Die Schuld im Strafrecht
Aus: vorgänge Heft 10/1963, S. 297 – 308
Im deutschen Recht wird die Schuld als der Zentral-begriff des Strafrechts bezeichnet. Der strafrechtliche Komplementär-begriff dieser Schuld ist die Vergeltung – im Gegensatz etwa zu der einen oder anderen Theologie, in der zur Schuld die Vergebung gehört. Bis in die zwanziger Jahre hinein haben die deutschen Straf-juristen unverhohlen das Wort Vergeltung gebraucht und von einem Vergeltungsstrafrecht gesprochen. Später ist man sensibler geworden; man spricht etwa vom gerechten Ausgleich der Schuld, ohne dass sich in der Sache etwas geändert hätte. Schon Nietzsche, der noch mehrfach zu zitierende Genealoge der Moral, hat sich hierzu geäußert: „Schlechte Luft! Schlechte Luft! Diese Werkstätte, wo man Ideale fabriziert, mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen! Haben Sie nicht bemerkt, was ihre Vollendung im Raffinement ist, ihr kühnster, finsterster, geistreichster, lügenreichster Artistengriff? Was sie verlangen, das heißen sie nicht Vergeltung, sondern den Triumph der Gerechtigkeit.” Gemeint dürften damit z. B. Hegel und seine Nachfolger sein, die ein Vergeltungsstrafrecht in die klingende Formel gegossen haben, das Verbrechen sei eine Negation des Rechts und die Strafe sei die Negation der Negation, womit das jeweilige Recht sich majestätisch wie ein Vogel Phönix aus der Asche erhebe. Statt Vergeltung wird häufig auch euphemistisch von „Sühne” geredet; bezeichnenderweise hat der Nazismus das Wort :der deutschen Gesetzessprache einverleibt. Die deutsche Vorliebe für große und dunkle Worte ist deutlich. Dostojewskis Raskolnikoff-Roman heißt nur in der deutschen Sprache „Schuld und Sühne”; im Urtext und anderswo lautet der Titel viel bescheidener „Verbrechen und Strafe”.
Die kriminalpolitische Antithese zu einem Schuld- und Vergeltungsrecht nimmt die Gefährlichkeit des Täters zum Ausgang und strebt seine Sozialisierung oder Resozialisierung und den Schutz der Gesellschaft vor ihm an. Es hat seit Alters her Kulturen gegeben, in denen :.anstatt einer vergeltenden Strafe nur bessernde und .:sichernde Maßnahmen sanktioniert waren. Grönland ist ;ein Beispiel. Seit dem Durchbruch der Sozial- und Naturwissenschaften im Laufe des 19. Jahrhunderts ist die Vergeltungsstrafe mehr und mehr umstritten. „Helft”, -schreibt Nietzsche 1880 in der „Morgenröte”, während ‚Franz von Liszt begann, sich der deutschen und internationalen Strafrechtsreform zu widmen, „helft, ihr Hilf-;reichen und Wohlgesinnten, doch an dem einen Werk ~mit, den Begriff der Strafe, der die ganze Welt über-wuchert hat, aus ihr zu entfernen. Es gibt kein böseres Unkraut!” Die Reformbewegung der Gegenwart zieht zunehmend bessernde und sichernde Maßnahmen einer vergeltenden Strafe vor. Die Vereinten Nationen sprechen nicht mehr von „Straf“-recht, „Straf“- Prozess und „Straf“-Vollzug, sondern von sozialer Verteidigung. Verteidigung setzt keinen schuldhaften Angriff voraus.
Die These, Schuld sei der Zentralbegriff des Strafrechts, wird, was nicht völlig übergangen werden soll, auch dem deutschen Gegenwartsrecht und dem Entwurf eines neuen Rechts nur mit Einschränkungen gerecht. Z. B. wider-spricht die Festsetzung von Mindeststrafen radikal dem Gedanken der Schuld, die, wenn das Wort einen Sinn haben soll, nur Täter bezogen, nicht Tat bezogen sein kann. Die heutige und auch im Entwurf nicht ausgeschlossene Praxis, zwecks Abschreckung Dritter staatliche Sanktionen festzusetzen oder zu verschärfen, die sogenannte Generalprä-vention, vernachlässigt nicht minder den Schuldgedanken.
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Die Geschichte der Strafe hat den Genealogen der Moral, z. B. Westermarck in „Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe“,viel Kopfzerbrechen bereitet. Wo es aber Strafe gibt, ist sie, wie unstrittig ist, aus dem Zorn, der Rache und dem Vergeltungstrieb erwachsen, sie ist Gefühlsreaktion auf Schaden und seelische Kränkung.
Die einst weit verbreitete Blutrache und Sippenhaft ist eines der Beispiele. „Gib her den Brudermörder, dass wir ihn töten um des Lebens seines Bruders willen, den er umgebracht, und wir wollen vertilgen den Erben.” Oder „Die Gibeoniten sprachen zu dem König: Der Mann, der uns zu vernichten trachtete, dass wir vertilgt werden, von seinen Nachkommen gebe man uns sieben Männer; wir wollen sie aufhängen für den Herrn am Hügel Sauls. Der König sprach: Ich will sie geben.” Die beiden Zitate stammen aus dem zweiten Buch Samuel. Die Sünden der Väter wurden nicht nur in der Bibel an Kind und Kindeskind heimgezahlt. Gleiche Auffassungen finden sich bei vielen Völkern in West und Ost. Die Vorstellung von der Haftung der kommenden Geschlechter für die Fehler der Eltern hat auch ihren sinnfälligen Ausdruck in dem Glaubenssatz gefunden, daß die Sünde des ersten Paares die Verdammnis der ganzen Menschheit nach sich ziehe. Die Sippenhaft ist auch keineswegs tot. Kollektivstrafen wurden im nazistischen Unrechtsstaat im In- und besonders im Ausland vollstreckt, und uns selber ist es noch nicht gelungen, die rechtliche und soziale Gleichstellung der unehelichen Kinder durchzusetzen. Kinder von Strafgefangenen und Zuchthäuslern tragen oft ein ähnliches Schicksal.
Vergeltung wurde seit Alters-her auch an toten Gegen-ständen geübt. Demosthenes erwähnt, daß man, wenn jemand durch ein herab fallendes Stück Eisen oder Holz
getötet werde, den todbringenden Gegenstand vor dem Gericht des Prytaneion anklage. Plato schreibt in seinen „Gesetzen”: „Wenn ein unbelebtes Ding – ausgenommen ein Blitz oder ein anderes göttliches Wurfgeschoss – einen Menschen tötet, so soll der Richter die schuldige Sache über die Grenze werfen.” Wir geben heute noch vielfach dem Stuhl, über den wir stolpern, einen Stoß und verwünschen den Stein, der uns verletzt.
Tierprozesse gab es bis in die neuere Zeit. Wiederum bei Plato hieß es: „Verursacht ein Tier den Tod des Menschen, so soll es wegen Mordes angeklagt werden.” Eine ähnliche Bestimmung findet sich im Pentateuch. In manchen Ländern Europas sind Tiere bis zum 17. Jahr-hundert, in Frankreich letztmals im ‚ Jahre 1845, zum Tode verurteilt und öffentlich hingerichtet worden. Es wurden ihnen Verteidiger gestellt, und der Prozeß
verlief wie ein Verfahren gegen Menschen. Es gab sogar Strafverschärfungen im Falle des Rückfalls. Noch Adam Smith meinte: „Der beißende Hund und der tötende Stier werden bestraft. Weder das Publikum noch die Hinterbliebenen werden sich vor der. Tötung des Tieres zufrieden geben – teilweise auch zwecks Rächung des Verstorbenen.”
Geisteskranke wurden noch im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit häufig als Hexen und Ketzer verbrannt. Kein deutsches Stadtrecht vor dem 17. Jahrhundert enthielt Sonderbestimmungen zugunsten Geisteskranker. Sie wurden auch später häufig mit größter Strenge, sogar mit dem Tode bestraft. In „Wie es Euch gefällt” spricht Shakespeare davon, daß Verrückte Dunkelzellen und Peitschen verdienen. Für Jugend-liche galt ähnliches. Im Jahre 1913 befanden sich noch 13 000 Zwölf- bis Dreizehnjäh-rige in deutschen Gefängnissen.
Die geschichtlichen Beispiele sollen nicht nur den archaischen Charakter der Vergeltung, sondern vor allem den Arche-typischen Charakter der Gleichstellung von Vergeltung
und Gerechtigkeit erkennen lassen, ohne den die heutige Virulenz und Aktualität des Vergeltungsstrebens und Vergeltungsdenkens gar nicht verständlich wäre. Kelsen hat in seiner Schrift „Vergeltung und Kausalität” Entscheidendes hierzu gesagt. ‚
Man behauptet im allgemeinen, die Entwicklung des Strafrechts. sei von dem Gedanken der Erfolgshaftung – der reinen Kausalität – allmählich zum Prinzip der Schuldhaft vor geschritten. Z. B. habe man im deutschen Recht nach und nach zwischen gewollten und ungewollten Taten unterschieden und langsam primitive Schuldformen entwickelt, bis etwa Schwarzenberg im 15. Jahrhundert durch sein Wort, „die Pein dürfe nicht größer sein denn die Verschuldung” ein neues Zeitalter eröffnet habe.
Man kann die Entwicklung auch anders sehen und den Satz wagen, die Geschichte der Menschheit führe, sofern man die übliche Vorstellung einer historischen Einbahnstraße überhaupt beibehalten will, von dem Denken in Schuldvorstellungen zu einer kausalen Weltbetrachtung. Auch Binding meinte, die Lehre, am Anfang stünde eine schuldlose Missetat und die Periode der sogenannten Erfolgshaftung und der Schuldbegriff seien erst viel später entstanden, lasse sich nicht nachweisen, weder in den römischen noch in den germanischen Quellen. Es kann kaum zweifelhaft sein, dass das primitive Weltbild akausal gewesen ist und dass die Menschheit viele Jahrtausende gebraucht hat, um in der Kategorie Ursache-Wirkung statt in der von Schuld und Strafe zu denken. Erst den Atomisten, Epikur und Aristoteles ist es – mit Maß – gelungen, Schuld und Ursache zu trennen und damit wissenschaftliches Denken überhaupt zu ermöglichen. Trotz allem ist die alte Denkweise noch durchaus populär. Sie spiegelt sich in unserer Sprache. Wir reden gerne davon, jemand sei schuldig, während wir lediglich meinen, er sei eine Ursache. Ganz deutlich wird dies in der Umgangsphrase, etwas – also eine Sache – sei „schuld” an einem Ereignis.
Platon spricht ausdrücklich von „schuldigen” Sachen. Pausanias schreibt, man behaupte von unbelebten Dingen, sie würden „aus eigenem Antrieb” sich gegen Menschen vergehen. Westermarck kommt bei der Würdigung der Tierprozesse zu dem Ergebnis, die Tiere seien das Opfer der Entrüstung, die ihr Verhalten hervorrufe. Das Tier sei für seine Missetat verantwortlich angesehen worden, wie denn auch in den alten Berichten von einem Akt der „Gerechtigkeit” gesprochen werde. Er verweist u. a. auf die „Ethica Christiana” Johann Crells,. nach dem Tiere Tugenden und Laster hätten, daher Belohnung und Strafe verdienten und also von Gott. und den Menschen auch bestraft würden. Ebenso sicher geschahen die ursprünglichen Bestrafungen von Geisteskranken und Kindern keineswegs nur des Erfolgs, sondern ihrer Schuld wegen.
In Wahrheit hat die Menschheit, da der Schuldgedanke älter als das kausale Denken war, im Zuge ihrer weiteren Entwicklung nicht nach der Schuld, sondern mehr und mehr nach der Ursache des Bösen, das man erfährt, gefragt. Sie suchte nicht mehr nach der „Ur-Person”, die schuldig war, sondern jetzt nach der „Ursache”, die kausal war. Was dem Primitiven Strafe und Lohn war,. wurde zur Wirkung einer „Ursache”. Insbesondere galt: dies für die Unannehmlichkeiten und Wechselfälle des, Lebens, z. B. Arbeit, Krankheit, Tod, Missernte, Unglücksfall usw. Griechische Philosophen haben die Sippenhaft unter ihre kritische Lupe genommen. Bion meinte, eine Gottheit, die Kinder für die Verbrechen der Väter bestrafe, sei lächerlicher als ein Arzt, der dem Enkel die Arznei verschreibe, wenn der Großvater krank sei, Die Zeiten-wende spiegelt sich auch deutlich in dem
Bibelwort: „Und Jesus ging vorüber und sah einen, der blind-. war, und seine Jünger fragten ihn: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern? Jesus antwortete:
Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern.”
Auf der Suche nach der Ursache des Bösen ist man z. B. bei den schädlichen Sachen auf die Schwerkraft und bei den Tieren auf ihre Instinkte gestoßen. Man hat bei menschlichen Lebewesen nicht die „Schuld” gefunden, wie man es gerne formuliert, sondern unter dem Einfluß. etwa von Thomas von Aquino den sogenannten freien Willen. In ihm hat man die letzte Ursache des Bösen sehen wollen und gesehen. Damit hat man sich bewußt
oder unbewußt die weitere Kausalforschung erspart und verbaut.
Unter den heftigsten Geburtswehen der Menschheit wurde in die Konzeption des freien Willens und die Vorstellung dieser letzten Ursache menschlichen Verhaltens eine Bresche geschlagen. Mit Schmerzen, gegen eine Kritik und Opposition, die bis zum heutigen Tage noch oft leidenschaftlich andauert, wurden Geisteskranke, Kinder und Jugendliche ratenweise ausgenommen, weil Wissenschaft und Erfahrung unabweisbar die Erkenntnis aufzwang, daß ihr Wille nicht letzte Ursache ist, sondern seinerseits durch psychologische Daten bestimmt wird. Die Konzeption eines freien Willens bot sich einer Menschheit an, die seit Jahrtausenden von Vergeltungstrieben bewegt wird. Sie wurde fast süchtig auf-gegriffen, und sie wird hartnäckig bewahrt. Sie ist eine Ideologie, geeignet und be-
stimmt, ein Vergeltungsstrafrecht zu legitimieren und das schlechte Gewissen zu besän-ftigen, das aus der Aggressivität des Vergeltungstriebs der Menschheit erwächst.
Hier sei wieder Nietzsche zitiert, nicht weil er als erster oder als letzter den Gedanken gedacht hat, sondern weil er ihn am Wort-gewaltigsten zu formulieren verstand und weil er nicht – wie die Natur- und Sozialwissenschaftler – im Geruche eines Materialismus steht. „Wir haben heute kein Mitleid mehr mit dem Begriff freier Wille. Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht werden, pflegt es der Instinkt des Strafen- und Richten-Wollens zu sein, der da sucht. Man hat das Werden seiner Unschuld entkleidet, wenn irgendein Soundso-Sein auf Wille, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurück-geführt wird: Die Lehre vom Willen ist wesentlich erfunden zum Zwecke der Strafe, d. h. des Schuldig-Finden-Wollens. Die ganze alte Psychologie, die Willenspsychologie, hat ihre Voraussetzungen darin, daß deren Urheber sich ein Recht schaffen wollten, Strafen zu verhängen… Die Menschen wurden frei gedacht, um gerichtet, um bestraft werden zu können: Folglich musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden (- womit die grundsätzlichste Falsch-münzerei in psychologicis zum Prinzip der Psychologie selbst gemacht war -).” So Nietzsche in der „Götzendämmerung”. „Der Instinkt der Rache wurde in Jahrtausenden dermaßen über die Menschheit Herr, daß die ganze Metaphysik, Psychologie, Geschichts-vorstellung, vor allem aber die Moral mit ihm abgezeichnet ist. Soweit auch nur der Mensch ;gedacht hat, so weit hat er den Bazillus der Rache in die Dinge geschleppt. Er hat Gott selbst damit krank gemacht… Die ganze Lehre vom Willen, diese verhängnisvollste Fälschung in der bisherigen Psychologie, wurde wesentlich erfunden zum Zwecke der Strafe. Es war aber die gesellschaftliche Nützlichkeit der Strafe, die diesem Begriff seine Würde, seine Macht, seine Wahrheit verbürgte.” So im „Willen zur Macht”.
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Schuld und Forderung sind Komplementär-Begriffe. Auch die strafrechtliche „Schuld” dürfte, wie beispielsweise auch Binding annahm, zunächst nichts anderes bedeutet haben als Schuldner zu sein. Es gibt zwei Forderungsgläubiger, einmal Staat-Gesellschaft, dann das eigene Ich des Menschen. Die Schuld gegenüber Staat-Gesellschaft sei heteronome Schuld genannt, die gegenüber dem eigenen Ich autonome Schuld.
Die Forderungen von Staat-Gesellschaft liegen nicht nur im Bereich des Moralischen; die Gesellschaft stellt Normen, wirtschaftliche Normen, z. B. Lebensstandarde und Moden, auf. Heteronome und autonome Forderung decken sich keineswegs. Der Mensch kann konformistisch – die sozialen Forderungen ganz oder teilweise zu seinen eigenen machen, er braucht das aber nicht zu tun; die autonomen Forderungen können strenger oder schwächer, sie können ganz anders sein.
Schuld, Schuldig bleiben meint erkenntnistheoretisch, dass die Wirklichkeit des Einzelnen hinter den heteronomen oder autonomen Forderungen zurückbleibt. Dies ist ein objektiver Befund, die Feststellung eines Minus, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Das Erlebnis eines Minus gegenüber den autonomen Werttafeln, die autonome Schuld, wird vom Einzelnen als Minderwertigkeit, z. B. körperliche, geistige, seelische, wirtschaftlich-soziale, ethische Minderwertigkeit usw., empfunden. „Vor jedem steht ein Bild deß, was es wer-den soll; solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll”, heißt es schön bei Rückert. Das Minderwertigkeitsempfinden ist rückblickend Schuldgefühl (Erkenntnis seitheriger Unzulänglichkeit). Vorausschauend führt es zu Angstgefühlen, der Angst vor der Zukunft und eigenem körperlichen, geistigen, wirtschaftlich-sozialen, ethischen usw. Versagen.
Die heteronome Schuld wird von Staat-Gesellschaft empfunden; das Gefühl für dieses Minus, für dieses Schuldig-bleiben, für dieses objektive Unrecht wird in einem Affekt, einer Emotion Manifest. Das Gefühl ist Irritation, Groll, Neid, Ressentiment, Haß und dergleichen. Die Gefühlsreaktion ist heute noch ein sozialpsychologisches, oft ein massenpsychologisches Phänomen, wobei freilich bei den einzelnen Individuen große Unterschiede bestehen können. Der Affekt nimmt mit der Intelligenz, dem Einfühlungsvermögen und der Phantasie ab. Das deutsche Strafrecht spricht von Schuld als Vorwerfbarkeit. Diese Formulierung wird der Erscheinung -nicht gerecht;- sie versucht damit den Sachverhalt in die Person des Täters zu verlegen, während er in Wahrheit in den Köpfen und Seelen der anderen existiert. An sich ist, wie bei Hamlet nachzulesen ist, nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu. Hier ist das affektive Denken der Zuschauer und Zuhörer gemeint. Das richtige Wort ist daher nicht Vorwerfbarkeit, sondern Vorwurf. Der österreichische Strafrechtler Siegfried Hohenleitner hat sich in der Festschrift von Theodor Rittler (1957) mit der „Schuld als Werturteil” befasst. Er kommt zu dem Resultat, daß das im deutschen Strafrecht üblich gewordene Wort Schuld zu jenen sprachlichen Ausdrücken gehöre, denen ein realer, sachlicher Gegenstand – jedenfalls beim Übeltäter – nicht entspreche. „Im Täter, dessen Tun wir als vorwerfbar und mithin als schuldhaft bezeichnen, finden wir auch bei letztem Einblick in das Schalt-werk der Gedanken nur einen psychologischen Sachverhalt, der in sich wertindifferent ist und bei aller Feinheit der psycholo-gischen Sonde kein spezifisches Merkmal erkennen lässt, das wir als “Die Schuld“ erfassen könnten“.
Hier galt es allein, erkenntnistheoretisch die Begriffe zu bestimmen.
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Der Schuldvorwurf von Staat und Gesellschaft setzt voraus, dass Recht und Gesetz absolute Werte sind. Menschliches Recht und menschliche Gesetze sind aber relativ. Naturrechtssätze von unbestreitbarer Evidenz sind nicht nachweisbar, so auch Bockelmann in seiner Göttinger Universitätsrede „Schuld und Sühne”. Die Schlange gaukelte dem Menschen ein Wissen um Gut und Böse vor; das „sicut Deus, scientes bonum et malum“ ist des Teufels.
Mit Hinweisen auf Bergpredigt und Dekalog ist nichts erreicht. Die Bergpredigt ist für das Recht der Gesellschaft, auf Taten zu reagieren, von entscheidender Bedeutung, aber sie liefert keine gesetzlichen Tatbestände. Die Zehn Gebote stehen ihnen näher, und einige wären als Motto für bestimmte Gruppen von Rechtsgüterverletzungen in einem Gesetz-buch, das, ein Volkslesebuch sein sollte, sehr wohl brauchbar und wünschenswert. Sie stellen aber nur Leitsätze dar. Ihre Auslegung ist strittig. Sie folgte und folgt den Interessen und beschränkten Vorstellungen der jeweiligen Zeit. Doppelzüngigkeit und doppelte Moral ist in der Außenpolitik auch in den christlichsten aller Staaten üblich und anerkannt gewesen. Die Jahrtausende alte Not des Völkerrechts, die wir erst heute langsam abzustellen beginnen, legt Zeugnis davon ab. Primitive Restbestände der Menschheitsgeschichte sind eine schwere Hypothek. Das Verbot des Mordes, des Diebstahls, der Unwahrheit und Unredlichkeit, galt bei den Primitiven in der Regel nur für denselben Stamm oder dasselbe Gemeinwesen. Auch dem Dekalog eines einzigen Gottes ist es nicht gelungen, in der Praxis die grundsätzliche Unterscheidung von „Landsleuten” und „Ausländern” aufzuheben.
Die Gesetze verändern sich mit Zeit und Ort. „Eine spaßige Gerechtigkeit, die von einem Fluß begrenzt wird”, meinte Pascal in seiner „Pensees”, „Wahrheit diesseits der Pyrenäen ist Irrtum jenseits.” Dies gilt noch heute vielfach in Europa. Die oft radikale Verschiedenheit. der Gesetze über den Erdball hinweg und durch die Jahrhunderte hindurch rührt teilweise von der Verschie-denheit der äußeren Verhältnisse her. Der Kampf ums Dasein konnte und kann z. B. heute noch zur Abtreibung und zur Säuglingstötung führen; früher gab es noch Elternaussetzung und Menschenfresserei. Wirtschaftliche Zustände haben die Sklaverei beeinflusst. Die Heiratsformen und die Eheauffassungen hängen häufig von dem Ziffernverhältnis der Geschlechter ab. Wichtiger aber ist die Unsicherheit der sittlichen Wertungen; oft sind sie irrationalen und aus uralten Zeiten des Aberglaubens überlieferten Vorstellungen zuzuschreiben.
Religionen haben Mord und Selbstmord verurteilt, aber- vom Menschenopfer ganz abgesehen – grausamste Verfolgungen Andersgläubiger erlaubt oder geboten. Gesetzgebung und in ihrem Kielwasser die Rechtsprechung haben sich im Lichte der Geschichte oft gründlich blamiert. Man denke an die größten Prozesse der Menschheit, den Prozess Jesus, den Prozeß Sokrates, die Jungfrau von Orleans, Konradin, Hus, Savonarola oder Giordano Bruno. Hunderttausende unschuldiger Ketzer und Hexen sind Blutzeugen irrender Legislative.
Unsere Gesetze von heute sind vielfach umstritten. Fast alle grundlegenden Normen auf dem Gebiete der Sittlichkeitsdelikte werden angezweifelt. Die Strafgesetzgebungen gegen politische Delikte sind begründeter Kritik ausgesetzt; sie variieren stark von Land zu Land; das deutsche Recht ist in unserer Generation vielen Änderungen unterzogen worden. Die Gesetzgebung ist im Grundsatz und in ihrer jeweiligen Ausgestaltung problematisch. Der Verbrecher von gestern ist der Held von heute; der Held im Westen ist Verbrecher im Osten und umgekehrt. Auch unsere Eigentums-, Vermögens- und Wirtschaftsgesetzgebung ist, worauf hinzuweisen besonders die Amerikaner nicht müde werden, unzulänglich. Sie ist ein breites und dünnes Netz; die Mücken bleiben drin hängen, die Hummeln brechen hindurch. Die Massenirreführung durch Reklame oder die Vortäuschung von Qualitäten wird kaum von den Betrugsbestimmungen erfaßt. Die juristischen Personen, die unser Wirtschaftsleben beherrschen, schlüpfen weitestgehend durch die Maschen eines Gesetzes, das mit dem Modell einer Früh-kapitalistischen Wirtschaft arbeitet und auf der Metaphysik des Mittelalters und ihrer Säkularisierung in der Philosophie der Aufklärung basiert. Monopolistische Machenschaften und Steuerhinterziehungen, durch die die Gesellschaft und ihre Glieder um Milliarden – ein Vielfaches der Beute, die sich die sogenannten klassischen Täter der Eigentums- und Vermögenskriminalität verschaffen – geschädigt werden, pflegen als Kavaliersdelikte hinter verschlossenen Türen unter Vermeidung jeder Diffamierung behandelt zu werden. In der Regel bleiben sie unbeachtet. Ihre Dunkelziffer ist sehr groß.
Flüchten wir uns nicht in die unbequeme, aber falsche Vorstellung, es gebe unanfechtbare ‚Gesetzesbestimmungen. Mord sei Mord, und Diebstahl sei Diebstahl. In der Geschichte der Menschheit gab es tausenderlei Morddefinitionen, und was in einem Lande Mord ist, ist in dem anderen Totschlag, Körperver-letzung oder fahrlässige Tötung. Unsere Generation hat zwei Definitionen im deutschen Recht erlebt. Unser Modedelikt – der so-genannte Autodiebstahl – war vor nicht all zu langer Zeit als furtum usus straffrei. Der Gesetzgeber schuf eine Spezial-bestimmung, die die Praxis – wie mich dünkt – oft zu Unrecht nicht anwendet. Sie straft als Diebstahl, was anderwärts nur unbefugte Autoleihe genannt und entsprechend geahndet wird. Das Eigentums- und damit das Diebstahlsrecht unterliegt zudem. einer säkularen Wandlung. Die Diebstahls-Bestimmungen stammen aus Zeiten einer Wirtschaft, wo Schmalhans Küchenmeister war. In einer „Gesellschaft im Überfluß”,die Galbraith in seinem aufsehenerregenden Buche zeichnete, kann, da Vollbeschäftigung oberstes Wirtschaftsziel und schneller Verschleiß deswegen höchste Bürgerpflicht ist, der Geizkragen eines Tages asozialer als der Dieb sein. In einer „Affluent Society” – zudem mit vielseitigem Versicherungsschutz – können Eigentumsdelikte dann zu bloßen Ordnungswidrigkeiten werden.
Kurz, das positive Recht mit dem, was es enthält, und dem, was es nicht enthält, ist nicht der Weisheit und Gerechtigkeit letzter Schluss, sondern unzulängliches Menschenwerk. Kommende Geschlechter werden nicht weniger kritisch sein als wir, die Hexen- und Ketzerverfolgungen, Schutzbestimmungen für Sklavenhalter oder das pervertierte sogenannte Recht der Nazizeit für Verbrechen in Gesetzesform halten. Vergessen wir nicht, dass auch Zuwiderhandlungen gegen gesetzliches Unrecht noch immer mit moralischem Pathos dem Täter vor-geworfen worden sind. Schuld als Vorwerfbarkeit wurde auch im Dritten Reich doziert und praktiziert.
Es gibt nicht nur eine Fragwürdigkeit jeder Gesetzgebung; auch die Rechtsverfolgung ist wie alles Menschliche problematisch. Gerechtigkeit verlangt Gleichheit, aber die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn. Die Zahl der unaufgeklärten Delikte ist groß. Nach einer vom Bundeskriminalamt herausgegebenen Untersuchung wurden z. B. 1956 5400 Abtreibungen polizeilich ausgewiesen; es wird aber mit 540 000 bis 2 700 000 Fällen gerechnet. 1 630 000 Delikte wurden 1956 insgesamt in der polizeilichen Krimi-nalistik verarbeitet; die Gesamtzahl der Delikte wird minimal auf 3 600 000 und maximal auf 10 750 000 geschätzt. Viel spricht dafür, daß nur eine negative Auswahl – die Dummen – vor Gericht kommen; hierunter leidet jeder Schuldvorwurf. Hat eine Öffent-lichkeit, in der sich eine erhebliche Zahl unentdeckt gebliebener Krimineller finden muss, zudem ein allgemeines Recht zu Schuldvorwürfen?
Ein weiteres Beispiel irdischer Unzulänglichkeit soll noch angefügt werden. Brauneck hat in ihrem Aufsatz „Zum Schuldstrafrecht” (Monatsschrift für Kriminologie 1958) mit Recht darauf verwiesen. Der Versuch, eine enge Verbindung unserer Gerichtsbarkeit mit Sittlichkeit und -Gerechtigkeit herzustellen ist, wie sie schreibt, „doch recht unglaubwür-dig, wenn man an die Behörden mit allen ihren höheren, mittleren und unteren Beamten, ihren Büros und Akten, ihren Haftlokalen und Gefängnissen denkt”. Unsere Rechtspflege ist, was wir Juristen sicher am meisten bedauern, ein bürokratischer Apparat, der oft mechanisch der Inflation von Fällen in Zeitnot Herr zu werden versucht. Der Anspruch auf Idealität sollte angesichts der technisch-organisatorischen Realität nicht übertrieben werden.
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Schuld im Sinne der deutschen Lehre und Rechtspflege, der ethische Vorwurf, das moralische Ärgernis, die mehr als Vorsatz oder Fahrlässigkeit des Täters meinen, ist nicht ohne ein Wissen des Täters um Gut oder Böse möglich. Hiermit ist die Gewissen-Problematik angesprochen.
In der theologischen Anthropologie wird das Gewissen häufig mit der Stimme Gottes identifiziert; die philosophische Anthropologie hat diesen Gedanken bisweilen säkularisiert. Die Folge solcher Auffassungen ist die Annahme eines für alle Menschen gleichen und konstanten Gewissens. Eine empirische Anthropologie kann diese Vorstellung nicht übernehmen; für sie gibt es nur indivi-duelle, relative Gewissen. Geschichte, Völkerkunde, Psychologie und Soziologie lassen einen anderen Schluß nicht zu.
Das Gewissen des Einzelnen reflektiert zunächst, da wir alle weitestgehend konfor-mistisch sind und sein müssen, die Wertvorstellungen der herrschenden Mehrheit der jeweiligen Gesellschaft. Diese Vorstellungen sind nicht gleich. Beispielsweise sind die Bewertungen von Ehe, Ehelosigkeit, freier Liebe, Prostitution, Ehebruch, Homosexualität usw. über den Erdball verschieden gewesen und noch heute radikal verschieden. Die Ehe zwischen Personen eines bestimmten Kreises ist vielfach verboten; doch sind die vom Eheverbot betroffenen Personen keineswegs gleich. Bei primitiven Völkern galt das – durch keinerlei Ausnahme erleichterte – Verbot, innerhalb des Stammes oder Clans zu heiraten. Ehen waren nur mit Angehörigen anderer Stämme gestattet. Andere exo-gamische Vorschriften beruhten nicht auf Verwandtschaft, sondern auf örtlichen Gründen; Ehen zwischen Einwohnern der gleichen Ortschaft waren ohne Rücksicht auf Verwandtschaft untersagt. Auch die Ehe mit Personen gleichen Namens ist schon verboten gewesen. Ausnahmen vom Inzestverbot, z. B. dem Verbot der Ehe zwischen Vollgeschwistern, gab es dagegen häufig für Königsfamilien. Umgekehrt hat es immer auch endogamische Regelungen gegeben. In Sparta und Athen war es gesetzwidrig, Auslände-rinnen zu heiraten;- in Rom waren bis 445 vor Christus Ehen zwischen Patriziern und Plebejern untersagt; später durften sich die Römer nicht mit Barbaren verheiraten; Kaiser Valentinian führte sogar die Todesstrafe dafür ein. Religion und Rasse waren und sind weitere Ehehindernisse, während sie anderwärts als unmenschlich schroff abgelehnt werden. Weiter: Bei den Menschen kommt jede mögliche Eheform vor. Ein Mann hat eine Frau oder mehrere oder viele Frauen, oder er teilt sich mit mehreren anderen Männern in eine Frau; stellenweise kennt man auch eine Ehe zwischen Männern oder eine Ehe zwischen Frauen. Die Dauer der Ehen wechselt außerordentlich; es gibt kurzfristige Verbindungen, die den Namen.Ehe tragen, und andere, die erst durch den Tod gelöst werden. Ehelosigkeit erscheint bald als Gottlosigkeit, bald als Ideal. Es ist also offensichtlich, dass die Völker je nach der Ausgestaltung von Sitte und Recht beim gleichen Sachverhalt bald ein schlechtes, bald ein gutes Gewissen haben.
Es ist ferner eine Illusion von Religion, Ethik und Recht, dass das konformistische Gewissen nur die postulierten Wertvorstellungen speichert. Der Mensch übernimmt die erlebten Werte, das sind auch die faktischen Verhaltens-weisen seiner Umwelt, die möglicherweise in einem schroffen Gegensatz zu den postulierten Soll-Vorschriften stehen. Das Gewissen des Kindes wird vor allem von Vater und Mutter in den frühen Lebensjahren gebildet. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr oder doch nur in Grenzen. Übernommen werden nicht in erster Linie Worte und Formeln, sondern das lebende Vorbild der Familie, der Nachbarschaft und der Gesellschaft. Wir kennen soziologisch die Phänomene der Subkulturen, sowohl einer spezifischen Oberklassen- wie Unterklassenmoral, die Moral der Klasse, des Standes, der sozialen Gruppe. Die Gesamtgesellschaft kann ihre sogenannten Werte lediglich heucheln und in Wirklichkeit fremden Göttern und Götzen dienen, z. B. einem rein wirtschaftlich verstandenen Lebensstandard. In aller Regel bewundert sie auch Stärke oder den zufälligen Erfolg mehr als die Tugend. Die Hoffnungslosigkeit, die Aufsässigkeit gegen Ordnung und Sitte, die Skepsis, der Zynismus und Lebensekel, die wir mitunter bei der Nachkriegsgeneration der ganzen Welt erfahren konnten, waren und sind eine Gleichgewichtsstörung, die tiefere Ursachen hat als die bloß biologische Reifungskrise; sie wurzelt auch soziologisch in der Verleugnung der idealen Soll-Vorschriften durch die tonangebende Schicht der Erwachsenen. Das Realgewissen – geschult und geschärft an den Praktiken, Kniffen und Tricks des Alltags, bereichert durch die Erfahrungen vom irdischen Erfolg des Skrupellosen – weicht daher vielfach von einem Idealgewissen ab.
Das reale Gewissen ist überhaupt viel differenzierter als die oft zwangsläufige Simplizität der Soll-Vorschriften, für die etwa Diebstahl gleich Diebstahl ist. Zulliger schildert in seinem „Umgang mit dem kindlichen Gewissen” ein instruktives Beispiel aus dem Schweizer Alltag. Zwei zehnjährige Jungen stehlen Kirschen vom Baume eines vermögenden Bauern. Den einen – den Sohn eines Knechts – lässt der Bauer eine Zeit gewähren, bis er ihn, weil er annimmt, er habe nun genug erwischt, vertreibt. Den zweiten aber – es ist der Pfarrersohn – jagt er sofort mit Entrüstung weg und beschwert sich bei seinem Vater über den „Dieb”. Die Jungen reagieren ebenso verschieden. Der Pfarrersohn quält sich tagelang mit Gewissensbissen, der Knechtsohn aber denkt nicht an das Vorgefallene; für ihn ist das Geschehene kein Unrecht,vielleicht war es sogar sein „Recht”. Zulliger hält dies mit gutem Grund für ein Beispiel für die Bedingtheit des Gewissens durch soziale Umstände.
Autonomie und Heteronomie befinden sich nicht allzu selten im Konflikt. Die Weltliteratur hat das Thema immer aufgegriffen. In der Antigone heißt es:
Kreon: Du… sagst oder leugnest Du, dass Du’s getan hast?
Antigone: Ich sage, daß ich’s tat, und leugne nicht. Kreon: Sag aber mir, ist Dir bekannt, wie ausgerufen ward, daß solches nicht zu tun ist?
Antigone: Ich wusste das.
Kreon: Was wagtest Du, ein solch Gesetz zu brechen? Antigone: Mein Gott hat mir’s geboten.
Der politische Widerstandskampf aller Zeiten, z. B. Hoch- und Landesverrat der Resistance, ist Beispiel genug. Aber die meisten Verbrechen sind nicht weniger Überzeugungstaten; sie sind ebenfalls Widerstand, Revolte, Auflehnung im Namen eines – vermeintlichen, vielleicht auch wirklichen – eigenen Rechts. Sie sind häufig bewußte oder unbewußte Racheakte dessen, der sich im Leben zu kurz gekommen fühlt oder vielleicht auch zu kurz gekommen ist. Lebens-Leere, menschliche und soziale Enttäuschung, Lebensneid, Langeweile mögen der Zunder sein, der Asozialität oder Antisozialität zur affektiven Entladung bringt, wobei der Täter sich vor Gott und den Menschen im Rechte fühlt. Schiller lässt seinen „Verbrecher aus verlorener Ehre” die – fast typischen – Worte sprechen: „Alle Menschen hatten mich beleidigt; denn alle waren besser und glücklicher als ich. Ich betrachtete mich als den Märtyrer des natürlichen Rechts und als ein Schlachtopfer der Gesetze.” Oder ein Mensch stiehlt, betrügt, fälscht, lässt sich bestechen usw., um seine – sonst zerbrechende – Familie zu erhalten. In der persönlichen Konfliktsituation entscheidet er sich für die Familie, die ihm als ein höherer Wert erscheint. Sicher liegt hier viel Selbsttäuschung und oft Irrtum vor. Bestimmt spielen, worauf z. B. auch Häfner in „Schuld-erleben und Gewissen” (Stuttgart 1956) hinweist, „die Täuschungsspiele sittlicher Einsicht und die hemmende Sophistik unserer Interessen” uns einen bösen Schabernack, um unsere Werturteile dem faktischen Wollen und Handeln anzupassen. Hier geht es aber allein um den subjektiven Tatbestand des Täters, und der häufige Fehler unserer Räsonnements ist, daß wir ein allgemein gültiges Idealgewissen voraussetzen und der Adressat. unseres Appells es gar nicht hat. Schlimmer ist, daß wir oft nicht zu entscheiden vermögen, wessen Gewissen irrt. Schon Aristoteles und Thomas von Aquino kannten das: Problem. Thomas von Aquino wies es am Beispiel des Ketzers nach, der überzeugt sei, das Richtige zu glauben und zu tun. Kant drehte den Spieß herum. Er beschäftigte sich nicht mit dem Ketzer, sondern dem Ketzerrichter; er zeigte an ihm die Verirrungen des sittlichen Urteils und bemerkte, dass der Ketzerrichter von keinem Gewissensbiss gepeinigt war. Das Thema ist heute nicht minder aktuell. Wir sollten uns aber vor der Vorstellung-hüten, das Problem trete nur bei Generälen und Richtern auf; auch Herr Hinz und Frau Kunz haben ihre Probleme.
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Schuld setzt die Freiheit des Willens voraus; diese aber ist wissenschaftlich nicht erweislich.
Für den Indeterminismus spricht das Gefühl der Freiheit, das viele haben. Es ist aber keineswegs allgemein. Für meine Person, erklärt Adickes, „muß ich die Existenz eines Freiheitsgefühls entschieden leugnen. Seit der Studentenzeit bin ich auch nicht einmal auf Augenblicke in der Täuschung befangen gewesen, ich sei frei zu wollen. oder nicht und könnte nach Willkür meinen Willen ändern. Im gleichgültigsten Tun wie in den folgen-schwersten Entscheidungen, bei Trieb- wie bei Wahlhandlungen, im fröhlichen Gespräch wie beim ernsten Durchdenken wissenschaftlicher Fragen: überall tritt mir die Gesetzmä-ßigkeit und Notwendigkeit in der Entwicklung und Betätigung meiner geistigen Kräfte auf das Klarste und Überzeugendste entgegen; ich erlebe die Wahrheit des Determinismus wirklich in mir.” Ähnlich sagte Eduard von Hartmann: „Es hat keine Zeit in meinem Leben gegeben, wo ich der Illusion einer Willensfreiheit unterworfen gewesen wäre. Von dem Augenblick an, wo mir das Problem zum Bewusstsein kam (in meinem 13. Lebens-jahr), war mir auch die Antwort im deterministischen Sinne entschieden. Wäre die Willensfreiheit wirklich unmittelbare Aussage der eigenen Erfahrung, so wäre dieses Erscheinung unmöglich gewesen.”
Das Gefühl der Freiheit haben wir – sofern überhaupt – nur bei uns selber, dagegen kaum im Erlebnis anderer Menschen. Dort erwarten und erfahren wir in der Regel Folgerich-tigkeit des Handelns; sonst könnten und würden wir keine Ehen schließen und Familien gründen, Freundschaften stiften und Geschäfte treiben, kurz, jede Menschenbeurteilung wäre sinnlos. Sie beruht nämlich darauf, daß Charaktere sich nicht chamäleonsartig ändern.
Das Freiheitsgefühl ist eine optische Täuschung. Freiheit besteht im Anderskönnen, aber die Wahl der Möglichkeiten gibt es nur in der Phantasie, die übrigens von Mensch zu Mensch wechselt. In abstracto gibt es stets zwei oder mehrere Wege. Der Mensch schwankt auch in aller Regel, sofern er überhaupt Zeit zum Denken hat und nicht von Affekten überrollt wird. Er will beispielsweise die vorgeschriebene Pflicht erfüllen, aber auch auf seine Lust, sein Vergnügen nicht verzichten. Auch dieses Spiel der Überle-gungen ist nur ein Wollen in der Phantasie. Der Mensch will und tut aber immer nur das Eine; die Entscheidung wird durch das stärkste Motiv bestimmt. Welches Motiv sich aber als das stärkste er-weist, ergibt sich vor allem aus den unbewussten Strebungen und Neigungen. Über die unbewussten Tendenzen ist der Mensch aber keinesfalls Herr. Das Freiheitsgefühl, sofern vorhanden, kommt aus dem Intellekt, dem Bewussten, der Wille aber wurzelt in weiteren und nicht minder entscheidenden Bereichen des Seelischen.
Ein Jahrtausend lang ist der Indeterminismus empirisch allein mit dem Freiheitsgefühl zu beweisen versucht worden, obwohl die Wissenschaft längst, mindestens seit-dem Galilei sein „Und sie bewegt sich doch” gesprochen hat, den Nachweis der Unzuverlässigkeit unserer Sinne geführt und die Irrtümer und Relativitäten unserer Erfahrungen festgestellt hat. Neuerdings berufen sich einige Metaphysiker darauf, daß im Bereich des mikrophy-sikalischen Geschehens befriedigende statistische Gesetzmäßigkeiten (Kausalitäten) noch nicht festgestellt wurden, gerade als ob es nicht millionenfach Geschehnisse gäbe, die nicht vorausberechnet werden können, ohne daß wir deswegen Anlaß hätten, die Vorstellung einer statistischen Regelmäßigkeit preiszugeben. Wir wissen nicht, wann der Einzelmensch stirbt, zweifeln aber wohl kaum, daß der Tod determiniert ist. Die Metaphysiker machen aus der – teilweise vorläufigen – Not und Unzulänglichkeit gegenwärtiger Wissenschaft vorschnell die Tugend ihres Mystizismus. Die bedeutendsten Physiker unserer Zeit, etwa Einstein und Oppenheimer, sind von diesen Irrtümern ausdrücklich abgerückt. In Wahrheit sind viele nur deshalb Anhänger der Willensfreiheit, weil sie sich ohne Freiheit zum Tiere erniedrigt glauben. „Das Freiheitsgefühl”, meint Eduard von Hartmann, „schmeichelt dem Selbstgefühl”. Er spricht vom „Dünkel der Menschenwürde”. Einen wissenschaftlichen Beweiswert hat die Berufung auf die Menschenwürde nicht. Menschenwürde ist auch ohne Willensfreiheit denkbar. Geisteskranke und Kinder haben sie auch. Auch der Respekt vor dem Tier, Tierliebe und Tierschutz sind von metaphysischen Überlegungen unabhängig.
Als Hauptgrund für den Indeterminismus wird angeführt, dass mit der Willensunfreiheit das Recht seinen Boden verliere. Thomas von Aquino (und viele folgen in seinem Kielwasser) begnügte sich denn auch mit der Feststellung, daß der, der „das Notwendige” – die Kausalität, die Determiniertheit der Verhältnisse – zum inneren Grund des Lebens mache, Ketzer sei und eine der Philosophie fremde Meinung vertrete. Determinismus widerspreche nicht nur dem Glauben, sondern mache alle Prinzipien einer sittlichen Philosophie zunichte. Überlegung und Ermahnung, Gebot und Strafe, Lob und Tadel werde unmöglich. Damit wird die Willensfreiheit als Grundlage von Moral und Recht gefordert, aber ersichtlich noch nicht bewiesen. Ein Postulat ist noch keine Wirklichkeit. Sollen und Sein sind nicht dasselbe. Im übrigen kommt mit der Negierung einer Willensfreiheit nur der Vergeltungscharakter eines Strafrechts in Fortfall. Es wäre sehr schlimm, wenn das Recht ohne Vergeltungsgedanken seinen Sinn, seine Existenzmöglichkeit verlöre, wenn Gerechtigkeit und Rache, gerecht und gerächt stammverwandt wären.
Der Wille ist in Wahrheit kein selbständiger, freischwebender Faktor menschlichen Seelenlebens, der imstande sein könnte, die Konstante der Person (z. B. ihren Charakter und ihr Tempera-ment), ihre Triebe, Affekte und Neurosen, ihr Körperliches, den Nachhall aller Erlebnisse, die Reize des Augenblicks und die bewußten und vor allem unbewussten Motivationen zu überspielen. Der Wille ist eingebettet in die Gesamtper-sönlichkeit, es gibt nur eine Psyche, nicht trennbare Teile psychischen Lebens. Das Phlegma, häufig noch verkörpert in Korpulenz, kann nicht durch Willensentscheidung zu einem cholerischen oder sanguinischen Temperament werden; der Willensschwache kann nicht durch Willensanstrengung willensstark werden, sowenig wie Münchhausen sich am eigenen Zopf aus dem Sumpfe retten kann. Das Paria-gefühl eines Outsiders, etwa eines Negers oder eines unehelichen Kindes, sein Ressentiment, sein Lebens- und Menschenhaß kann nicht durch eine Willensentscheidung ausradiert werden, sowenig wie ein Mensch sich Liebe und Nestwärme, die er persönlich nie erfahren hat, durch bloßen Willensakt injizieren kann.
All dies ist dem Kriminologen seit langem geläufig, wenngleich wir vorerst nur beschei-dene Ausschnitte der psychologischen und sozialen Bedingtheiten kennen. „Ob sich der Täter im Augenblick der Tat hätte anders entscheiden können, das läßt sich im empiri-schen Bereich nicht klären. Ob es einem Sittlichkeitsverbrecher noch möglich gewesen wäre, seine Triebe zu beherrschen, ob ein Jähzorniger oder ein von Eifersucht Gepackter imstande gewesen wäre, seiner Wallung Herr zu werden, ob ein verführbarer Schwächling Einflüsterungen hätte widerstehen können, das kann kein Richter entscheiden.“ So Nowakowski in seinem bedeutungsvollen Aufsatz „Freiheit, Schuld, Vergeltung” (in Rittler-Festschrift 1957). Zu gleichen Resultaten kommt Nass in „Der Mensch und die Kriminalität. Die Strukturgesetze der Täterpersönlichkeit” (Köln-Berlin 1959). Er stützt sich wie alle Anthropologen auf die Erfahrung, nicht auf ein wissenschaftliches Dogma oder auf Meditation. Wo der Laie, wie er schreibt, verabscheuungswürdige Unholde sieht und Haß- und Rachegefühle als Residuen von Gruppenemotionen früherer Entwicklungs-stufen sich manifestieren, kann der Wissenschaftler Determinanten aufzeichnen und durch eine Lehre von Menschen, die sich von den Residualvorstellungen eines veralteten Men-schenbildes befreit, zu einer Entmythologisierung des Strafrechts beitragen.
Kohlrausch hat einmal bemerkt: „Ich kann mich mit der Bemerkung begnügen, daß für mein Denkvermögen ein Mensch, der unter eindeutig gegebenen äußeren und inneren Umständen genau so gut so wie anders handeln könnte, nicht ins Zuchthaus, auch nicht in eine Irrenanstalt, sondern in einen Glaskasten gehört, auf daß ihn jeder anstaune als die abnormste und ‚unbegreiflichste Bildung,.
die ein Menschenauge bisher geschaut hat. Er hat die Willensfreiheit aber für eine staatspolitisch notwendige Fiktion erklärt. Dies ist ein Irrtum, weil ein Staat und ein Recht auch ohne Annahme der Willensfreiheit existieren kann, wie mir dünkt, sogar ein besserer Staat und ein besseres Recht. Keinesfalls darf ein Determinist wie Kohlrausch das Recht auf eine Unwahrheit stützen, wenn nicht Recht und Rechtspflege ihre Glaubwürdigkeit verlieren sollen. Die Folge solcher Fiktionen ist denn auch das „notorisch schlechte Gewissen” der Strafjuristen, von dem zuerst Gustav Radbruch sprach.
Der Protestantismus, beispielsweise Calvin und Zwingli, kennen keine Willensfreiheit. Und Luther sagte: „Wir wissen noch nicht recht, was wir nach dem Fall unser ersten Älteren worden sind und von Mutter Leibe mit uns bracht haben; nämlich ein gar verrückte, verderbte und vergifte Natur an Leib und Seel und an allen ihren Kräften. Da ist nichts Guts an, wie die Schrift sagt. Und ist das mein endliche Meinung, wie in allen meinen Schriften zu sehen ist, sonderlich wider Erasmum Roterodamum, den fuhrnehmsten unter allen Gelehrten einen in der Welt: Wer des Menschen freien Willen verteidigen will, daß er etwas in geistlichen Dingen vermöge und mit wirken könne, auch im geringsten, der hat Christum verläugnet. Dabei bleib ich und weiß, daß es die gewisse Wahrheit ist.” Oder: „Die Gebot lehren, was man tun soll, aber kein Stärk dazu. Darum sein sie nur dazu geordnet, dass._ der Mensch darinnen sehe sein Unvermögen und lerne an ihm selbst verzweifeln.”
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Es dürfte eine Tatsache sein, daß Schuldgefühle häufiger gegenüber dem Seelsorger oder beim Nervenarzt geäußert werden als im Gefängnis etwa in der Sprechstunde des Fürsorgers. Schuldgefühle werden auch in der Literatur – zumal neuerdings – in theologischer und psychotherapeutischer Sicht vielfach behandelt; eine juristische Literatur hierzu gibt es meines Wissens nicht. Wohl-gemerkt: In der juristischen Literatur in Deutschland wird viel von Schuld geredet; Schuldgefühle werden dem Täter bestenfalls unterstellt, Art und Ausmaß ist aber noch nie empirisch nachgeprüft worden. Auch hier zeigt sich der Grundfehler der gesamten Strafrechts-konzeption. Man operiert mit einem abstrakten Modell vom Menschen, und die Folge ist, daß man den wirklichen Menschen verfehlt. Auch das hat schon Schiller gewußt. „Die gekünstelte Existenz in einer Welt der idealischen Begriffe könnte unsere Existenz in der wirklichen Welt untergraben.”
Ein hessischer Referendar hat in einer größeren Strafanstalt das Problem durch Frage-bogen, Interviews und in Arbeitsgemein-schaften zu klären versucht. Er hat einen Ausschnitt von 100 Gefangenen gewählt. Er ist statistisch nicht schlechthin repräsentativ, weil die ausgewählten. Gefangenen zu artikulieren verstanden. Ich glaube aber,. dass das Ergebnis trotz allem einen gewissen Anspruch auf Typizität erheben kann.
Die Frage nach dem staatlichen Recht zu strafen wurde praktisch fast ausnahmslos formal mit der Existenz von. Gesetzen beantwortet. Nur 3 Gefangene sprachen von einer Schuld des Täters. In der Diskussion einer Gruppe, in der wahrscheinlich Sittlichkeitsdelinquen-ten stark vertreten waren, wurde, ich zitiere wörtlich, „der Gedanke: der Schuld überhaupt nicht erwähnt. Im extremsten Falle wurde dem Gericht jegliche Strafbefugnis abgesproch-en; jeder Täter sei gewissermaßen ein Kranker, den es zu heilen, aber nicht zu strafen gelte. Soweit eine Strafbefugnis bejaht wurde, wurde sie auch hier mit dem Vorhanden-sein der Strafgesetze und dem Ordnungsprinzip begründet.” In der dritten – also obersten -.Stufe von jungen Tätern über 21 Jahren „wurde zu-nächst die Gesellschaft und der Schutz des Staates angeführt. Vorsichtige Anspielungen auf ethische Gründe des. Strafens stießen auf Verständnislosigkeit. Ein Sühnegedanke wurde nur sehr widerwillig diskutiert, Sühne‘ als Berechtigung des. Strafens wurde abgelehnt; denn sie sei doch nichts anderes als Räche und entstamme dem, perversen Trieb des Menschen, anderen Schaden zuzufügen“.
Hierzu sei bemerkt, dass der Referendar seine eigene Auffassung wie folgt wiedergibt: „Ohne den Sühne-Gedanken als beherrschendes Element verliert jedes Strafen seinen Sinn. Weil ich von dieser Vorstellung vom. Sinn des Strafens ausging, war es für mich ziemlich erschütternd, dass nahezu keiner der Gefangenen von sich. aus ähnliche Gedanken geäußert hat.”
In „Menschliches, Allzu menschliches” hat Nietzsche „zur Beurteilung der Verbrecher” einiges hierzu bemerkt. „Der Verbrecher, der den ganzen Fluß der Umstände kennt, findet seine Tat nicht so außer der Ordnung und Begreiflichkeit wie seine Richter und Tadler. Wenn die Kenntnis, welche der Verteidiger eines Verbrechens von.dem Fall und seiner Vorgeschichte hat, weit genug reicht, so müssen die sogenannten Milderungsgründe, welche er der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern. Oder noch deutlicher: Der Verteidiger wird schrittweise jenes verurteilende und strafzumessende Er-staunen mildern und zuletzt ganz aufheben, indem er jeden ehrlichen Zuhörer zu dem inneren Eingeständnis nötigt, er mußte so handeln, wie er gehandelt hat; wir würden, wenn wir strafen, die ewige Notwendigkeit bestrafen.“ In einer nachgelassenen Stelle heißt es ähnlich: „Geht man auf die Genesis der Schuld ein, so mildert man allmählich die Schuld weg, und dann dürfte es gar keine Strafe geben.” Nietzsche spricht hier vom Verteidiger; der Angeklagte und Verurteilte ist, wenn er auch nach außen in der Regel nicht die Beredsamkeit eines Verteidigers besitzt, nach innen stets sein bester Verteidiger.
Das fast regelmäßige Fehlen eines Schuldgefühls beim Verurteilten ist nur die Kehrseite der Problematik des Gewissens und der Willensfreiheit, wie sie vorher angedeutet wurde. Das beste Beispiel für die Schuldentlastung und gewisse menschliche Mechanismen bietet unsere sogenannte „unbewältigte Vergangenheit”, das Leben, das Tun und Unterlassen im nazistischen Unrechtsstaat. Menschen verdrängen die unangenehmen Erinnerungen. Sie finden einen Sündenbock, sie projizieren die Ursache, die „Schuld” auf andere Personen oder äußere Umstände. Das Handeln wird weltanschaulich unterbaut, womit jedes auch noch so verbrecherische Verhalten eine positive Wertung erfahren kann und „aus bester und ehrlicher Oberzeugung”, „im Dienst der Sache” und „im Bewußtsein der Verantwortung” geschieht. An Weltanschauungen, zumal solchen, die der offenen und latenten Aggressivität des Menschen Raum geben, hat es bekanntlich noch nie gefehlt. Man braucht nur an die Idealisierung des Kampfes aller gegen alle zu erinnern, an das „survival of the fittest” oder an die Alternative eines deutschen Staatsrechtslehrers: Freund-Feind.
Um jeden Zweifel auszuschließen, sei noch bemerkt, daß Strafangst nicht identisch mit Schuldgefühlen ist. Auch wer sich im Rechte oder schuldlos fühlt, z. B. der Überzeu-gungstäter, dessen Gewissen aufsteht und entscheidet, das Kind, das von bösen oder pädagogisch unzulänglichen Eltern geprügelt zu werden pflegt, der Kleptomane oder Pyromane hat eine oft intensive Strafangst, doch kaum Gewissensbisse.
Das Tiefste, was in der neueren Literatur über Schuld und Strafe geschrieben wurde, findet sich wohl bei Franz Kafka, vor allem im „Prozeß” und in der dem „Prozeß” verwandten nachgelassenen Skizze „Der Schlag ans Hoftor”.
Stark verkürzt lautet sie: „Ich kam auf dem Nachhauseweg mit meiner Schwester an einem Hoftor vorüber. Ich weiß nicht, schlug sie aus Mutwillen ans Tor oder drohte sie nur mit der Faust und schlug gar nicht. Gleich nach dem ersten Haus kamen Leute hervor, gebückt vor Schrecken und erinnerten uns an den Schlag ans Tor. Später sagten sie,, nicht nur meine Schwester, auch ich als Bruder werde angeklagt werden. Und wirklich, bald
sahen wir Reiter ins weite offene Tor einreiten. Es waren hauptsächlich zwei Herren, der Richter und sein stiller Gehilfe. Ich wurde aufgefordert, in die Bauernstube einzutreten. Die Stube sah einer Gefängniszelle ähnlicher als einer Bauernstube. Könnte ich noch andere Luft schmecken als die des Gefängnisses? Das ist die große Frage, oder vielmehr, sie wäre es, wenn ich noch Aussicht auf Entlassung hätte.”
Franz Kafka ist Metaphysiker; eine realistisch-surrealistische Deutung seines Werks ist kaum begründet. Aber das Zwielicht seiner Darstellung läßt, wie manche seiner Interpreten zeigen, zu, , seine Geschichten auch vordergründig-weltlich zu verstehen. Dann können wir im „Prozess“-Roman und in der wiedergegebenen Skizze den Tatbestand eines Schuldvorwurfs, einer Anklage und einer Strafe finden, denen eine menschlich greifbare Schuld oder ein Schuldgefühl des Täters nicht entspräche.
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Es bleibt die Frage, ob ein Schuld- und damit ein Vergeltungsstrafrecht (oder ein Vergeltungsstrafrecht und damit ein Schuldrecht) mit der Wertaxiomatik unseres Grundgesetzes vereinbar ist.
Das wird zunächst unter Hinweis auf den rechtsstaatlichen Charakter unserer Gesellschaft behauptet. Das Grundgesetz kennt aber nicht den liberalen Rechtsstaat der Aufklärungs-zeit, sondern spricht im Artikel 20 von einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Wilhelm v. Humboldts politische Gedanken kreisten, wobei wir weitgehend Menger („Der Begriff des sozialen Rechtsstaates im Bonner Grundgesetz”) folgen können, noch um die zentrale Vorstellung, die Freiheit der menschlichen Persönlichkeit vor Eingriffen des Staates zu schützen. Aus dieser Einstellung heraus bekämpfte er die bis dahin herr-schende Anschauung, der Staat habe das Glück seiner Untertanen durch positive Maßnahmen zu fördern. Lorenz vom Stein erkannte als erster die Dialektik zwischen staatsbürgerlicher Gleichheit und gesellschaftlicher und psychophysischer Ungleichheit. Hieraus leitete er den sozialen Auftrag des Staates her. Er verband den Rechtsstaat mit den „Prinzip der sozialen Verwaltung“. Die Entwicklung hat ihm Recht gegeben, und das Grundgesetz statuierte einen materiellen – den demokratischen und sozialen – Rechtsstaat, dem auch ein demokratisches und soziales Strafrecht entsprechen muß. Das Vergeltungs-prinzip kantianischer und hegelianischer Provenienz, wie es weitgehend unser strafrechtliches Denken beherrscht, ist einem autoritären Staat eigen. Kant und Hegel können ihre preußische Herkunft nicht verleugnen. Die Bundesrepublik wird aber nicht mehr vom Großen Kurfürsten und seinen Nachfolgern regiert. Die Menschen des Grundgesetzes sind nicht mehr um des Staates und seiner Gesetze willen da, sondern Staat und Gesetz um des Menschen willen. Mit dem absoluten Staat sind auch die absoluten Strafrechtstheorien gefallen; mit dem Instrumentalcharakter von Staat und Gesetz hat auch das Strafgesetz eine dienende Aufgabe; es er-fährt seine Rechtfertigung durch seinen kriminalpolitischen Zweck, wie es die relativen Theorien seit eh und je behauptet haben. Ein demokratisches Strafrecht beruht nicht auf einem Oben und Unten, auf der Repress-ion, sondern auf der Gleichheit und Solidarität aller Staatsbürger und zielt auf „Sozialisierung” („socialising“) oder „Resozialisierung” des Täters aus dem Geist mit-bürgerlicher und mit-menschlicher Verantwortung.
Die Vertreter des Schuld- und Vergeltungsgedankens verweisen auf Artikel 1 des Grundgesetzes, wonach die Würde des Menschen unantastbar, zu achten und zu schützen sei. Sie füllen den Artikel mit kantianischem Geist oder, sofern ihnen selbst Kant noch eines aufklärerischen Modernismus verdächtig ist, mit dem Geist mittelalterlicher Scholastik. Metaphysik ist jedoch Privatsache, und jeder mag sich wie seinen Lieblings-dichter so seinen Lieblingsmetaphysiker wählen, Kant, Schopenhauer, Heidegger usw.,
je nach Bedarf. Mit dem Grundgesetz hat dies nur insoweit etwas zu tun, als es dem Einzelnen die Freiheit des Glaubens wie etwa die Freiheit der Kunst und des Kunst-genusses gewährleistet. Das Grundgesetz selbst ist nicht im Geiste des einen oder anderen Philosophen konzipiert, und gewiss sollte es kein Ebenbild der Kritik der praktischen Vernunft Kants sein. Der Mensch des Grundgesetzes ist der reale und kreatürliche, nicht ein irrealer und genormter Mensch. Schiller hat in seinem Zweizeiler über die „Würde des Menschen” schon seinen Spott über die Philosophen ausgeschüttet:
„Nichts mehr davon, ich bitt‘ Euch! Zu essen gebt ihm, zu wohnen;
Habt Ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.”
Auch hier finden wir seine Unterscheidung einer „gekünstelten Existenz in einer Welt der idealischen Begriffe” und „unserer Existenz in der wirklichen Welt”, die durch die „gekünstelte” untergraben wird. „Den Menschen” – er meint den wirklichen Menschen -lassen wir liegen.“
Der Parlamentarische Rat, jedenfalls seine Mehrheit, hat sicher nicht an die erden fernen Begriff-Modelle der Kirchenväter oder die von Psychologie und Soziologie, Biologie und Anthropologie unberührte Metaphysik deutscher Philosophen gedacht, sondern gerade an den Menschen in seiner Not, in seiner Blöße und Schwäche, an den Geisteskranken und den Outsider, die im nazistischen Unrechtstaat menschenunwürdig behandelt wurden und die – im Gegensatz zu den respektablen Idealtypen einer bewußt unrealistischen Philosophie – immer diese Gefahr laufen werden.
Vom realen Menschen hat sogar Kant das Entscheidende gewusst. „Die eigentliche Moralität der Handlung (Verdienst und Schuld) bleibt uns gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wieviel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wieviel der bloßen Natur oder dem unverschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher Beschaffenheit zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen.” So mehrfach in der „Kritik der reinen Vernunft”. Dem „intelligiblen Menschen” seiner ethischen Metaphysik hat er aber eine bergeversetzende Willens-kraft zugeschrieben und alles Tun und Lassen moralisierend zugerechnet. „Auf theoretischem Feld”, läßt der skeptische Schiller den Kantianer sagen, „ist weiter nichts mehr zu finden; aber der praktische Satz gilt doch: Du kannst, denn Du sollst.” Und er läßt den „Lehrling” mit einer nicht geringen Bosheit erwidern: „Dacht‘ ich’s doch! Wissen sie nichts Vernünftiges mehr zu er-widern, schieben sie’s einem geschwind in das Gewissen hinein.”
Dieses „Nicht-vernünftige” wird in einem Schuld- und Vergeltungsstrafrecht Ereignis. Die Maxime „Du kannst, denn Du sollst” liegt unserer Rechtssprechung und dem Strafgesetz-buchentwurf eingestandenermaßen zu Grund; nach dieser Maxime behandeln wir z. B. Psychopathen und Neurotiker, die sicher einen großen, wenn nicht den größten Teil unserer Klientel ausmachen. „Wörtlich genommen”, heißt es in dem bereits genannten Aufsatz des österreichischen Strafrechtlers Nowakowski, „ist die Maxime ein Nonsens. Sie ist nicht nur irrational, sondern schlechthin vernunftwidrig.” Er fährt fort: „Man kann sehr wohl der Meinung sein, daß etwas Unerfüllbares zu befehlen unvernünftig und die Nichterfüllung eines Befehls, den der Befehlsempfänger gar nicht erfüllen konnte, durch Zufügung eines Leids zu vergelten ungerecht sei.” Das ist hier das Entscheidende. Ein Strafrecht, das auf dem Primat des Sollens vor dem Können beruht, ist nicht nur autoritär, sondern kann eine menschennwürdige Behandlung des Täters zum Inhalt haben und deswegen sogar grundgesetzwidrig sein.
Die herrschende Meinung der deutschen Strafrechtslehre hält die Maxime „Du kannst, denn Du sollst” für „tiefstes Ethos”. Sicher war es auch das „Ethos” eines. gewissen Freisler. Ich zitiere:
„Für eine heroische Stellungnahme zum Leben, seine Aufgabe und Erscheinung, wie sie dem Nationalsozialismus eigen ist, gibt es eine Frage der Willensfreiheit nicht. Er hört nicht den, der da sagt: Ich kann nicht anders. Er ruft in jeder Lage des Lebens: Ich soll, ich will, ich kann! Schuld heischt Sühne! Dieser Ruf nach Sühne ist für uns Deutsche so alt, wie unser Volk alt ist. Er ist deshalb nicht ein atavistisches Überbleibsel, sondern er ist eine lebendige Kraft; denn er wird auch in Zukunft solange ertönen, solange es ein deutsches Volk gibt. Man mag das verstandesmäßig nicht begründen können, man braucht es nicht philosophisch zu begründen, denn das Verlangen nach Sühne lebt in uns, und das genügt! Schuld und Sühne, schrieb der Dichter eines anderen arischen Brudervolkes (sic!), Schuld und Sühne ist die Verkettung, aus der es für unser sittliches Empfinden. keine Lösung gibt.
Paradoxerweise sind die Strafrechtskommission und das. Bundesjustizministerium bis jetzt nicht müde geworden, ihr normatives Menschenbild als die neue Position des. Menschen in einer neuen Zeit, als das Menschenbild nach 1945 anzupreisen. Die Worte Freislers fanden sich in der Begründung des Entwurfs eines nazistischen Strafrechts. Offenbar kann man – Heraklit zum Trotze – doch, zweimal in den gleichen Fluß steigen.
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Es sind nicht nur die Biologen, Psychologen, Soziologen, Anthropologen usw., die ein Schuldvergeltungsrecht als unwissenschaftlich ablehnen und — um Radbruchs Worte zu verwenden – ein Besserungs- und- Bewahrungsrecht anstreben, das besser als Strafrecht, das sowohl klüger als das Strafrecht wäre.
Nietzsche hat sich ebenfalls – ich zitiere ihn – um „ein neues menschliches Strafrecht” bemüht. In „Menschliches, All zu menschliches” lesen wir: „Zürnen und Strafen hat seine Zeit. Zürnen und Strafen ist unser Angebinde von der Tierheit her. Der Mensch wird erst mündig, wenn er dies Wiegengeschenk den Tieren zurück gibt. Hier liegt einer der größten Gedanken vergraben, welche Menschen haben können, der Gedanke an einen Fortschritt aller Fortschritte.” Nietzsche meint den Rache- und Vergeltungstrieb, den wir als Erbe unserer Tierheit noch in uns tragen. Ein Schuldvergeltungsrecht ist ihm nicht Achtung und Schutz der Menschenwürde, sondern Angebinde von der Tierheit her. Dem einen sien Uhl is dem anneren sien Nachtigall! Schopenhauer meinte bei Behandlung der Strafe dasselbe. „Alle Vergeltung des Unrechts durch Zufügung eines Schmerzes ist Rache. Solches ist Bosheit und Grausamkeit und ethisch nicht zu rechtfertigen” („Die Welt als Wille und Vorstellung“).
Wichtiger als all dies ist die biblische Haltung. „Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet!” Die Berg-predigt verbietet nicht ein Urteil über die Frage, wer Täter war, nicht die Festsetzung eines Schadenersatzes (das ist die Wiedergutmachung durch den Täter), nicht die Sozialisierung oder Resozialisierung des Täters (das ist die Wiedergutmachung durch die Gesellschaft im Sinne eines Vergeltens des Bösen durch Gutes); sie verbietet auch nicht den Schutz der Gesellschaft. Das Bibelwort verbietet aber das „liebelose Richten”, die Vergeltung ;als Zufügung eines Übels um des ausgleichenden Übels willen. Der Staat und seine Richter haben nicht die Funktion eines säkularisierten Jüngsten Gerichts; das wäre Hybris und eine Überforderung von uns kleinen Menschen. Thomas von Aquino, auf den sich die Repräsentanten einer Willensfreiheit und Schuld des Menschen oft gerne berufen, hat hierzu in seiner „Summa” ‚bemerkt: „Die Vergeltung ist dem göttlichen Urteil vor-behalten. Die Strafen unseres gegenwärtigen Lebens wer-den nicht um ihrer selbst willen gefordert; in diesem Leben fällt nicht die Entscheidung der Vergeltung. Die Strafen in diesem Leben – Thomas von Aquino gibt ihnen den Namen „poenae medicinales” – rechtfertigen sich unter dem Gesichtspunkt einer Besserung des Täters und des öffentlichen Wohls.” Damit ist ein System von Maßnahmen pädagogisch-strafender, bessernder oder sichernder Art angestrebt, Resozialisierung des Täters und Schutz der Gesellschaft, wie sie dem Gegner eines Schuldvergeltungsrechts heute vorschweben. Augustinus, der Verfasser des „Gottesstaates”, hat sich in einem Brief an Marcellinus für die Erhaltung des Lebens der Mörder eines Priesters mit den Worten eingesetzt: „So wollen wir doch nicht, daß für die Leiden der Diener Gottes gleichsam nach dem Vergeltungsrecht durch Verhängung der gleichen Pein Rache genommen werde. Größer ist die Notwendigkeit der gerichtlichen Untersuchung als die Bestrafung.” In einem Brief an Apringius lesen wir: „Bekämpfe durch die Güte das Böse. Bewirke, dass die Menschen, die abscheuliche Verbrechen verübten, unverletzt bleiben und irgendeinem nützlichen Werke dienst-bar werden. Verlängere den lebenden Feinden der Kirche die Frist zur Buße!” Das ist die abendländische Ethik, die uns aufgegeben ist und in deren Geist das Grundgesetz unseres demokratischen und sozialen Rechtsstaates geschaffen wurde.
Einzelheiten eines Rechts, das auf Schuldvergeltung verzichtet, seien angedeutet.
1.Auch das Schutzrecht eines demokratischen und sozialen Staates wird eine Magna Charta des Verbrechens sein und genau umschriebene Tatbestände kennen. Franz von Liszt hat den Schuldbegriff und ein Vergeltungsrecht von seinem Standpunkt aus als eine Verirrung des Verstandes und eine Versündigung des Herzens abgelehnt, aber gerade er hat das Wort von der Magna Charta des Verbrechens formuliert.
2.Die Folgen der Rechtsverletzung werden, wie es in dem internationalen Gedanken der sozialen Verteidigung bewusst zum Ausdruck gebracht wird, der in den Taten manifesten Gefährlichkeit proportional sein. Sie müssen, wie es im Notwehrbegriff enthalten ist, notwendig sein. Das von Gegnern einer sozialen Verteidigung immer wieder ins Feld geführte Risiko richterlicher Exzesse besteht nach der Konzeption des Rechts einer sozialen Verteidigung nicht. Das Risiko wird durch eine kriminologische Schulung der Richter und ihre innere Verpflichtung gegenüber den Grundwerten des Grundgesetzes – ihre Pflicht zu menschenwürdiger Behandlung aller – gebannt.
3. Gesetz, Prozess und Vollzug dienen wie seither der Bestätigung des jeweils geltenden Normensystems, seiner Konformierung, und streben – sofern möglich – die Anpassung des Rechtsbrechers an die herrschenden Wertvorstellungen – seine Konformierung – an.
4. Die seitherige Beunruhigung über das Recht, andere zu verurteilen, wird geringer oder mag verschwinden, weil in einem Recht der sozialen Verteidigung die richterliche Tätigkeit nicht im Namen der ethischen Idee selber geschieht, vor der keiner bestehen kann, sondern aus den einfachen und zwingenden Notwendigkeiten menschlichen Zusammenlebens.
5. Die staatlichen Veranstaltungen der Konformierung sind einspurig. Die seither übliche, schon oft theoretisch schwierige, immer aber praktisch undurchführbare Scheidung von Strafen und sichernden und bessernden Maß-nahmen fällt weg. Damit wird die Rechtspflege des seitherigen leidigen Etikettenschwindels ledig.
6. Zwischen Unzurechnungsfähigen, vermindert Zurechnungsfähigen und Zurechnungsfähigen wird – wie seit-her schon bei den sichernden und bessernden Veranstaltungen – nicht mehr unterschieden. Damit entfällt die – ausnahmslos von allen Psychiatern eingeräumte – Schwierigkeit, die von § 51 und ähnlichen Bestimmungen
aufgeworfene Fragen psychologischen Inhalts mit rationalen Gründen zu beantworten. Ein solches Recht wird wissenschaftlich einwandfrei sein.
Es steht im Einklang mit den Erfahrungswissenschaften und der Axiomatik unseres Grundgesetzes. Es sieht in jedem Menschen eine Spielart von Natur und Geschichte oder – mit einer Paraphrase des bekannten Rankeworts – einen „Gedanken Gottes”, ein Wesen „unmittelbar zu Gott”. Dieses neue Recht weiß um die Unveränderlichkeit der Anlage des Menschen, aber auch um die Veränderlichkeit seiner Umwelt. Seine Mitwelt, seine Mitmenschen sind stets imstande, sein Verhalten zu ändern. Wenn das Tun und Lassen des Menschen ein Produkt von Anlage und Umwelt (A mal U) ist, dann können wir Mitmenschen – wir sind das U der Multiplikation – mitmenschliche Geschichte machen. Ein sittlicher Schuldvorwurf kostet nichts als einen Affekt. Mit-menschliche Hilfe ist mehr. Nötig ist Wissen um den anderen, Verantwortung für den anderen, Sorge und Fürsorge für den anderen. Wir sollen unseres Bruders Hüter sein.
Dies scheint mir die Aufgabe eines demokratischen und sozialen und menschenwürdigen Rechts zu sein. Das wäre die Menschenliebe, von der die Religionen sprechen. Sie weiß, daß die Menschen oft nicht wissen, was rechts und was links ist, was Recht und was Unrecht ist. Sie weiß, daß alle Menschen das Gute wollen und trotzdem verfehlen; der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach. Die Liebe vergilt aber nicht, sondern sie hilft.
Ein biblisches Beispiel bilde den Abschluß. Ich denke an die Geschichte des Propheten Jona.
Gott forderte Jona auf, nach Ninive zu gehen, in dem die Bosheit herrschte; er sollte die Bewohner zur Umkehr bewegen. Jona weicht seiner Mission aus. Er will nicht; er fürchtet, die Bewohner könnten sich bessern und Gott könne deswegen auf Vergeltung und Strafe verzichten. Er ist ein orthodoxer Anhänger vergelten-der Gerechtigkeit. Das Verbrechen ist ihm eine Negation des Rechts, und die Strafe muß sein als Negation der Negation. Wenn der Ausgleich nicht erfolgt, lohnt es sich nicht, wie später Kant gesagt hat, auf Erden zu leben. Jona flieht, ein Sturm bricht los, und er findet sich im Bauche eines Walfisches wieder. Gott straft ihn nicht, er rettet ihn. Auf Befehl des Herrn predigt er jetzt den Menschen in Ninive. Was er die ganze Zeit über gefürchtet hat,. tritt ein. Die Bewohner lassen von ihrem bösen Wandel, und Gott zerstört ihre Stadt nicht. Das mißfiel Jona, denn er ist nun einmal Anhänger von Schuld und Sühne.. Es verdroß ihn sehr, wie es in der Bibel mehrfach heißt_ Er wartete vor den Toren der Stadt, was aus ihr würde. Aber es geschah ihr nichts. Gott ließ dagegen Jona über Naht einen Baum wachsen, der ihm Schatten gab. Doch der Baum verdorrte schnell. Auch das verdroß Jona, den kleinen Propheten. Gott antwortete ihm: „Dich jammert. des Baumes. Du hast ihn nicht wachsen lassen. Und mich sollte nicht jammern Ninive, die große Stadt, in der mehr sind denn 120 000 Menschen, die nicht wissen, was. rechts und links ist, und dazu viele Tiere?”