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Schein­ge­werk­schaften

Grundrechte-Report 2010, Seite 123

Zentrale Akteure der Auseinandersetzungen im sozialen Leben in der Bundesrepublik sind Gewerkschaften und Arbeitgeber. Ihnen kommt die Aufgabe zu, gemäß der durch Artikel 9 Absatz 3 geschützten Koalitionsfreiheit und im Rahmen der dort gewährleisteten autonomen Rechtsgestaltung, also im wesentlichen frei von staatlicher Einflussnahme, die Lohn- und sonstigen materiellen Arbeitsbedingungen in eigener Verantwortung auszuhandeln. Die so zustande gekommenen Tarifverträge wirken insoweit auf diejenigen, die unter den Geltungsbereich des jeweiligen Tarifvertrages fallen, normativ, sie können sich also jederzeit auf die tariflichen Rechte berufen.

Die Tarifvertragsparteien erfüllen damit, wie es das BVerfG bereits 1964 ausdrückte,   den „im öffentlichen Interesse liegenden Zweck, in dem von der staatlichen Rechtsetzung freigelassenen Raum das Arbeitsleben im Einzelnen durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, insbesondere die Höhe der Arbeitsvergütung für die verschiedenen Berufstätigkeiten festzulegen und so letztlich die Gemeinschaft sozial zu befrieden“ (BVerfG v. 6.5.1964).

Dies setzt unter anderem unabdingbar voraus, dass die Gewerkschaften durchsetzungsfähig sind, um sicherzustellen, dass der Arbeitgeber sie soweit „ernst nimmt“ (BAG v. 28.3.2006), dass die Arbeitsbedingungen nicht einseitig von der Arbeitgeberseite festgelegt, sondern tatsächlich ausgehandelt werden. Dies ist mit der sog. „Mächtigkeit“ gemeint, die Voraussetzung für die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft ist.

Was macht nun ein Arbeitgeber dem eine solche Gewerkschaft zu mächtig wird? Er sucht sich die schwächste aus oder, noch besser: Er gründet selbst eine. So z.B. die Christliche Gewerkschaft Metall. Diese Gewerkschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie für sich in Anspruch nimmt, eine “konsensorientierte Tarifpolitik“ zu vertreten, sie hat noch keine Streiks organisiert. Soweit sie eigenständige Tarifverträge abgeschlossen hat, lag deren Niveau regelmäßig unter dem der Tarifverträge der IG Metall.

Bundes­a­r­beits­ge­richt prüft Tarif­fä­hig­keit

Ob es sich bei dieser Vereinigung um eine tariffähige Gewerkschaft handelt, stand im Jahr 2006 vor dem Bundesarbeitsarbeitsgericht zur Überprüfung an. Diese Frage hat das Gericht bejaht. Es hat dabei grundlegende Ausführungen zur Zulässigkeit eines Eingriffes in den nach Artikel 9 Absatz 3 GG geschützten Bereich gemacht. Es hat noch einmal ausdrücklich bejaht, dass vor dem Hintergrund der eingangs beschriebenen überragenden Bedeutung der Gewerkschaften bei der autonomen Aushandlung von Arbeitsbedingungen der Staat durchaus berechtigt ist, Kriterien zu entwickeln, die erfüllt sein müssen, um Koalitionen gem. Artikel 9 Absatz 3 GG das Recht auf Abschluss eines Tarifvertrages zuzugestehen. Nur so kann die Funktion der Tarifautonomie gewährleistet werden, die darauf angelegt ist, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Tarifverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annährend gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen  (BAG v. 28.3.2006).

Gleichzeitig hat das Bundesarbeitsgericht – im Hinblick auf die oben beschriebene Tarifautonomie konsequent – festgestellt, dass es nicht Aufgabe der Gerichte ist, durch die inhaltliche Bewertung von Tarifverträgen „Tarifzensur“ zu üben. Um anzunehmen, dass Tarifverträge durch Gewerkschaften aus „Gefälligkeit“ gegenüber einem Arbeitgeber geschlossen wurden bedürfe es besonderer  Anhaltspunkte. Solche könnten darin gesehen werden, wenn etwa in einem Tarifvertrag durch Ausnutzung einer gesetzlichen Tariföffnungsklausel gesetzliche Mindestarbeitsbedingungen ohne eine Kompensation unterschritten werden. Dann könnten sog. „Gefälligkeitstarifverträge“ vorliegen. Dies ist durchaus von Bedeutung für die Qualifizierung der Tarifverträge im Leiharbeitnehmerbereich, in dem gerade durch Ausnutzung einer Tariföffnungsklausel im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz durch einen Tarifvertrag die gesetzlichen Mindestarbeitsbedingungen unterschritten wurden.

Mit der Gruppierung, die diese Tarifverträge abgeschlossen hat, hat sich das Bundesarbeitsgericht demnächst zu beschäftigen. Gemeint ist hier die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP). Diese Tarifgemeinschaft hat sich dadurch ausgezeichnet, dass sie Tarifverträge im Rahmen des Tariföffnungsklausel des § 9 Absatz 3 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) abgeschlossen hat. Durch diese Tarifverträge wurde das gesetzliche „equal-pay“ Gebot umgangen. Diese gesetzliche Regelung sieht vor, dass für Leiharbeitnehmer die gleichen Arbeitsbedingungen einschließlich der Bezahlung gelten müssen wie für die Stammbelegschaft. Unterschritten werden dürfen diese Arbeitsbedingungen nur dann, wenn ein Tarifvertrag dies erlaubt. Genau dafür hat die CGZP ihre Hand gereicht und tarifvertraglich schlechtere Arbeitsbedingungen vereinbart.

Das Arbeitsgericht Berlin hat in Bezug auf diese Vereinigung festgestellt, dass es ihr an der sozialen Mächtigkeit fehle. Bei den abgeschlossenen Tarifverträgen hätte es keines großen Drucks gebraucht, da die Arbeitgeberseite ein eigenes starkes Interesse am Abschluss solcher verschlechternder Tarifverträge gehabt habe. Die erstinstanzliche Entscheidung ist vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg bestätigt worden. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht ist zugelassen.

Arbeitgeber gründet eigene Gewerk­schaft

Was aber macht ein Arbeitgeber, mit dem noch nicht einmal solche „Gewerkschaften“ einen Tarifvertrag abschließen wollen? Er gründet einfach seine eigene Gewerkschaft. So geschehen im Fall der Gewerkschaft Neue Brief und Zustelldienste (GNBZ). Zunächst schlossen die Gewerkschaft ver.di und der Arbeitgeberverband Post einen Tarifvertrag über Mindestlohn für Briefzusteller und Briefzustellerinnen ab. Gemeinsames Ziel war es, diesen Tarifvertrag durch das Bundesarbeitsministerium für allgemeinverbindlich erklären zu lassen und diesen als Mindestlohntarifvertrag für die gesamte Branche einzuführen. Damit sollte den haarsträubenden Bezahlungen gerade in dieser Branche ein Riegel vorgeschoben werden. Dieses Vorhaben war auch erfolgreich. Dadurch sah nun die PIN AG, ein mit der Post konkurrierender Anbieter, auf dem Zustellmarkt ihr Geschäftsmodell, das auf der Ausbeutung der Beschäftigten beruht, bedroht. Daher wurde eine Kölner Anwaltskanzlei mit der Gründung einer „Gewerkschaft“, der GNBZ beauftragt. Diese Anwaltskanzlei organisierte dann auch die Gründung eines Vereins in dessen Satzung – nicht vergessen: es handelt sich angeblich um eine Gewerkschaft – ausdrücklich als erste Aufgabe die Förderung der „Interessen der Wettbewerber der Deutschen Post AG“, also der Arbeitgeberseite, steht. Die PIN AG finanzierte die Gründung und die Büroausstattung, sie bezahlte im Wesentlichen den Geschäftsführer, einen früheren Manager, sie und weitere Unternehmer fordern ihre Beschäftigten auf, in diese „Gewerkschaft“ einzutreten. Und dann werden mit dieser vom Arbeitgeber gegründeten Vereinigung Tarifverträge geschlossen, die – wenn wundert es – natürlich schlechtere Konditionen beinhalten als die Mindestarbeitsbedingungen, die das Bundesarbeitsministerium durch die Allgemeinverbindlichkeit des ver.di Tarifvertrages geschaffen hat. Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht Köln haben zu Recht festgestellt, dass es so nicht geht und diesem Verein die Tariffähigkeit abgesprochen. Das Bundesarbeitsgericht wird sich mit diesem Fall im Frühjahr 2010 befassen.

Festzuhalten bleibt: Gewerkschaften erfüllen einen grundgesetzlich geschützten Auftrag. In ihre Rechte, das bedeutet vor allem in ihr Recht, Tarifverträge abzuschießen, darf nur bei Vorliegen einer Rechtfertigung eingegriffen werden. Dass sie nicht mächtig genug sind, um dem Arbeitgeber tatsächlich Paroli bieten zu können, kann eine solche Rechtfertigung dar darstellen.

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