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Das geplante verfas­sungs­än­dernde Notstands­ge­setz

Aus: vorgänge Heft 11/1963, S.337-340

Die Bundesregierung hat am 31. Oktober 1962 zusammen mit anderen Gesetzen für den Notstandsfall den „Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes” (Bundesratsdrucksache 345/62, Bundestagsdrucksache IV/ 891) beschlossen. Dieses Gesetz würde die Struktur unserer Verfassung grundlegend ändern. Es wurde am 28. November 1962 vom Bundesrat und am 23. Januar 1963 vom Bundestag beraten. Nach dem Kanzlerwechsel wird in den kommenden Wochen und Monaten die Entscheidung darüber fallen, ob die Bundesregierung ihren Plan durchsetzen kann, in dieser Legislaturperiode eine Notstandsgesetzgebung zu verabschieden.

In dieser Lage darf die Diskussion des verfassungsändernden Notstandsgesetzes nicht allein den Abgeordneten des Deutschen Bundestages überlassen bleiben. Der vorliegende Beitrag versucht, über die wichtigsten Bestimmungen dieses Gesetzes zu informieren.*)

I – Der Zustand der äußeren Gefahr

Der Entwurf Höcherls unterscheidet äußerlich zwischen dem „Zustand äußerer Gefahr” (Art. 115 a—115 h), dem „Zustand innerer Gefahr” (Art. 115 i—115 l) und dem „Katastrophenzustand« (Art. 115 m). Diese Unterscheidung ist jedoch nicht streng durchgeführt worden. Gerade beim „Zustand der inneren Gefahr” spielt die sogenannte »Einwirkung von außen” eine große Rolle. Auch der Katastrophenzustand ist nicht eindeutig auf die Naturkatastrophe und den reinen Unglücksfall beschränkt.

Der „Zustand der äußeren Gefahr” kann auf folgende Weise festgestellt werden:

1. durch einfachen Beschluß des Bundestages mit Zustimmung des Bundesrates (Art. 115 a Abs. 1);

2. durch einfachen Beschluß des Notstandsausschusses (der aus 20 Mitgliedern des Bundestages und 10 Mitgliedern des Bundesrates bestehen soll, wobei der Wahlmodus jedoch nicht verfassungsmäßig festgelegt ist), wenn „dem Zusammentritt oder der rechtzeitigen Beschlußfassung des Bundestages und des Bundesrates oder eines von ihnen unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen« (Art. 115 a Abs. 2);

*) Vgl. ferner Adolf Arndt und Michael Freund, Notstandsgesetz — aber wie?, Köln, 1962; Manfred Nemitz, Horst Dahlhaus und Helmut Simon, Notstandsrecht und Demokratie. Notwendigkeit oder Gefahr?, Stuttgart, 1963; Jürgen Seifert, Gefahr im Verzuge. Zur Problematik der Notstandsgesetzgebung, Mit einer Einleitung von Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer, Frankfurt am Main, 1963; ferner die Auseinandersetzung zwischen dem Bundesminister des Innern und Jürgen Seifert in den Gewerkschaftlichen Monatsheften, Jg. 14, Heft 9, September 1963.

3. durch Feststellung des Bundespräsidenten mit Gegenzeichnung des Bundeskanzlers, wenn „Gefahr im Verzuge” ist (Art. 115 a Abs. 3).

Außerdem tritt der „Zustand der äußeren Gefahr” nach dem Entwurf automatisch ein (und dasselbe soll für den Eintritt des „Verteidigungsfalles” gelten),

4. wenn „das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen” wird und „die zuständigen Bundesorgane außerstande” sind, sofort die Feststellung des „Zustandes der äußeren Gefahr” zu treffen (Art. 115 h).

Der „Zustand der äußeren Gefahr” wird nach dem Entwurf beendet durch Beschluß des Bundestages, der der Zustimmung des Bundesrates bedarf (Art. 115 g Abs. 1). Eine während des „Zustandes der äußeren Gefahr” endende Wahlperiode des Bundestages verlängert sich bis zum Ablauf von drei Monaten, eine während dieser Zeit endende Amtsperiode des Bundespräsidenten bis zum Ablauf von sechs Monaten nach Beendigung des „Zustandes der äußeren Gefahr”. Der Bundestag kann diese Fristen abkürzen (Art. 115 g Abs. 3).

Erläuterung:

Der Entwurf Höcherls enthält gegenüber dem früheren Schröderschen Entwurf von 1960 sogar Verschärfungen. Im ersten Entwurf konnte der Bundespräsident die Feststellung des „Ausnahmezustandes” nur dann treffen, wenn der Beschlußfassung durch den Bundestag und Bundesrat unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen. Der neue Entwurf schafft die Möglichkeit, bereits bei »Gefahr im Verzuge« die Feststellung durch Bundespräsident und Bundeskanzler zu treffen. Wie dehnbar der Begriff „Gefahr im Verzuge« ist, das hat beispielsweise die Durchführung der „Spiegel“-Aktion zur Nachtzeit gezeigt. Neu ist auch der automatische Eintritt des „Zustandes der äußeren Gefahr« beim Angriff mit Waffengewalt. Sehr problematisch ist, daß die Zusammensetzung des Notstandsausschusses in ihrer parteipolitischen Proportion nicht verfassungsrechtlich geregelt ist.

Inhaltlich setzt die Feststellung des „Zustandes der äußeren Gefahr” voraus, daß entweder das „Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird” oder daß „ein solcher Angriff droht” (Art. 115 a).

Erläuterung:

Die erste Alternative ist relativ eindeutig. Die zweite Alternative soll — wie die Bundesregierung in der Begründung feststellt — bereits dann als erfüllt angesehen werden, „wenn aufgrund nachrichtendienstlicher oder anderer geheimer Quellen, die den vorliegenden Erfahrungen nach als zuverlässig gelten können, ein bewaffneter Angriff eines fremden Staates oder einer fremden Regierung auf das Bundesgebiet als unmittelbar bevorstehend erscheint oder wenigstens ernstlich mit einem solchen Ergebnis gerechnet werden muß, auch ohne daß eine für alle Welt offenkundige internationale Spannung zu bestehen braucht« (Begründung in Bundestagsdrucksache IV/891, S. 9).

Schon die Begründung zeigt, daß der „Zustand der äußeren Gefahr« bereits aufgrund von Meldungen irgendwelcher „Geheimnisträger” festgestellt werden kann, die sich einer wirklichen Kontrolle und einer demokratischen Nachprüfung entziehen. Wenn man bedenkt, daß aufgrund solcher Meldungen bei „Gefahr im Verzuge” der Bundespräsident mit Gegenzeichnung des Bundeskanzlers den Notstand feststellen und die Bundesregierung einschneidende — den Frieden vielleicht erst wirklich gefährdende — Maßnahmen ergreifen kann, dann wird deutlich, welche Gefahren durch diese Regelung heraufbeschworen werden.

Mit dem Eintritt des „Zustandes der äußeren Gefahr” ergeben sich folgende Rechtsfolgen:

1. Der Bund kann Gesetze auch für solche Sachgebiete erlassen, die sonst zur Gesetzgebungszuständigkeit der Länder gehören (Art. 115 b Abs. 1).

2. Durch Bundesgesetz können in der Regel für die Dauer des „Zustandes der äußeren Gefahr” unter anderem

a) das Grundrecht der Meinungs- und Pressefreiheit sowie auch der Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre (Art. 5 GG),

b) das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8),

c) das Grundrecht der Vereinsfreiheit, mit Ausnahme der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 u. 2),

d) das Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11),

e) das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 2 u. 3 Satz 1), mit der Möglichkeit der Dienstverpflichtung,

f) die Rechtsgarantien des Eigentums gemäß Art. 14 und

g) die Rechtsgarantien des Grundgesetzes bei Freiheitsentziehungen (Entscheidung des Richters über Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung und Vorführung binnen 24 Stunden (gemäß Art. 104 Abs. 2 u. 3)

„über das sonst zulässige Maß hinaus eingeschränkt werden” (Art. 115b Abs. 2).

3. Die Bundesregierung kann die Polizeikräfte des Bundes und der Länder sowie Streitkräfte „im Innern für polizeiliche Aufgaben” einsetzen und einem Beauftragten unterstellen (Art. 115 b Abs. 3 a); außerdem kann die Bundesverwaltung auch den Landesbehörden Weisungen erteilen (Art. 115b Abs. 3b).

Erläuterung:

Als Veränderung gegenüber dem früheren Schröderschen Text ist lediglich die in diesem vorgesehene Einschränkung der Koalitionsfreiheit (Art. 12 Abs. 3 GG) herausgenommen worden.

Vor allem mit der Einschränkung der Grundrechte aus Artikel 5(Meinungsfreiheit) und Artikel 8 (Versammlungsfreiheit) kann entscheidend in die Rechte des Staatsbürgers eingegriffen werden. Als sinnvoll denkbar wäre ggfs. eine Beschränkung in der Erlangung und Verbreitung bestimmter Nachrichten, die im Notstand geheimgehalten werden sollen. Der Bundesrat hat auch einen entsprechenden Änderungsvorschlag gemacht. In ihrer Stellungnahme zu diesem Bundesratsvorschlag hat sich aber die Bundesregierung ausdrücklich nicht einverstanden erklärt, so daß weiterhin eine Einschränkung der gesamten Meinungs- und Pressefreiheit, aber nicht nur dieser, sondern eben auch der in Art. 5 garantierten Freiheit der Kunst und Wissenschaft, der Forschung und Lehre für den Notstandsfall beabsichtigt wird. Dafür sind eigentlich keine Gründe vorstellbar und auch die Begründung der Bundesregierung läßt solche vermissen.

In der Begründung zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit nennt die Bundesregierung die Möglichkeiten der „Verhängung allgemeiner Versammlungsverbote”, von „Betätigungsverboten” für Vereine und der Bildung von Zwangsverbänden (aa0. S. 10).

Bestehen bleibt auch die Möglichkeit der Einschränkung der Berufsfreiheit (Art. 12), wodurch die Möglichkeit zur Dienstverpflichtung von Männern und Frauen durch das bisher verfassungswidrige Zivildienstgesetz geschaffen wird. Eine Annahme dieser Bestimmung würde damit die Möglichkeit der wehrwirtschafllichen Erfassung des gesamten Volkes unter vollständiger Ausschaltung z. B. der Gewerkschaften schaffen.

Seltsamerweise soll nach dem Entwurf auch Art. 9 Abs. 2 GG eingeschränkt werden können. Er lautet: „Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.” Will die Bundesregierung etwa die Möglichkeit schaffen, für den Fall des „Zustandes der äußeren Gefahr” die Bildung von Organisationen zu fördern, die sich z. B. gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, also Kriegshetze betreiben oder zum Völkerhaß auffordern?

Auch die Möglichkeit einer Inhaftierung ohne richterliche Kontrolle binnen einer bestimmten Frist (in dem Entwurf heißt es lediglich, daß eine Frist von 7 Tagen eingehalten werden „soll”) spricht für sich selbst. Sie enthält die Gefahr, daß irgendeine Art von Konzentrationslagern möglich wird. Ebenso problematisch ist die Möglichkeit des Einsatzes von “Streitkräften im Innern für polizeiliche Aufgaben”.

Das verfassungsändernde Notstandsgesetz sieht für den „Zustand der äußeren Gefahr” u. a. ferner folgende Regelungen vor:

1. Die Gesetze, durch die Grundrechte der Verfassung eingeschränkt werden, können auch von dem erwähnten Notstandsausschuß entweder aufgrund einer Ermächtigung durch den Bundestag oder, sofern „dem Zusammentritt oder der rechtzeitigen Beschlußfassung des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen“, auch ohne solche Ermächtigung als Notgesetze erlassen werden (Art. 115 c Abs. 1).

2. Die Bundesregierung kann diese Gesetze auch als Notverordnungen erlassen, wenn „die Lage ein sofortiges Handeln erfordert”. Sie kann diese Befugnis auch anderen Behörden übertragen (Art. 115c Abs. 2). Notgesetze und -verordnungen treten nach 6 Monaten außer Kraft, wenn sie nicht verlängert werden (Art. 115 c Abs. 4).

3. Der Bundeskanzler kann die Befugnis der Bundesregierung auf einzelnen Sachgebieten einem Kabinettsausschuß übertragen, dessen Zusammensetzung er selbst bestimmt (Art. 115 d).

4. Das Recht, durch einstweilige Maßnahmen die genannten Grundrechte einzuschränken und Streitkräfte im Innern einzusetzen, steht unter anderem den Ministerpräsidenten der Länder, den Regierungspräsidenten und den Hauptverwaltungsbeamten der Landkreise und kreisfreien Städte zu, wenn die „zuständigen Bundesorgane nicht nur vorübergehend außerstande sind, die notwendigen Maßnahmen” zu treffen und die Lage „unabweisbar” ein sofortiges Handeln erfordert (Art. 111 f).

5. Nach dem Entwurf kann das Bundesverfassungsgerichtsgesetz durch Notgesetz oder Notverordnung nur unter bestimmten Umständen verändert werden. Auch darf die „verfassungsmäßige Stellung und die Erfüllung der verfassungsmäßigen Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts und seiner Richter” nicht beeinträchtigt werden (Art. 115 e Abs. 1 u. 2).

Erläuterung:

Die Punkte 1 bis 4 sprechen für sich selbst. Hinsichtlich des Bundesverfassungsgerichts scheint der Entwurf auf den ersten Blick auf die Forderungen eingegangen zu sein, daß die Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts gewährleistet bleiben müsse und jede Maßnahme, auch jede Notstandsmaßnahme, vor dieses Gericht gebracht werden können müsse. Tatsächlich kann die Regierungsmehrheit des Bundestages, die im Zweifelsfall entweder über die Feststellung oder zumindest über die Fortdauer des „Zustandes der äußeren Gefahr” und damit zugleich über die Verlängerung ihrer Wahlperiode entscheidet, nach dem Entwurf der Bundesregierung jedoch durch ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ändern. (Das ist deshalb besonders gefährlich, weil zu diesem Zeitpunkt die sonst .mögliche Kritik durch Notstandsmaßnahmen bereits ausgeschaltet sein kann.) Dadurch könnte einmal das Rechtsinstitut der Verfassungsbeschwerde abgeschafft werden; zum anderen könnten neue Senate, neue Zuständigkeiten der Senate und neue Vorschriften über die Wahl der Bundesverfassungsrichter geschaffen werden und damit ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts gegen Maßnahmen praktisch unmöglich machen. Außerdem enthält der Entwurf keine Entscheidungsbefugnis für den Fall der ungerechtfertigten Aufrechterhaltung des „Zustandes der äußeren Gefahr” und damit der Verlängerung der Wahlperiode durch die Parlamentsmehrheit.

2 – Der Zustand der inneren Gefahr

Der entscheidende Unterschied zwischen dem „Zustand der äußeren Gefahr” und dem „Zustand der inneren Gefahr” besteht darin, daß ein solcher Zustand nicht „festgestellt” wird oder aufgrund eines Tatbestandes „eintritt”, der — wie es in der Begründung für den Fall des Angriffs mit Waffengewalt heißt —„den Gesamtumständen nach offenkundig ist, daß Zweifel daran, ob die Voraussetzungen dieser Sonderregelung vorliegen, kaum vorstellbar erscheint“.

Der „Zustand der inneren Gefahr” dagegen liegt vor, und zwar

„wenn der Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes

1. durch Einwirkung von außen,

2. durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt,

3. durch Nötigung eines Verfassungsorgans oder

4. durch Mißbrauch oder Anmaßung von Hoheitsbefugnissen

ernstlich und unmittelbar bedroht ist” (Ar. 115 i).

Die Bundesregierung hat diese Tatbestandsmerkmale in der Begründung noch erweitert. Nötigung eines Verfassungsorgans ist für die Bundesregierung bereits „die Herbeiführung oder Androhung eines empfindlichen Übels für das Gemeinwohl”.

Erläuterung:

Der „Zustand der inneren Gefahr” ist somit nicht eindeutig bestimmt. Die unbestimmten Tatbestandsmerkmale machen es möglich, daß die Bundesregierung ohne offizielle Erklärung des Notstandes in den Bereich der Landesgesetzgebung eingreifen, Grundrechte außer Kraft setzen, Dienstverpflichtungen vornehmen und sogar Streitkräfte einsetzen kann. Die Außerordentlichkeit der Maßnahmen wird auf diese Weise verschleiert, die „Schwierigkeiten”, einen Bundestags- und Bundesratsbeschluß herbeizuführen, werden so umgangen. Die Gefahren einer derartigen Regelung zeigt die Begründung. Nach der Begründung ist die Bekämpfung z. B. legitimer Streiks auf diese Weise durchaus denkbar; denn läßt sich nicht von jedem Streik regierungsseits behaupten, daß durch ihn ein „empfindliches Übel für das Gemeinwohl” herbeigeführt oder auch nur angedroht wird?

Im „Zustand der inneren Gefahr” können die Landtage oder auch die Landesregierungen Notgesetze oder auch Notverordnungen erlassen, die nicht zur

Gesetzgebungszuständigkeit der Länder gehören und durch die die Grundrechte der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit und der Freizügigkeit eingeschränkt werden können (Art. 115k Abs. 1 u. 2).

Außerdem treten, wenn in einem Land ein „Zustand der inneren Gefahr” „vorliegt” und das Land zur Bekämpfung der Gefahr „nicht bereit oder in der Lage” ist, folgende Rechtsfolgen ein:

1. Der Bund hat das Recht zur Gesetzgebungsbefugnis auch für diejenigen Sachbereiche, die sonst zur Zuständigkeit der Länder gehören (Art. 1151 Abs. 1 Buchstabe b).

2. Durch Bundesgesetz können die Grundrechte der Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5), der Versammlungsfreiheit (Art. 8) und der Freizügigkeit (Art. 11) eingeschränkt werden (Art. 115 k Abs. 1 Buchstabe b).

3. In einem „Zustand der inneren Gefahr”, bei dem es zu einer „Einwirkung von außen” kommt, kann der Bund nicht nur die oben genannten Grundrechte außer Kraft setzen, sondern zusätzlich zu Meinungs- und Pressefreiheit auch die der Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre, ferner kann er Dienstverpflichtungen im Widerspruch zu Art. 12 Abs. 2 u. 3 Satz 1 (etwa nach dem Zivildienstgesetz) vornehmen (Art. 1151 Abs. 1 Buchstabe b).

4. Die Bundesregierung kann Polizeikräfte des Bundes und der Länder sowie die Streitkräfte „im Innern für polizeiliche. Aufgaben” einsetzen und den Landesbehörden Weisungen erteilen (Art. 1151 Abs. 1 Buchstabe c). Die Streitkräfte können unter bestimmten Umständen im Innern auch „mit der Waffe” eingesetzt werden (Art. 1151 Abs. 3).

5. Dem Notstandsausschuß steht das Recht zum Erlaß von Notgesetzen zu, auch wenn diese die genannten Grundrechte einschränken, wenn dem Zusammentritt oder der rechtzeitigen Beschlußfassung des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen“. „Erfordert die Lage ein sofortiges Handeln”, so kann die Bundesregierung auch Notverordnungen erlassen (Art. 1151 Abs. 2).

Erläuterung:

Diese umfassenden Befugnisse des Bundes, die — sofern „die Lage ein sofortiges Handeln erfordert” (in welchem Fall kann man das nicht behaupten?) — der Bundesregierung im sogenannten Ernstfall zustehen, sind deshalb besonders gefährlich, da sie nicht mit der ausdrücklichen Feststellung des „Zustandes der inneren Gefahr” verbunden sind und damit eine Verschleierung des außerordentlichen Charakters der getroffenen Maßnahmen möglich machen.

Nach dem Entwurf ist es zum Beispiel möglich, daß die Bundesregierung gegen einen Streik in einem Lande vorgeht, den die Landesregierung für rechtmäßig hält, weshalb sie „nicht bereit” ist, in diesen Arbeitskampf einzugreifen. Die unbestimmte Formel „Einwirkung von außen” (in welchem Fall kann man das nicht behaupten?) macht es sogar möglich, daß die Bundesregierung auch bei Arbeitskämpfen Zwangsverpflichtungen vornimmt, die Arbeitnehmer ihren Arbeitgebern als „Dienstverpflichtete” wieder zuführt und damit eine Fortsetzung des Streiks unterbindet.

Eine Annahme der Bestimmungen über den „Zustand der inneren Gefahr” würde einmal die bundesstaatliche Ordnung unseres Staates antasten und in die Befugnisse der Länder eingreifen; sie würde sodann auch eine Einschränkung und Drosselung wesentlicher demokratischer Grundrechte unter dem Vorwand des Notstandes möglich machen.

3 – Der Katastrophenzustand

Der Entwurf der Bundesregierung sieht ferner eine entsprechende Anwendung der Regelung des „Zustandes der inneren Gefahr” für den Fall vor, daß „Leib und Leben. der Bevölkerung, insbesondere durch eine Naturkatastrophe, ernstlich und unmittelbar gefährdet” werden (Katastrophenzustand) (Art. 115 m).

Erläuterung:

Auch diese Bestimmung ist durch das Wort insbesondere so unbestimmt gelassen, daß es nicht ausgeschlossen ist,. daß sie auch in anderen Fällen als bei Naturkatastrophen,. zum Beispiel wiederum bei Streiks, herangezogen wird,. um so gegen rechtmäßiges Handeln etwa der Gewerkschaflen vorzugehen.

Auch beim „Katastrophenzustand” sind dieselben Möglichkeiten, demokratische Grundrechte einzuschränken,, die beim „Zustand der inneren Gefahr” gegeben sind,, eingeräumt.

Die geplante Notstandsgesetzgebung enthält mit den. möglichen Einschränkungen der wesentlichen Grundrechte die Gefahr, daß der Geist der Verfassung beseitigt. wird. Für einige der betroffenen Grundrechte ist die Notwendigkeit einer Einschränkung im Notstandsfall, überhaupt nicht einsichtig, bei anderen, für deren Einschränkung im Notstandsfall Gründe denkbar sein mögen, sind die Formulierungen und die Bedingungen so vage gehalten, daß dem Mißbrauch Vorschub geleistet wird. Bedenklich ist besonders, daß die Entscheidungsbefugnis in absteigender Folge einer einfachen Mehrheit. des Bundestags, also der Regierungsmehrheit, oder einer solchen Mehrheit in einem Ausschuß oder der Bundesregierung bzw: einem Kabinettsausschuß bis herab schließlich zu Verwaltungsbeamten auf Kreisebene gegeben wird; bedenklich vor allem, weil es während der Dauer eines Notstandes nicht möglich ist, die Regierungsmehrheit durch Wahlen zu verändern, weil ferner in dem Entwurf für das Bundesverfassungsgericht keine Befugnis vorgesehen ist, im Beschwerdefall über die Rechtmäßigkeit der Fortdauer des Notstandes zu entscheiden. Soschafft die geplante Notstandsgesetzgebung durchaus die• Möglichkeit für ein neues Ermächtigungsgesetz.

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