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Selbst­be­stim­mung auch am Lebensende

Grundrechte-Report 2010, Seite 48

Fast ausschließlich negativ hatte der Grundrechte-Report seit Beginn im Jahre 1997 über gesetzgeberische Maßnahmen zu berichten, die die Grund- und Freiheitsrechte einschränken. Erst zweimal in seiner 14-jährigen Geschichte konnte er den Gesetzgeber loben, zum Informationsfreiheitsgesetz (vgl. Christoph Bruch im Grundrechte-Report 2006, S.33 ff.) und zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (vgl. Susanne Dern im Grundrechte-Report 2007, S. 75 ff.). Nun ist es endlich ein drittes Mal soweit: Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29. Juli 2009 hat der Bundestag die uneingeschränkte Rechtsverbindlichkeit von Patientenverfügungen gesetzlich festgeschrieben.

Bereits 1978 hatte der Arzt Dr. Klaus Waterstradt für die Humanistische Union die erste Patientenverfügung herausgegeben. Über 30 Jahre lang waren deren Verbindlichkeit umstritten, obwohl sie doch eigentlich eindeutig war. Jede ärztliche Behandlung ist juristisch eine strafbare Körperverletzung, die nur durch die Einwilligung des Patienten gerechtfertigt wird. Eine Behandlung gegen seinen Willen ist strafbar. Und schon das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1896 schrieb in § 130 Absatz 2 fest: „Auf die Wirksamkeit der Willenserklärung ist es ohne Einfluß, wenn der Erklärende nach der Abgabe stirbt oder geschäftsunfähig wird.“ Also bleibt der in einer Patientenverfügung zum Ausdruck kommende Wille des Patienten auch dann wirksam und verbindlich, wenn der Patient sich selbst zu einer ärztlichen Behandlung nicht mehr äußern kann. Dennoch wollten die Ärzte lange eine Patientenverfügung lediglich „mit berücksichtigen“, aber nicht als für sich verbindlich anerkennen, obwohl die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes sowohl der Straf- wie auch der Zivilsenat die Verbindlichkeit der Patientenverfügung anerkannt hatte. Nur: Die Rechtslage schien unklar und war insbesondere weitgehend unbekannt. Eine Ärztebefragung in Rheinland-Pfalz im Jahr 2001 erbrachte das erschreckende Ergebnis, dass fast 50 % der befragten Ärzte rechtlich zulässige Maßnahmen der passiven Sterbehilfe wie etwa Einstellung der künstlichen Beatmung für eine strafbare aktive Sterbehilfe hielten, und fast noch schlimmer: Eine bundesweite Befragung der im Streitfall zur Entscheidung berufenen Vormundschaftsrichter im Jahre 2003 ergab, dass auch etwa ein Drittel von ihnen die rechtlich zulässige passive Sterbehilfe von der strafbaren aktiven Sterbehilfe nicht richtig abgrenzen konnte. Daher war eine gesetzgeberische Klarstellung geboten.

Selbst­be­stim­mung und Menschen­würde

Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes schützt das Recht auf Leben – er schreibt aber keine Pflicht zum Leben vor. Und aus dem „Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ nach Artikel 2 Absatz 1 GG folgt die Selbstbestimmung eines Jeden, die zur unantastbaren Würde des Menschen nach Artikel 1 GG gehört. Schon 1985 erklärte der damalige Bundesvorsitzende der Humanistischen Union, der Rechtsphilosoph und Justizsenator Prof. Dr. Ulrich Klug in einer Anhörung vor dem Rechtsausschuss des Bundestages, dass hieraus verfassungsrechtlich das Recht eines Jeden folgt, selbst zu bestimmen, ob und wie lange er leben will, wann er seinem Leben ein Ende setzen will, welches Leben er für menschenwürdig hält und welches Sterben er selbst für menschenwürdig erachtet. Jede staatliche Bevormundung in diesem Bereich sei verfassungswidrig. Die Angst vieler Menschen vor der Apparatemedizin und davor, dass durch den Fortschritt der Medizintechnik ihre lediglich physische Existenz ohne die Möglichkeit eines menschenwürdigen Weiterlebens verlängert und der Tod hinausgezögert werde, muss ernst genommen werden und darf keiner Bevormundung unterliegen.

Für die jahrelangen Gesetzesberatungen im Bundestag wurde wegen der ethischen Grundsatzfragen der Fraktionszwang aufgehoben. Zum Schluss standen sich zwei interfraktionelle Gesetzentwürfe gegenüber, der Bosbach-Entwurf und der Stünker-Entwurf. Der erstere wollte die Bevormundung der Bürger durch die Politik fortsetzen, indem er ärztliche Zwangsberatung und notarielle Beurkundung vorschrieb und eine Reichweitenbeschränkung für die Verbindlichkeit der Patientenverfügung einführen wollte. Je nach Schwere der Erkrankung sollte Verbindlichkeit vorliegen oder nicht. Er hätte dazu geführt, dass die ca. acht Millionen vorhandenen Patientenverfügungen weitgehend rechtsunwirksam geworden wären. Der Stünker-Entwurf hingegen schrieb im wesentlichen die Erkenntnisse der Rechtsprechung fest, dass die Patientenverfügung ohne Wenn und Aber rechtsverbindlich ist. Er fand die Mehrheit im Bundestag.

Nur der Wille des Patienten zählt

Die Neuregelung findet sich im Betreuungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Nach § 1901a ist der in einer Patientenverfügung niedergelegte Wille des Patienten, wenn dieser sich nicht mehr selbst äußern kann, für Ärzte, Pflegepersonen und alle sonst Beteiligten verbindlich. Dies gilt insbesondere auch für gerichtlich eingesetzte Betreuer oder vom Patienten selbst eingesetzte Bevollmächtigte. Arzt und Betreuer oder Bevollmächtigter haben lediglich festzustellen, ob die vorliegende medizinische Situation derjenigen entspricht, für die der Patient eine Patientenverfügung abgefasst hat. Dann haben sie keinen eigenen Willen zu bilden, sondern den Willen des Patienten umzusetzen. Wenn sie sich in der Auslegung der Patientenverfügung einig sind, haben sie so zu verfahren. Liegt keine schriftliche Patientenverfügung vor, haben sie den mutmaßlichen Willen des Patienten zu erforschen aufgrund konkreter Anhaltspunkte wie frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen oder persönliche Wertvorstellungen des Patienten. Immer darf es aber nur darum gehen, den mutmaßlichen Willen des Patienten zu erforschen und nicht die eigenen Vorstellungen an dessen Stelle zu setzen.

Kommen Arzt und Bevollmächtigter oder Betreuer zu einer unterschiedlichen Auffassung dessen, was der Patient gewollt hat, entscheidet das Betreuungsgericht. Auch dieses jedoch hat nach § 1904 Absatz 3 BGB nicht nach eigenem Ermessen oder eigenen Wertvorstellungen zu entscheiden, sondern ausschließlich nach dem von ihm festgestellten Willen des Patienten.

Ärzte, Betreuer und Bevollmächtigte können jetzt endlich den Willen des nicht mehr äußerungsfähigen Patienten umsetzen, ohne wegen Unklarheiten oder Unkenntnis Strafe befürchten zu müssen. Und die Verfasser von Patientenverfügungen können beruhigter ihrem Lebensende entgegensehen und müssen nicht befürchten, dass ihre Menschenwürde im Sterben von Dritten bestimmt oder eingeschränkt wird. Dabei gilt: Jeder entscheidet für sich selbst. Der Wille eines Menschen, dass alles nur medizinisch irgendwie Mögliche für ihn getan wird, um sein Leben zu verlängern, auch wenn er etwa im Wachkoma liegt, ist genauso verbindlich wie der umgekehrte Willen desjenigen, der ein solches Weiterleben für sich selbst nicht mehr für würdevoll und lebenswert hält.

Literatur

Höfling, Wolfram, Das neue Patientenverfügungsgesetz, Neue Juristische Wochenschrift 2009, 2849

Verrel, Torsten, Die Perspektive des Strafrechts bei der Sterbehilfe, Till Müller-Heidelberg, Das Recht auf Selbstbestimmung sowie Volker Lipp, Selbstbestimmung und Vorsorge, sämtlich in Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Die Freiheit zu sterben, Berlin, 2007

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