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Argumente gegen die geplanten Notstands­ge­setze

vorgängevorgänge 6-196606/1970Seite 254-256
von vg

aus: vorgänge Heft 6/1966, S. 254-256

(vg) Ober die neue Aktivität um die Notstandsgesetzgebung, die sich regierungsseits vor allem angesichts des Berliner DGB-Kongresses entzündete, berichteten die vg in der vorigen Ausgabe. In Kürze wurde auch informiert über das Ergebnis der Abstimmung der Delegierten des Gewerkschaftsbundes. Trotz der starken Opposition vonseiten sowohl der Wissenschaftler wie der Gewerkschaften gegen die geplanten Notstandsgesetze scheinen sich die im Bundestag vertretenen Parteien einig zu sein, die Notstandsgesetzgebung durchzusetzen. Die Auseinandersetzungen gehen im wesentlichen nur noch um Einzelheiten der zu treffenden gesetzlichen Regelungen. Das Hauptargument der Regierung wie der Bundestagsparteien für die Notwendigkeit einer Notstandsgesetzgebung ist nach wie vor das der „Souveränität”, die alliierten Vorbehaltsrechte aus dem Deutschlandvertrag für den Notstandsfall müßten durch eine bundeseigene Gesetzgebung abgelöst werden.

Die Humanistische Union hat, wie wir berichteten, an den Kongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes appelliert, in der Ablehnung der Notstandsgesetze fest zu bleiben, weil durch sie Gefahr besteht, daß wesentliche Grundrechte der Verfassung ausgehöhlt werden. Über den Appell der HU hinaus hat der Landesverband Berlin der Humanistischen Union den Delegierten des DGB-Kongresses eine detaillierte Begründung vorgelegt, inwiefern die vonseiten der Bundesregierung betriebene propagandistische Beeinflussung der Gewerkschaften insachen Notstandsgesetzgebung nach wie vor die demokratischen Bedenken gegen die geplanten Gesetze nicht entkräften, und warum deshalb die Gewerkschafter weiterhin der Notstandsgesetzgebung widerstehen sollen. Die von der HU Berlin vorgetragenen Gründe haben Geltung über den Anlaß der Einflußnahme auf den DGB-Kongreß hinaus. Wir geben hier die Stellungnahme im Wortlaut wieder:

1. Die Bundesregierung fordert, im Notstandsfall müsse das ganze Volk zusammenstehen. Sie ist aber nicht zu der einer solchen Einmütigkeit entsprechenden gleichen Beteiligung der Opposition am Erlaß der Gesetze und Maßnahmen bereit, die im Notstandsfall in die Grundfreiheiten eingreifen; die einfache Mehrheit im Gemeinsamen Ausschuß soll nach ihrem Willen genügen. Die Forderung nach Einmütigkeit bezieht sie also nicht auf die Ausübung der Macht, sondern allein auf die Machtunterwerfung.

2. Es geht nicht an, die Beendigung des Notstands denselben formalen Regeln zu unterwerfen wie seine Verkündung. Im Gegenteil, es ist die Aufrechterhaltung der Notstandsrechte für die Regierung, die formal gleichbehandelt werden muß: ist eine Zweidrittel-Mehrheit für die Verkündung des Notstands erforderlich, so auch für seine Aufrechterhaltung. Und ein Drittel des Bundestags oder des Gemeinsamen Ausschusses muß genügen, den Notstand aufzuheben. Wird die Beendigung des Notstands schwerer gemacht als seine Verhinderung, so stellt dies einen gefährlichen Sog zur Diktatur dar.

3. Der „Gemeinsame Ausschuß”, ein Versuch, ein aktionsfähiges Restparlament für den Notstandsfall bereit zu haben, soll schon im Frieden wirken. Er hebt die kleine Zahl von Parlamentariern, die ihm angehören, aus ihren Fraktionen heraus und konzentriert innerhalb der Parteien und Fraktionen die Macht in noch höherem Maße als bisher. Er fördert die Ausbildung einer überparteilichen Aristokratie, einer Gemeinschaft der Eingeweihten, die oppositionelle Kontrolle gänzlich zum Erliegen zu bringen droht.

4. Die größte Verwirrung wurde um die Vorbehaltsrechte der Alliierten gestiftet.

a) Es ist in höchstem Maße fraglich, ob den Alliierten Notstandsvollmachten noch heute zustehen. Art. 5 Abs. 2 des Deutschland-Vertrags vom 23. 10. 1954 beließ den Alliierten Rechte nur noch für außenpolitisch bedingte Notstandsfälle, und auch dies nur für die Zeit, bis die Bundesrepublik gesetzliche Vorsorge für innere und äußere gewaltsame Auseinandersetzungen im selben Maße getroffen hat wie die anderen NATO-Staaten (vgl. Hans Furler, Berichterstatter des Auswärtigen Ausschusses in der Bundestagssitzung vom 24.2.1955). Nach vielfach vertretener Meinung ist dies seit über zehn Jahren, seit der Grundgesetz-Änderung vom März 1956 (Einfügung der Bundeswehr-Artikel), geschehen. Die Bundesregierung hat noch nach keiner Bestätigung dieses Erlöschens jener Rechte bei den Alliierten nachgesucht. Sie postuliert deren Fortbestand.

b) Es ist nicht richtig, daß die Alliierten auf Grund ihrer Vorbehaltsrechte, sollten sie noch bestehen, im Notstandsfall souverän in innere deutsche Angelegenheiten eingreifen könnten. Sie könnten dies zum Schutz ihrer Truppen in jedem Falle nur, soweit die Bundesregierung dies selbst für notwendig hält und daher zustimmt. Überdies wäre für jede einzelne Maßnahme die Bundesregierung zu konsultieren. — Dies bestimmt Art. 5 Abs. 2 des Deutschland-Vertrags in seinem mehrfach von der Bundesregierung unterschlagenen Satz 2.

c) Es ist nicht richtig, daß die Bundesregierung sich vorbehaltene Befugnisse der Alliierten zum Schutz ihrer Truppen übertragen lassen könnte. Eine solche Übertragung wäre nur an den Staat Bundesrepublik möglich, nicht aber an eine einzelne seiner Gewalten, also nicht an die Exekutive. Ohne parlamentarische Kontrolle wäre jede Ausübung solcher Rechte ein Verfassungsbruch.

d) Es ist nicht richtig, daß durch Notstandsgesetze den Alliierten jegliche Rechte, und d. h. auch Notwehr-Rechte, zum Schutz der eigenen Truppen genommen werden könnten. Gewisse Mitwirkungsbefugnisse zum Schutz der eigenen Truppen sind keinem befreundeten Land, dessen Truppen man auf dem eigenen Territorium hat, zu verwehren. Je intensiver vertragliche Bindungen zwischen Staaten werden, desto leerer wird die Rede von der Souveränität.

e) Es ist nicht richtig, daß die Bundesregierung tatsächlich Souveränität als „Gebot der nationalen Selbstachtung” anstrebt. An der anderen Einschränkung der Souveränität im Deutschland-Vertrag (Art. 2), der Verpflichtung der Alliierten zur Sorge für die Wiedervereinigung, hält sie peinlich fest. — Das Hauptargument der Regierung, das der Souveränität, meist mit nationalem Pathos vorgebracht, ist juristisch und politisch unhaltbar.

5. Es trifft nicht zu, daß andere Demokratien ebenso einschneidende Notstandsrechte kennen, wie die Bundesregierung sie seit dem letzten Sommer hat und sich noch weiter geben lassen will. Innerhalb der NATO-Staaten ist allenfalls eine Bestimmung in der niederländischen Verfassung vergleichbar; sie stammt aus dem vorigen Jahrhundert. Sonst bestehen vergleichbare Regelungen nur in beschränkt demokratischen Staaten wie im de Gaulleschen Frankreich, in Griechenland und der Türkei.

6. Es kann nicht ernsthaft behauptet werden, die bereits erlassenen und die geplanten Gesetze seien im Krieg, im Verteidigungskrieg, zur Anwendung geeignet. Sie sehen strenge Zentralisierung vor; der Krieg aber wird nur „Inseln des Überlebens” kennen. Sie sehen hohe Luftschutzaufwendungen vor, im Krieg wirksam nur dort, wo der Gegner „die Zivilbevölkerung bewußt schont” (Schriften der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler, Heft 1). Sie sehen vor, was für den letzten Krieg vorgesehen und geplant war. In mehrfacher Hinsicht erschreckt das Maß, in dem sie sich auf die damaligen deutschen Regelungen und Entwürfe stützen. (In New York begann man kürzlich, die Behörde für Zivilverteidigung aufzulösen; sie hatte sich trotz eines Jahresetats von 10 Mill. DM als nutzlos erwiesen.)

7. Es ist nicht zutreffend, daß Notstandsregelungen schon jemals eine Demokratie zu retten vermochten. Für demokratische Staaten gibt es dafür kein Beispiel in der Geschichte. Zahllos sind dagegen die Beispiele für „legale” Machtergreifungen, insbesondere in unserem Jahrhundert.

8. In modernen Industriestaaten, deren Gesellschaft geprägt ist von betrieblichen Organisationsformen, haben Revolutionen von unten keine praktischen Chancen. Die in ihnen strukturell angelegte Gefahr sind vielmehr Maditkonzentration und Staatsstreich von oben. Für die Demokratie in solchen Staaten bedarf es in besonderem Maße der ständigen Übung. Solche Übung, von der der Fortbestand der Demokratie abhängt, ist aber das erste, was Notstandsgesetzen zum Opfer fällt. Wir beobachteten in den letzten Jahren verschiedene Formen der Propagierung der Notstandsgesetze durch die Bundesregierung. Sie wurde am intensivsten in der letzten Woche: zum ersten Mal kam von seiten der Regierung die offene Drohung mit Verfassungsbruch, falls der erstrebten Verfassungsänderung nicht zugestimmt wird. Legte der Mangel an Stichhaltigkeit der Argumente den Verdacht nahe, sie seien bloße Vorwände, so sind nunmehr unsere Befürchtungen für das Überleben der Demokratie seit den Drohungen in beunruhigendem Maße gewachsen. Es ist, so meinen wir, für den Fortbestand der Demokratie in Deutschland höchst gefährlich, den Plänen der Regierung zuzustimmen oder auch nur ihnen entgegenzukommen.

Die Straf­an­zeige wegen Vorbe­rei­tung zum Verfas­sungs­verrat

Unabhängig von der Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Verfassungsverrats, die der Vorstand der Humanistischen Union beim Generalbundesanwalt erstattet hat, weil seitens der Bundesregierung Schubladengesetze bereitgehalten werden, die für den Notstandsfall in Kraft treten sollen und durch die die Regierung entgegen ihren Befugnissen wesentliche Verfassungsbestimmungen einschränken könnte (s. vg 5/66, 215), hat auch der Vorstand des Ortsverbands Hannover der HU am 5. Mai beim Leitenden Oberstaatsanwalt des Landgerichts Bonn Strafanzeige wegen Vorbereitung zum Verfassungsverrat gegen den Bundesinnenminister Paul Lücke und den für die Notstandsgesetze zuständigen Staatssekretär im Innenministerium, Hans Schäfer, erstattet.

Namens der HU Hannover begründet Dr. Thomas von der Vring die Anzeige (auszugsweise) wie folgt:

Bundesminister Paul Lücke hat zu Fragen der Notstandsgesetzgebung ein Interview gegeben, das in der „Bildzeitung” vom 3. Mai 1966 abgedruckt worden ist. In diesem Interview teilt Lücke mit, daß im Bundesministerium des Innern Vorbereitungen getroffen seien zur Ergreifung von Maßnahmen, zu denen die Bundesregierung durch das Grundgesetz nicht ermächtigt ist. Wörtlich:

„BILD: Gibt es geheime Gesetze für den Fall, daß die Alliierten von einem Tag auf den anderen wieder die Macht übernehmen? — Lücke: Wenn nicht die Gewalt ganz an die Alliierten gehen soll, müssen wir die geheimen Schubladen öffnen. Wir müssen längst vorbereitete, einschränkende Gesetze mit Ermächtigung der Alliierten in Kraft setzen. Wir sind auf den Tag X vorbereitet. Hier, im Innenministerium, wird es keine Verlegenheitspause geben. Alles kann planmäßig — im Rahmen der Alliierten-Vorbehalte für Notstandszeiten — funktionieren. Aber was aus der Demokratie wird, wenn wir keine deutsche Notstandsverfassung haben, steht auf einem anderen Blatt. — BILD: Sind diese geheimen Vorlagen wirklich so einschneidend, daß Sie um den Bestand unserer Demokratie fürchten müßten? — Lücke: Ich kann im einzelnen nicht darüber sprechen. Diejenigen, die diese Gesetze gesehen haben, waren etwas bleich. Die Gefahr liegt darin, daß die Alliierten weder an unsere Schubladen-Entwürfe noch an unser Grundgesetz gebunden wären.”

Daraus ergibt sich folgender Tatbestand: 1. Es gibt im Bundesministerium des Innern Entwürfe für behördliche Anordnungen („Schubladen-Entwürfe“, „Gesetze“), die im Notstandsfall erlassen werden sollen.

2. Diese Entwürfe sehen die Einschränkung der Grundrechte der Bürger der Bundesrepublik vor („einschränkende Gesetze“). Nach allem, was in der Öffentlichkeit bisher über diese sogenannten Schubladen-Verordnungen bekannt geworden ist, handelt es sich um die Vorbereitung von Maßnahmen, zu deren Inkraftsetzung die Bundesregierung nach dem heutigen Grundgesetz nicht befugt ist. Die Erheblichkeit der Einschränkungen wird auch durch die Äußerung Lückes unterstrichen, diejenigen, die diese „Gesetze” gesehen hätten, seien „etwas bleich” gewesen. Die vorbereitenden Verordnungen sind also, unbestritten, auf die Ergreifung von Maßnahmen gerichtet, die das Grundgesetz oder Teile des Grundgesetzes außer Geltung setzen.

3. Diese Gesetze und Verordnungen sind nicht nur für den Fall vorbereitet worden, daß der Gesetzgeber auf dem Wege der Verfassungsänderung die Rechtsgrundlage dafür schafft, daß die vorbereiteten Maßnahmen von der Bundesregierung ergriffen werden können, wodurch zugleich die in Frage stehenden alliierten Vorbehaltsrechte (Deutschland-Vertrag 1954, Art.S Abs. 2) abgelöst würden. Vielmehr hat Lücke ausdrücklich erklärt, diese „Gesetze” sollten, wenn der Gesetzgeber sich nicht zum Erlaß einer entsprechenden Notstandsverfassung bereitfinden würde und also die entsprechenden alliierten Vorbehaltsrechte weiterbestünden, von der Bundesregierung „mit Ermächtigung der Alliierten” in Kraft gesetzt werden.

4. Die Entwürfe zielen also darauf hin, die in § 88 StGB bezeichneten Verfassungsgrundsätze außer Geltung zu setzen. Vornehmlich die erklärte Absicht, die Bundesregierung wolle sich von den Alliierten zur Ergreifung solcher Maßnahmen „ermächtigen” lassen, zielt auf die Lösung der vollziehenden Gewalt von der Bindung an Recht und Gesetz sowie auf die Aufhebung der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung hin. Ein solches Verhalten der Bundesregierung würde, auch im Notstandsfalle (siehe die Notstandsartikel des Grundgesetzes), den Tatbestand des Verfassungsverrats erfüllen (vgl. auch Prof. Dr. jur. Friedrich Klein, Rechtsgutachten in „Deutsches Panorama”, Nr. 5, Mai 1966, S. 70 ff).

5. Die Einwendung, es handele sich bei den inkriminierten Handlungen nicht um eine Beeinträchtigung des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland, da § 88 (1) Satz 2 anzuwenden sei, ist falsch. Die Vorbehaltsrechte der Alliierten sind keine der hier bezeichneten Hoheitsrechte einer „zwischenstaatlichen Einrichtung”.

6. Ein solcher in § 89 StGB definierter Verfassungsverrat ist im Bundesministerium des Innern vorbereitet worden — die Vorbereitung ist auf ein bestimmtes Unternehmen bezogen. Es handelt sich bereits hierbei um einen verfassungsverräterischen Mißbrauch von Hoheitsbefugnissen, da die Vorbereitung von Beamten des Ministeriums aufgrund ministerieller Weisungen erfolgt ist.

8. Die Vorbereitung zum Verfassungsverrat erfolgte und erfolgt vorsätzlich. Sie erfolgt ohne Rücksicht auf gewichtige Warnungen aus der Öffentlichkeit. Der Kommentator des Grundgesetzes, Prof. Klein, hat erst kürzlich in einem Rechtsgutachten (abgedruckt in „Deutsches Panorama”, Nr. 5, Mai 1966) darauf hingewiesen, daß nach allgemeinen Grundsätzen des deutschen innerstaatlichen Verfassungsrechts und auch des zwischenstaatlichen Völkerrechts die Bundesregierung nur im Rahmen und auf der Rechtsgrundlage des Grundgesetzes tätig werden darf. Klein kommt in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, daß eine deutsche Bundesregierung schon mit der Zustimmung zur Übertragung alliierter Notstandsbefugnisse auf sich „ihre Befugnisse überschreiten und sich zumindest verfassungsrechtlichen, wenn nicht gar strafrechtlichen Sanktionen aussetzen” würde (Zitat a.a.O., S. 73). Dennoch hat Bundesminister Lücke an der Vorbereitung eines verfassungsverräterischen Handelns der Bundesregierung festgehalten und sich sogar in einer Weise geäußert, die von Teilen der Öffentlichkeit als Drohung aufgefaßt wurde (vgl. dazu: „Lücke droht Gewerkschaften mit geheimen Notstandsgesetzen”, „Frankfurter Rundschau”, 4. Mai 1966, Nr. 103).

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