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Verraten und verlassen

Hamburger Schulsenatorin instrumentalisiert Kindeswohl gegen Kinder und missachtet Völkerrecht

Grundrechte-Report 2007, Seiten 166 – 170

Am Anfang stand der »Fall Jessica«. Eine Siebenjährige war im Frühjahr 2005 in Hamburg, unbemerkt und unbeachtet von Schule, Jugendamt, Polizei und Nachbarn, von den eigenen Eltern vernachlässigt und misshandelt worden, bis sie schließlich hinter den verdunkelten Fenstern ihres Kinderzimmers verhungerte. Die öffentliche Reue war tief: Nie wieder, so gelobten die Stadtoberen, solle das Leiden eines Kindes in der Hansestadt übersehen werden. Fortan werde der Staat ein wachsames Auge auf das Kindeswohl haben.

In aller Stille wurde ein Plan ausgearbeitet, der dann im September 2006 vorgestellt wurde. Dessen Kernstück bildete das »Zentrale Schülerregister« (ZSR). Hier sollen künftig alle Schulkinder erfasst werden, um dann durch Datenabgleich mit den Einwohnermeldeämtern festzustellen, ob der Schulpflicht nachgekommen wird.

Allerdings soll der Datenaustausch auch in umgekehrter Richtung funktionieren. Zudem dürfen auch Polizei und Ausländerbehörden auf das Register zugreifen. Beobachter rieben sich verwundert die Augen, denn in den Fokus rückte mit dieser Ausgestaltung des ZSR eine Gruppe, die in der Öffentlichkeit bislang kaum Beachtung gefunden hatte: die Kinder von Migrantinnen und Migranten ohne Papiere. Diese können anhand ihres fehlenden Eintrags im Melderegister identifiziert werden – mit der Folge, dass die Ordnungsbehörden über die Kinder Zugriff auf ganze Familien sogenannter »Illegaler« hätten. Von der Schulbank direkt in die Abschiebehaft?

Gezielt geschürte Unsicher­heit

Vertreterinnen und Vertreter von Politik, Kirchen und Flüchtlingsorganisationen sowie Lehrerinnen, Lehrer und Eltern forderten daraufhin in einem gemeinsamen Appell die Schulen sowie Bürgerschaft und Senat auf, das Recht der betroffenen Kinder auf Bildung über die Meldepflicht zu stellen. Doch Schulsenatorin Alexandra Dinges-Dierig (CDU) legte noch einmal nach: In einem Brief vom Oktober an sämtliche Schulen wurde, im Ton höflich, in der Sache unerbittlich, diesen nahegelegt, unterbliebene Meldungen umgehend nachzuholen. Geschickt changiert das Schreiben zwischen der an sich sanktionslosen Meldemöglichkeit nach den ZSR-Vorschriften und der Meldepflicht der »Denunziationsklausel« in § 87 Absatz 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Dass letzterer als bundesrechtliche Vorschrift mit dem nach Landesrecht eingerichteten Schülerregister nichts zu tun hat, dass die Meldepflicht zudem erst bei positiver Kenntnis von einem illegalen Aufenthalt greift und nur direkt gegenüber der Ausländerbehörde, nicht aber gegenüber der Schulbehörde besteht – von all dem kein Wort.

Besorgte Schulleiterinnen und -leiter klingelten bei der kirchlichen Beratungsstelle »fluchtpunkt« daraufhin ebenso Sturm wie in der Hansestadt ohne legalen Status lebende Eltern. Während die einen fürchteten, sich aufgrund ihrer bis dahin liberalen Haltung oder schon durch schlichte Unwissenheit strafbar zu machen, fragten sich die anderen, ob sie nun nicht besser ihre Kinder von der Schule nehmen sollten.

Dabei ist die rechtliche Lage vergleichsweise klar: Das Recht auf Bildung ist bereits in Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 niedergelegt und in den Menschenrechtskonventionen der UNO, insbesondere in Artikel 28 der Kinderrechtskonvention und in Artikel 13 des Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WSK-Pakt), konkretisiert. Auch Artikel 2 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention stellt klar fest: »Niemandem darf das Recht auf Bildung verwehrt werden.«

Zwar ist umstritten, wie weit dieses Recht individuell eingefordert werden kann. Insbesondere gegen die Kinderrechtskonvention hat die Bundesregierung bei der Ratifizierung in Deutschland einen Vorbehalt eingelegt, der auf den faktischen Ausschluss ausländischer Kinder von den in der Konvention genannten Rechten zielt. Dieser Vorbehalt ist indessen in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wiederholt Gegen-stand konträrer Entscheidungen gewesen, die sowohl seine grundsätzliche Zulässigkeit als auch seine Reichweite betrafen.

Kein Zweifel besteht demgegenüber an der grundsätzlichen Pflicht des deutschen Staates, die Verpflichtungen, die die Bundesrepublik durch Beitritt zu den zuvor genannten völkerrechtlichen Abkommen eingegangen ist, in der innerstaatlichen Rechtspraxis auch tatsächlich zu gewährleisten. Diese Pflicht gilt auf allen Ebenen des Staates – d. h. für den Bund ebenso wie für die Länder und Kommunen (vgl. insoweit Artikel 28 WSK-Pakt) – und trifft alle staatlichen Teilgewalten, also neben den Parlamenten und Regierungen auch Gerichte und Behörden. Umgesetzt wird die aus dem Völkerrecht resultierende Verpflichtung, indem die erwähnten staatlichen Akteure in ihrer täglichen Praxis das in Deutschland geltende und an-zuwendende Recht im Lichte des Völkerrechts auslegen (so das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung).

Menschen­recht auf Bildung geht vor

Mit anderen Worten: Schulleiterinnen und -leiter, die Kinder irregulärer Migrantinnen und Migranten an ein zentrales Register melden und die Eltern damit dazu veranlassen, diese Kinder aus Angst vor Entdeckung von der Schule zu nehmen, verletzen das Völkerrecht. Ebenso wie ihre Vorgesetzten, die sie zu solchem Tun anweisen. Entsprechend sieht z. B. ein aktueller Gesetzentwurf von Bündnis 90/Grüne vor, die Schulen explizit aus dem Kreis der Meldepflichtigen des § 87 Absatz 2 AufenthG herauszunehmen (BT-Drs. 16/445). In einer Anhörung vor dem Bundestag im Juni 2006 vertrat der Bundesverfassungsrichter a.D. Bertold Sommer dazu die Auffassung: »Die Wahrnehmung der existenziellen Rechte, die auch Menschen ohne Aufenthaltsrecht zustehen, darf nicht mehr oder weniger zwangsläufig die Beendigung des Aufenthalts nach sich ziehen – mit der Folge, dass die Rechte gar nicht erst in Anspruch genommen werden. In einem solchen Konflikt zwischen der Durchsetzung der rechtsstaatlich begründeten Ausreiseforderungen und der Wahrung grundlegender persönlicher Schutzansprüche muss das Prinzip der Menschenwürde und der Achtung der Menschenrechte letztlich den Vorrang behalten.«

Dem ist nichts hinzuzufügen, zumal Kinder ohne regulären Aufenthaltsstatus in aller Regel dieses Schicksal nicht selbst gewählt haben, sondern insoweit die Konsequenzen der Entscheidungen ihrer Eltern tragen. Diesen Kindern faktisch den Schulbesuch zu verweigern, würde auf die Etablierung des Rechtsgrundsatzes »Kinder haften für ihre Eltern« hinauslaufen; dies ist vom rechtspolitischen Standpunkt her abzulehnen.

Die Senatorin zerdrückte unbeeindruckt einige öffentliche Krokodilstränen: Man wolle doch gerade den Kindern papierloser Migranten helfen – sei doch die psychische Belastung durch das Leben in der Illegalität die schlimmste Kindeswohlverletzung. Es folgte die Ankündigung von Abgeordneten der allein regierenden CDU, eine Legalisierung betroffener Familien bis zum Schulabschluss der Kinder solle geprüft werden. Doch wer garantiert den Betroffenen, dass dies auch noch erfolgt, wenn das mediale Interesse nachlässt? Demgegenüber wird schon mit der geschaffenen Unsicherheit höchst effizient Druck auf Schulen und Eltern ausgeübt. Zumindest die Behörde hat so ihr Klassenziel erreicht.

Wie viele Eltern letztlich infolge der von Behördenseite verbreiteten Unsicherheit ihre Kinder von der Schule abgemeldet haben, wird sich wohl nie rekonstruieren lassen. Dafür aber macht das Hamburger Beispiel bereits Schule: Ebenfalls im Herbst 2006 verbreitete die Kultusministerkonferenz den Plan zur Einrichtung eines nationalen Bildungsregisters, in dem jedes Kind über seine gesamte Schullaufbahn hinweg erfasst werden soll. Gespeichert werden sollen u.a. Daten zur sozialen Herkunft. Über Abgleichsmöglichkeiten mit den Innenbehörden wurde noch nichts bekannt. Vorläufig.

Literatur

Jörg Alt, Schulbildung versus Aufenthaltskontrolle, in: Grundrechte-Report 2006, S. 54 ff.

Hendrik Cremer, Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), Die »General Comments« zu den VN-Menschenrechtsverträgen, Baden-Baden 2005, S. 525 ff.

Chronik zum Hamburger Schülerregister unter www.kinderfluchtpunkt.de

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