktreten, wenn er sie treffen müsste, allerdings erst danach. Der Inspekteur der Luftwaffe, ein Herr Stieglitz, gab sich vor dem Verfassungsgericht soldatisch: »Wenn wir den Befehl bekommen abzuschießen, dann wird abgeschossen. Befehlsverweigerung gibt’s nicht. Wer den Befehl verweigert, kommt vors Wehrstrafgericht.« Immer diese Zivilisten, wird der Mann sich gedacht haben. Bedenkenträger. Auf die Frage, ob denn die Piloten auch gehorchen würden, wenn sie die Passagiere – Männer, Frauen, Kinder – nicht durch Knopfdruck, sondern einzeln erschießen müssten, gab es keine Antwort. Mit anderen Worten, es war ein System, dem man besser weder Vertrauen noch Gehorsam schulden sollte.

Das schienen auch Vertreter der Politik so zu sehen. Die Länder Hessen und Bayern hatten zwar keine Einwendungen gegen das Abschießen eines Passagierflugzeugs. Es fehle dem Gesetz aber die Zustimmung des Bundesrates – und die hätte es nur gegeben, wenn der Einsatz der Bundeswehr im Inland umfassender und unter Änderung des Grundgesetzes geregelt worden wäre.

Der Innenminister, der das Gesetzeswerk maßgeblich betrieben hatte, meinte dagegen, Deutschland sei so dicht besiedelt, dass er sich keinen Vorgang vorstellen könne, bei dem das Gesetz bei richtiger Auslegung angewendet werden könne. Die Frage blieb offen, warum denn das Gesetz dann eingebracht worden war.

Die beteiligten Abgeordneten der beiden Koalitionsfraktionen waren unterschiedlicher Meinung. Der Abgeordnete Wiefelspütz (SPD) erklärte, es sei zwar bedauerlich, dass die unschuldigen Passagiere, die mit dem Flugzeug entführt worden seien, bei einem Abschuss getötet werden würden. Das sei aber nicht zu ändern. Ihr Leben würde ohnehin nur noch kurze Zeit dauern. Der Abgeordnete Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) meinte dagegen, seine Fraktion habe immer erklärt, dass sie die Tötung der Passagiere ablehne. Genau deswegen habe man ja die Kompromissformulierung gefunden, in der die Insassen des Flugzeugs nicht mehr vorkommen: »Die unmittelbare Einwirkung (der Kampfflugzeuge auf die Passagiermaschine) mit Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll.« Das Gesetz regele nur eine Zuständigkeitsfrage, erlaube aber keine vorsätzliche Tötung von Menschen. Das habe er auch im Plenum des Bundestages als seine persönliche Meinung gesagt.

Täuschung der Öffent­lich­keit

Der Vorgang verdient, festgehalten zu werden: Die Bundesregierung bringt ein Gesetz ein, das sie bei korrekter Auslegung für unanwendbar hält. Und die Fraktionen des Bundestages, die die entscheidende Mehrheit bildeten, verdecken vorsätzlich durch eine Kompromissformel, dass sie in Wirklichkeit in einer Kernfrage des Gesetzes diametral entgegengesetzter Meinung waren, ohne sich geeinigt zu haben. Sie täuschten der Öffentlichkeit eine Mehrheit in einer Frage vor, bei der es um das Leben von Hunderten unschuldiger Menschen ging – und darum, ob Soldaten der Bundeswehr mit einem rechtswidrigen Befehl konfrontiert werden würden, der den Tatbestand des Totschlags erfüllt hätte.

Es gibt in der Geschichte der deutschen Parlamente keinen vergleichbaren Vorgang. Man mag darüber streiten, was man für richtig hält. Aber man kann eine Gesetzgebung über Leben und Tod nicht zu einem politischen Spiel machen, in dem die Akteure der einen Seite etwas darstellen, was sie für wehrhafte Handlungsfähigkeit ausgeben wollen, und die andere Seite sich die Schüssel hinstellt, in der sie ihre Hände in Unschuld waschen kann, wenn etwas schief geht.

Das Bundesverfassungsgericht ist in seiner Entscheidung auf diese empörende Vorgeschichte des Gesetzes nicht eingegangen. »Es ist«, formuliert das Gericht, »unter der Geltung des Artikel 1 Absatz 1 GG schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich wie die Besatzung und die Passagiere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten.« Der Gesetzgeber darf dazu gegenüber unschuldigen Menschen weder ermächtigen noch eine solche Handlung als rechtmäßig qualifizieren und damit erlauben. Das sei als »Streitkräfteeinsatz nichtkriegerischer Art mit dem Recht auf Leben und der Verpflichtung des Staates zur Achtung und zum Schutz der menschlichen Würde nicht zu vereinbaren.«

Die einmütig beschlossene Begründung dieser Sätze auf Artikel 1 des Grundgesetzes zeigt dem Gesetzgeber, dass er sich hier auf ein Feld begeben hat, auf dem er keine Macht und nichts mehr zu entscheiden hat. Das Leben der Bürger ist keine Verfügungsmasse, über die der Staat nach opportunistischen Gründen verfügen könnte, aus welchen Motiven auch immer. Er hat das Leben der Bürger zu schützen, und zwar mit allen Mitteln, die die Verfassung ihm erlaubt – und die sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Die Verfassung erlaubt es jedenfalls nicht, Bürger, die selbst Opfer eines Verbrechens sind, vorsätzlich zu töten, weil der Verteidigungsminister denkt, das sei  vermutlich für alle besser so. Er ist nicht Herr über Leben und Tod.

Dem Minister fiel es offenbar schwer, sich aus dieser spektakulären Rolle zu lösen. Er werde, meinte er wiederholt in öffentlichen Erklärungen, im Notfall den Einsatzbefehl gleichwohl erteilen und dann, natürlich, zurücktreten. Er sei der Meinung, das sei ein Verteidigungsfall. Er übersieht, dass die Befehlsgewalt im Verteidigungsfall auf den Bundeskanzler übergeht. Er übersieht auch, dass wir nicht mehr im 19. Jahrhundert leben, in dem die Regierungen nach eigenem Ermessen den Belagerungszustand, also das Kriegsrecht ausrufen konnten, und dass sich aus dein Urteil des Bundesverfassungsgerichts eben ergibt, dass die Entführung eines Flugzeugs durch Terroristen, sonstige Straftäter oder Geistesgestörte kein Krieg, sondern ein Verbrechen ist. Und er übersieht schließlich, dass sein Befehl rechtswidrig und ungültig wäre, weil er die Begehung eines Verbrechens anordnet. Solange die Bundesrepublik ein Rechtsstaat ist, müsste er nicht nur zurücktreten, sondern gemeinsam mit den Piloten, die einen solchen Befehl ausführen, wegen Totschlags vor Gericht gestellt werden. Es wäre angebracht, dass der Inspekteur der Luftwaffe, der schon erwähnte Herr Stieglitz, die Offiziere der beiden für diese Einsätze vorgesehenen Jagdgeschwader über diese Rechtslage aufklären würde.

Wehrpflich­tige als Hilfs­po­li­zis­ten?

Die Bundesregierung spielt mit dem Gedanken, ein Gesetz einzubringen, in dem die Bundeswehr zu Einsätzen mit militärischen Mitteln im Inland ermächtigt werden soll. Fast hatte sie es schon erreicht, diesen Gedanken mit der »Solidaritätsklausel« des Artikel 1-43 des Europäischen Verfassungsvertrages in unser Rechtssystem einzuschmuggeln, der in der Debatte des Bundestages mit keinem einzigen Wort erwähnt worden ist. Wollen wir wirklich Wehrpflichtige als ungelernte Hilfspolizisten mit Kriegswaffen im Inland einsetzen, damit sie wenigstens die Länderhaushalte bei den Polizeikosten entlasten? Wer das will, der könnte genauso gut oder schlecht die Bundespolizei wieder mit den alten Uniformen und den einstigen militärischen Rängen des Bundesgrenzschutzes ausstatten und ihr die schweren Waffen geben, die die Polizei in der Nachkriegszeit allmählich und manchmal zögernd abgelegt hat, Panzerfahrzeuge, Handgranaten, schwere Maschinengewehre. So drängt sich ein anderer Gedanke auf, dass nämlich der »Einsatz der Bundeswehr mit militärischen Mitteln« im Inland in Wirklichkeit bedeuten soll, dass die Bundesregierung unter dem Stichwort »Bekämpfung des Terrorismus« nicht nur Kriegswaffen, sondern stillschweigend und unter Bruch ihrer verfassungsrechtlichen Pflichten Kriegsrecht einführen, also das erlauben will, was man dann schönfärberisch »Kollateralschäden« nennt: die heim Einsatz militärischer Kriegswaffen unvermeidbare und darum hingenommene vorsätzliche Tötung Unschuldiger?

Die Militarisierung der Innenpolitik wird kein Problem lösen. Aber die Fortsetzung der Demontage unserer Verfassung beginnt, unsere Rechtsordnung und damit unseren Staat zu zerstören. In bester Absicht, versteht sich.

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