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Laudatio zur Verleihung des Fritz-­Bau­e­r-­Preises 1980 der Humanis­ti­schen Union an Peggy Parnass

vorgängevorgänge 4608/1980Seite 132-135

Wachsame Augen. Aus: vorgänge Nr. 46 (Heft 4/1980), S.132-135

(vg) Den Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union für 1980 erhielt die„Gerichtsreporterin“ Peggy Parnass. Sie ist, meint die HU, unter einer Reihe recht guter Gerichtsberichterstatter wahrscheinlich die menschlichste. Ihre Reportagen erschienen fast ausschließlich, zum Teil aber schlimm gekürzt, in der linken Wochenzeitung „konkret“. 1979 erschien ihr Buch „Prozesse 1970-1978”, alle Berichte, diesmal ungekürzt (Verlag Zweitausendeins, Frankfurt/M, 634S, 17,90 DM). Es ist ein document humaine nicht nur für die Autorin, sondern ebenso für die von ihr „beschriebenen“Angeklagten, Richter, Staats- und Rechtsanwälte – und Mitbetroffenen.
Die Laudatio bei der Preisverleihung auf dem Hamburger Literatrubel am 5. Juli 1980 sprach der münchner Rechtsanwalt und Filmemacher Dr. Norbert Kückelmann. Weil der Begriff der Anerkennung zwar noch nicht vermarktet ist, aber in Form von obrigkeitlicher Gunst per Orden, Bänder, Urkunden in Massenauflistungen sozusagen wie Manna über die Verdienstvollen kommt, meist für ein langjähriges Verhalten, für Staatstreue oder Karriere oder nur einfach so, fällt in solcher Preisschwemme ein Preis, der die Erinnerung an Ideologie und Wirken eines Mannes wach hält und ein Werk fortsetzen will, angenehm auf.
Wenn ein Preis die Erinnerung fortsetzen will, dann ist es auch Sinn dieses Preises, so öffentlich wie möglich das wieder zu begreifen, was Inhalt eines Lebens war, das uns einen Preis wert ist.
Fritz Bauer ist seit 12 Jahren tot. Sein mutiges, viel beachtetes und auch belächeltes Werk, „Das Verbrechen und die Gesellschaft”, ist nicht neu erschienen, und es ist für jeden kritischen Juristen ein Anlass zur Unruhe und zu der ängstlichen Frage, ob denn diese Art Verbindung von Mut und Menschlichkeit, von unendlicher Geduld und Anstrengung, ausgelöst in der hautnahen Konfrontation mit dem Zentrum der Macht einer Demokratie in Deutschland, denn immer wieder zu Ende ist, wenn eine Person stirbt, etwa: Fritz Bauer, war das nicht der Staatsanwalt, der in der Badewanne gestorben ist? Die vielen einsamen Versuche, humanes Denken und Praktizieren anzuregen, durchzusetzen, manchmal in der großen Geste des Erneuerers, manchmal durch Energie im kleinen Raum eines Amtes, Schritte nach vorne zu tun, ob es einen Sinn hat, den Monolithen zu bewegen, oder ob ihm dies nur Stoff zum Selbstverständnis gibt?
Die Angst ist sicher ansteckend, ist es der Mut auch? Wenn es einen Zusammenhang gibt zwischen Wirken und Erkenntnissen verschiedener Personen durch die spürbare Existenz des Anderen, wenn legaler Widerstand gegen Gefahren der Macht mit den Mitteln menschlichen Denkens, der Sachlichkeit, Intelligenz, von Wut und Humor gegen Eisigkeit von Apparaten keine Sache der Einzelgänger ist, sondern, wie auch immer, übertragbar, fortführbar. Dann, um die Einsamkeit des Engagements zu vertreiben, haben Preise einen besonderen Sinn.
Zum Tode von Fritz Bauer schrieb Ernst Müller-Meiningen jr 1968:
„Er war ein leider rares Element schöpferischer Unruhe in unserer Gesellschaft. Sein scharfer Verstand und sein heißes Herz, seine brennende Sorge um Rechtsstaatlichkeit, seine Kompromisslosigkeit gegenüber den noch immer in unserer Gegenwart herum geisternden Lemuren unserer jüngsten Vergangenheit, das alles schaffte ihm, wie man annehmen muss, mehr Feinde als Freunde.”
Fritz Bauer war verzweifelt über die Absurdität des Verhältnisses von Demokratie und Vergeltungsrecht, „schaffen wir den Begriff ,Sünde` aus der Welt und schicken wir ihm den Begriff der ,Strafe` bald hinterher”, sagte er. Er sprach für den großen Gedanken der Resozialisation statt Strafe, des humanen Maßnahmesystems. Demokratie war, auch dem Täter gegenüber, mitmenschliche Solidarität; statt der Unbrauchbarkeit des Schuldprinzips. Er wollte einen großen runden Tisch, an dem Angeklagte, Richter und Ankläger Platz nehmen, fast rührend anmutend heute im Angesicht von Kontaktsperren und Hochsicherheitstrakten und der wachsenden Profilierungsangst staatsbewachender Institutionen. Seine Kritiker haben ihm mangelnde Konsequenz vorgeworfen, weil Fritz Bauer in der Jagd nach NS-Verbrechern eine Notwendigkeit sah. Weil er, Gegner der Todesstrafe und des geltenden Strafprinzips, Eichmann aufstöberte und die Abrechnung mit der Vergangenheit mit eben diesem Strafrecht als oberster Ermittlungsbeamter eines Bundeslandes betrieb. Sie haben übersehen, dass die Unbrauchbarkeit des Schuldstrafrechts in der Betrachtung von Fritz Bauer nicht nur darin bestand, dass es die Resozialisierung versäume, sondern auch die Ahndung der eigentlichen Mörder der Gesellschaft. Sollen Toleranz und Menschlichkeit sich durchsetzen, müssen Reste des Ressentiments für das Unmenschliche, und wenn sie nur in der Unfähigkeit bestehen, sich ihrer zu erinnern, beseitigt werden. Solange dieses Unrecht versteckt bleibt, haben Strafrecht und Unrecht eine Leiche im Keller. Für Fritz Bauer war die Jagd nach den NS-Mördern eine Voraussetzung für seine Forderung nach Humanisierung des Strafrechts, lag über der Grenze der ertragbaren Toleranz, war Notwendigkeit, um in der Bewältigung aller Verdrängung den Rückweg oder den Weg in ein humanes Strafrecht zu finden.
Der Strafprozess in Deutschland, ob mit Auschwitz oder Majdanek oder mit Neofaschismus beschäftigt, wird auf Grund seiner Ideologie – Schuld ist das gleiche, ob beim Fahrraddiebstahl oder beim Völkermord – die Tendenz zur Entschuldigung haben, um sich bestätigen zu können. Und dort in der Entschuldigung, die nicht aufhört, solange das Filbinger-Grinsen noch im Raum steht, hängen Schuld denken und Unrecht zusammen.
Fritz Bauer spürte in der Abfolge des ersten Auschwitz-Prozesses 1964 die Katastrophe eines Kampfs ums Recht. Die Unmenschlichkeit vor Gericht, dem gerichtichen Formenspiel, normalisiert sich zur profanen Straftat und lässt sich, die numerischen Dimensionen ausgenommen, auf einmal neben dem Alltagsdelikt nieder. Diese so gewonnene Prozessdauer Erstarrung half der Trennung zwischen Wissenden und Ahnungslosen, der Entschuldigung der Massen, ärgerlich gegen ein verdrängtes Trauma. Dort kämpfte der Strafprozess oft um seine eigene Existenz, nämlich um Erhaltung der Kategorie Schuld. Und deshalb kämpfte er mit allen Mitteln, und sei es mit Freisprüchen mangels Beweises.
Die Vergangenheit trägt nicht nur das vergangene Unrecht, sondern ihre Bewältigung auch das künftige Recht.

Nun hat also Peggy Parnass den Fritz-Bauer-Preis erhalten – mit Recht; obschon kein Generalstaatsanwalt und nicht die Logistik von Berufsjuristen beherrschend, ohne Behaftung von Dogmatik, aber deshalb unvoreingenommen und mit klarem Blick, ohne Verlust ihrer Emotion, hat sie in den dokumentierten zehn Jahren ihrer Tätigkeit im Gerichtssaal die gleichen Strukturen begriffen und die gleichen Ziele verfolgt. Aus allen ihr aufgefallenen, von ihr geschilderten Fällen kommt die gleiche Erkenntnis, die gleiche Unruhe und Trauer, die gleiche Wut und Ungeduld.
Dieser Preis ist sicher kein Buchpreis, denn ihr Buch „Prozesse” ist kein Buch, das jemand einfach geschrieben hat, sondern ein sachlicher Bericht über eine Tätigkeit und Haltung, mit immer mehr Profil, als Konsequenz für einen emotionalen, klar gebliebenen Blick von ungewöhnlich wachsamen Augen.
Ich habe in den letzten zehn Jahren Peggy Parnass‘ heiße Berichte aus einem kalten Bereich immer auf mich wirken lassen und empfand sie stets in einem erfreulichen Gegensatz zu meinem juristischen Denken, aber dennoch treffender für die Ergebnisse, die aus juristischem Denken angestellt werden, für Ermittlungen, Beweisaufnahmen, Urteile und deren gesellschaftliche Zusammenhänge. Die Zusammenfassung dieser Berichte ergibt ein unausweichlich klares Portrait, eine unbestechliche Analyse der Prozesse in unseren Gerichtssälen und der anderen hier erkennbaren gesellschaftlichen Prozesse dahinter. Der Prozesse, die zu Zwängen führen, aus denen Delikte kommen, die ihrerseits zu den Zwängen führen, die im Gerichtssaal, in den Richtern und Anklägern sind.
„Wie gerne”, sagt Peggy Parnass, „würde ich doch die Geschichten hinter den Geschichten kennen.” Ein bescheidener Satz; denn es ist ihr gelungen. Wir merken plötzlich, es sind unsere Prozesse, ein notwendiges Stück Öffentlichkeit, wirklicher Öffentlichkeit, die es sonst nicht gibt.
Wenn das Gerichtsverfassungsgesetz in § 169 die Öffentlichkeit im Strafprozess nennt, dann spricht die Kommentierung halbherzig von einer Öffentlichkeit, in der „es jedermann möglich sein soll, sich davon zu überzeugen, dass gerecht und unparteiisch Recht gesprochen werde”. Nicht etwa, ob gerecht und unparteiisch Recht gesprochen werde. Obwohl gerade in diesen beiden Begriffen, Gerechtigkeit und Unparteilichkeit, bereits die ganze Problematik der Strafrechtsprechung liegt. Das Tonband und die Fotografie sind im Gerichtssaal nicht erwünscht, weil sie zu genau sind, weil die Prozesse hinter den Prozessen,vielleicht geheim bleiben sollen? Aber gemessen an den technischen Gewohnheiten auch fernsehender Richter und Staatsanwälte, und sei es nur der Fußball, die Nachrichten oder der abendliche Krimi, den Videoaufzeichnungen und Familienfotos stiller Urlaubstage in Ibiza oder anderswo, sind die 20 bis 50 Sitzplätze oder vielleicht 200 im Schwurgericht (im kleinsten Flohkino sind es 100), auch soweit sie von kritisch interessierten Betrachtern besetzt sein sollten, und nicht von Polizeibeamten, fusswärmenden Rentnern oder Damen der Gesellschaft, die im Ives-Saint-Lauraint-Look zur Urteilsverkündung gehen, keine Öffentlichkeit, die der Inquisition eine zeitgemäße Alternative gäbe.
Es bleibt die so genannte öffentliche Meinung oder die veröffentlichte Meinung als Resonanz der Berichte derer, die dabei waren. Und deshalb ist Öffentlichkeit des Verfahrens so gut oder schlecht, so vollständig oder unbrauchbar wie die öffentlichen Berichte und das Verhältnis derer, die sie schreiben, zur Wahrheit. Darin liegt die eminente Bedeutung der Gerichtsreportage auch heute, dass sie die eigentlich fehlende Öffentlichkeit ersetzt. Die täglichen Prozessberichte sind meist von Zeitknappheit, Oberflächlichkeit, Unkenntnis der Materie und Mangel an analytischem Denken gekennzeichnet. Sie zerschlagen sich meist am Zeremoniell, am Code-Charakter der Sprache, erfassen nur Oberfläche und Protokoll, als handle es sich um ein unwichtiges Geschehen, dessen Ende in Jahreszahlen der Strafe ausgedrückt wichtiger sei als seine Gründe und Teilnehmer, als fände dort ein belangloser Ablauf statt, und nicht ein erbitterter Krieg. Erst wenn es um Spektakuläres geht, den Blutgeruch von Totschlag und Mord, den intimsten Bereich armer, verzweifelter Täter, deren zwang beladenes Interieur, den Sittenprozess, von dem Karl Kraus sagt, dass er den Hintergrund abgebe, von dem der Schuldige sich malerisch abhebt – dann blühen die Schlagzeilen und Kolportagen und manipulierte Aggression und Angst.
Nun gibt es aber neben der öffentlichen Benutzung von Prozessgeschehen als Sensation oder Unterhaltungssujet ein zähes Bemühen um kritische Beobachtung, eine Bereitschaft, in kleinen und exzessien Prozessen der Gerichte einen Spiegel der großen gesellschaftlichen Konflikte zu sehen und all die Fragen aufzuwerfen, die notwendig sind, um die Position der Angeklagten, Ankläger und Richter immer von neuem zu verstehen. Dieses Bemühen hat Tradition, seit den Berichten des Anwaltes Gayot de Pitaval und seiner kritisch gesehenen Cose celebre im 16. Jahrhundert und reicht neben der so genannten Prozessaufklärung in der Romantik bis zu den großen kritischen Einzelgängern, zu denen Egon Erwin Kisch, Karl Kraus oder Paul Schlesinger, genannt Sling, auch Schriftsteller wie Döblin, Leo Lania und Karl Federn gehören bis zu Gerhard Hermann Mostar, Gerhard Mauz und eben Peggy Parnass.
Offenbar fördert das justiziäre Geschehen von selbst immer wieder qualifizierte harte Kritik, engagierte Stellungnahme heraus. Fluch und Heil der Materie. Es sind Wächter eines demokratischen Anspruchs in einem oft atavistischen Bereich, die die Brisanz der Konfrontation, die gesellschaftlichen Ängste und Zwänge hinter den Fassaden, den zu Protokoll genommenen Schicksalen und hinter den Roben und all das spürbar machen, was – richtig berichtet – viel spannender und erregender ist, als das äußere, wenn auch spektakuläre Geschehen, nämlich die volle Wahrheit. – Ein Angeklagter hat zu mir während der Debatte um Ausschluss der Öffentlichkeit gesagt: „Lassen Sie das nicht zu, mit denen alleine fühle ich mich einsam.”

In Peggy Parnass‘ Berichten spürt man ihre Präsenz. Sie berichtet nicht irgendwelche Prozesse, sondern eigene Erlebnisse. Es geht ihr nahe, und deshalb geht sie in den Gerichtssaal. Man spürt in ihrer Beschreibung die Faszination, die die Untaten gegen das Recht oder die Untaten der Gerechtigkeit auf sie ausüben. Sie ist ein Verfahrensbeteiligter, auch wenn sie es nicht aushalten kann. Die Arroganz der Macht, die maßregelnden Richter, die Beschränktheit des Verständnisses, wenn der Vorsitzende Gewalt aus Zwang und Liebe „für im Grunde verwerflich” nennt oder ein Richter über einen Arbeiter, der in der Asphaltfabrik tätig ist, den Satz verliert: „Das riecht man”. Oder wenn sie, eingeklemmt zwischen Beamten und Zuschauern, schreibt, stundenlang stehend, konzentriert und sich schämend, weil sie sich nicht traut, den kleinen Zeugentisch zu erobern. Wenn die Öffentlichkeit sich mit Peggy Parnass im Gerichtssaal befindet, ist kein Angeklagter einsam. Aber von der Einsamkeit der Kenntnis um den wirklichen Konflikt, der sich dort abspielt, hat sie einen Teil zu tragen.
Peggy Parnass sagt zu ihrer Person: „Bin überall zu Hause, bin nirgends zu Hause, akzeptiere keine Grenzen, auch nicht meine eigenen, übe alle Berufe aus, die mit Sprache zu tun haben, zur Zeit bin ich am liebsten Schauspieler, Gerichtsreporter und Kolumnist. Mich bewegt, nein schüttelt, das Leben ständig. Höre nie auf, zu staunen und hungrig auf Menschen zu sein.”
Zwischen Schauspielerin und Kolumnistin ist der Gerichtssaal ein Fremdkörper und nur dann zu verstehen, wenn man von den Begriffen Schauspieler und Kolumnist den üblichen Schick und Anspruch entfernt. Ein anderer dieses Metiers würde sich vielleicht im Kulturbetrieb interessant fühlen, sich im Feuilleton und Theaterfoyers tummeln und den kritschen Anspruch wie so oft vor sich her tragen und artig gesellschaftliches Bewusstsein reflektieren. Peggy Parnass hat gespürt, „wir gehen heute nicht einfach vor uns hin, sondern unter Polizisten”, ihr Verhältnis zur Realität ist kein distanziertes, immer ein direktes, ohne Umschweife kommt sie auf den Kern, sucht und zeigt sie den wahren gesellschaftlichen Kampf vor den Schranken der Gerichte, sieht das Spiel von Schuld und Sühne, wie Gerhard Mauz es nennt, begreift in scharfen Konturen, woran das System krankt, warum nicht all das, was Fritz Bauer sich wünscht, in naher Zukunft erfüllbar ist:
Sie hat die Justiz als eine Konservierung des Herrschenden, als Bewahrer der Tradition gesehen. Die Richter in ihrem oft menschlichen Bemühen, aber in ihrer Abhängigkeit zur Ausbildung, zur Tradition, zur juristischen Fremdsprache erkannt. Das lebensfremde, dogmatische Denken, das auf die Lebendigkeit des kriminellen Alltags prallt. Die Kluft, die sich auftut zwischen der Welt der kleinen und großen Sünder, abhängig von ihren Zwängen, die nicht in das Schuldsystem passen, gar nicht begriffen werden können, und der Welt der begrifflichen Dogmen, der logistischen Turnübungen, der unbestimmten Rechtsbegriffe, der Spielregeln, Zeremonien und Roben. Seiten, die sich nicht verstehen können, zwei Arten von Hilflosigkeit, die sich gegenüberstehen, zwei Arten von Schweigen, nur dass die eine Seite alle Macht hat, und die andere keine. – Sie sieht die Unsicherheit der Autorität und das Aggressive, das daraus erwächst. Sie sagt nicht: „Zu Richter Graue fällt mir nichts ein”, sie versucht auch hier zu verstehen, setzt sich damit auseinander. – Sie sieht die Moral hinter der Moral, die Sprache, die sie interessiert, die in Zeiten des Unrechtsstaates zu einer Sprache des Hasses wurde, eines Hasses, dessen Ursprünge und Taten und deren Bewältigung zu beobachten sie nicht aufhört. Sie weiß,
die Schranken zwischen Recht und moralischem Regulativ können bei Anheizung eines kollektiven Empfindens, das sich auf seine Gesundheit beruft, in Wegfall geraten. Die Dammregelung kann sich verändern, wie schnell? wie leicht? – Sie begreift die Straflust der Gesellschaft, in den Richtern repräsentiert, die sich austoben soll an den Beispielen all dessen, was gesellschaftsfeindlich und kriminell ist im Sinn des Gesetzes. Und die sich rächt für tausend Verzichte und entschuldigt für die Brutalität des Alltags.
Es gibt die strafende Gerechtigkeit, auch die ausgleichende. Niemand spricht von der weinenden, der traurigen oder zärtlichen Gerechtigkeit. Ist Gerechtigkeit etwas Negatives, Finsteres? Sie ist, so gehandhabt, ein undurchsichtiger Begriff. Man kann ihn nur, wie Peggy Parnass, entlarven, dann wird er menschlich. Wir, nicht nur die, die den Gegenstand ihrer Berichte kennen, wünschen, dass sie es weiter macht. Genau so. Aber wir fragen auch, wie hält sie das aus? Eine scheinbar zarte Person, Peggy Parnass gegen Justizia, eine Dame mit einer Feder tritt an gegen die Dame mit dem Schwert. Ein offensichtlich schier aussichtsloser Kampf. Nur darf man eines nicht vergessen: Die Dame mit dem Schwert hat eine Binde vor den Augen. Die Dame mit der Feder sieht klar.
Dort, wo Peggy Parnass tätig ist, herrscht Krieg. Aber dennoch ist der Satz „Wo die Waffen sprechen, schweigen die Musen” ein Unsinn. Die Sprache von Peggy Parnass ist keine Kriegsberichtssprache, sondern häufig emotional, manchmal wütend, plötzlich poetisch. Denn das ist das Bezeichnende an diesem Krieg: Dass man subjektiv Stellung beziehen muss und doch sachlich sein kann.
Ein junger Angeklagter wird verurteilt, weil er, hässlich, dass kein Mädchen ihn anschauen wollte, seine Mutter, die er vorher nicht kannte und in die er sich verliebte, beinahe erschlagen hätte, um mit ihr schlafen zu können. Ergebnis: dreieinhalb Jahre. Peggy Parnass schreibt über den Abschied von seiner Mutter: „Wenn Rudi R. Glück hat, kommt er in eine Jugendstrafanstalt aufs Land und hat wieder friedliche Tiere um sich. Frau Erika steckt ihm zum Abschied Zigaretten zu. Nun geht eine unbeschreibliche Wandlung mit R. vor. Als er sich über die kleine Frau beugt, sie ganz vorsichtig in die Arme nimmt und ihr unendlich zart das Gesicht küsst, wird er vor lauter Liebe wunderschön.”
Sling schreibt, wie er Gerichtsberichterstatter wurde und sagt: „Auf mein seelisches Erleben kommt es an. Eine Objektivität gibt es nicht, weder in der Wissenschaft, noch am Richtertisch. Ich suche im Gerichtssaal die seelischen Beweggründe der auftretenden Personen, der Angeklagten, der Zeugen. Ich kann es auch nicht unversucht lassen, in die Herzen des Staatsanwalts und der Richter zu blicken. Das aufgenommene Bild erzeugt in mir Trauer, Empörung, Furcht, Mitleid, Verachtung, Heiterkeit, Spottlust, Liebe und Hass. Ich kann nicht anders, als das, was ich aufnehme, so weiterzugeben, indem ich mich zum verantwortungsbewussten subjektiven Schaffen bekenne.”Peggy Parnass würde sagen: So ist es.

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