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Freizü­gig­keits­recht – zur Recht­mä­ßig­keit der Residenz­pflicht und der Anordnung von Wohnsitz­auf­lagen

Grundrechte-Report 2010, Seite 60

„Jede Person, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, hat das Recht, sich dort frei zu bewegen und ihren Wohnsitz frei zu wählen.“ Artikel 2 Absatz 1 4. Zusatzprotokoll der EMRK (4. ZP).

Der Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern, die sich aus humanitären Gründen in Deutschland aufhalten, wird trotz der Verpflichtung aus Artikel 2 Absatz 1 4. ZP häufig Restriktionen unterworfen. [*] Im Bereich des Freizügigkeitsrechts wird insbesondere zu zwei Maßnahmen gegriffen, die das Recht, sich innerhalb des Territoriums frei zu bewegen und anzusiedeln, einschränken: Residenzpflicht und Wohnsitzauflage. Bei der Residenzpflicht wird der Aufenthalt in der Regel auf den Bezirk einer Ausländerbehörde oder eines Bundeslandes räumlich beschränkt, mit der Folge, dass bei Verlassen des zugewiesenen Gebietes eine strafrechtliche Sanktion droht. Die Residenzpflicht gibt es insbesondere für Asylsuchende und ausreisepflichtige Personen, z.B. für „Geduldete“. Eine Wohnsitzauflage bedeutet, dass die ausländische Person verpflichtet ist, ihren Wohnsitz in einer bestimmten Gemeinde oder in einem bestimmten Bundesland zu nehmen. Das Recht, sich innerhalb der Bundesrepublik frei zu bewegen, bleibt bestehen. Von einer Wohnsitzauflage wird in der Regel dann Gebrauch gemacht, wenn die Person einen Aufenthaltstitel besitzt und Sozialleistungen bezieht.

Die neue Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag vom Oktober 2009 zumindest die Residenzpflicht so ausgestalten, dass eine hinreichende Mobilität insbesondere im Hinblick auf eine zugelassene Arbeitsaufnahme möglich ist. Die Wohnsitzauflagen hingegen sollen unberührt bleiben. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die geltende Rechtlage mit dem Freizügigkeitsrecht nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Einklang steht.
 
Voraussetzung: rechtmäßiger Aufenthalt

Einziger Anknüpfungspunkt für das innerstaatliche Freizügigkeitsrecht nach der EMRK ist der rechtmäßige Aufenthalt auf dem Hoheitsgebiet. Was ein rechtmäßiger Aufenthalt ist, bestimmt sich maßgeblich nach den innerstaatlichen Vorschriften. Dies bedeutet auch, dass unter dem Gesichtspunkt des Freizügigkeitsrechts eine Residenzpflicht für vollziehbar ausreisepflichtige Personen nicht rechtswidrig ist.

Zur Frage der Residenzpflicht von Asylbewerberinnen und – bewerbern hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im November 2007 nochmals festgestellt, dass der Aufenthalt von „ Ausländern, denen vorläufig gestattet wurde, sich bis zur Entscheidung darüber, ob ihnen nach den maßgeblichen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts eine Aufenthaltserlaubnis zusteht, in einem bestimmten Teil des Hoheitsgebiets eines Staats aufzuhalten, (…) nur so lange als „rechtmäßig“ angesehen werden (kann), wie sie die Bedingungen, an denen ihre Aufnahme und ihr Aufenthalt geknüpft sind, erfüllen.“ Der Gerichtshof sagte damit, dass während der Prüfung, ob eine „Aufenthaltserlaubnis“ aus humanitären Gründen zu erteilen ist, der rechtmäßige Aufenthalt auf das Gebiet der Residenzpflicht beschränkt ist und somit eine strafrechtliche Sanktionierung des Verlassens des zugewiesenen Gebiets nicht gegen das Freizügigkeitsrecht nach Artikel 2 Absatz 1 4. ZP verstößt. Der Aufenthalt während des Asylerfahrens ist daher sozusagen nur in diesem Gebiet rechtmäßig.

Ausdrücklich stellt der Gerichtshof fest, dass dies nur gilt, solange der Aufenthalt nur „vorläufig“ gestattet wurde, um zu prüfen, ob der betroffenen Person eine Aufenthaltserlaubnis nach dem innerstaatlichen Recht zusteht. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine Residenzpflicht und die strafrechtliche Sanktionierung des Aufenthalts außerhalb des zugewiesenen Gebietes für Personen mit einem Aufenthaltstitel rechtswidrig wäre. Das bedeutet, dass Personen mit einem Aufenthaltstitel das Recht haben, sich im gesamten Hoheitsgebiet des erteilenden Staates „frei zu bewegen und ihren Wohnsitz frei zu wählen.“ Dementsprechend bestimmt auch § 56 Absatz 3 S. 2 AsylVfG: „Abweichend von Satz 1 erlöschen räumliche Beschränkungen, wenn (…) ein Aufenthaltstitel erteilt wird.“ Konsequent regelt daher auch § 12 Absatz 1 AufenhG, dass der Aufenthaltstitel „für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erteilt“ wird.

Rechtfertigung für räumliche Beschränkungen und Wohnsitzauflagen

Die gesetzliche Grundlage für die räumliche Beschränkung des Aufenthalts und die Bestimmung eines Ortes zur Wohnsitznahme ist in § 12 Absatz 2 AufenthG enthalten („sie (die Aufenthaltserlaubnis) kann, auch nachträglich, mit Auflagen, insbesondere einer räumlichen Beschränkung, verbunden werden.“

Den europarechtlichen Rahmen für solche Ausnahmen bestimmt Artikel 2 Absatz 3 4.ZP:

„(Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ Der EGMR betont in ständiger Rechtsprechung, dass die in der Konvention und den Protokollen genannten Rechtfertigungsgründe grundsätzlich eng auszulegen sind und in einer demokratischen Gesellschaft nur solche Beschränkungen der Grundfreiheiten als notwendig angesehen werden können, die durch ein „zwingendes soziales Bedürfnis“ („pressing social need“) veranlasst sind. Auf dieser Grundlage erfolgt dann eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Eine räumliche Beschränkung des Aufenthaltsrechts (Residenzpflicht) nach Erteilung eines Aufenthaltstitels kann daher allenfalls in absolut untypisch gelagerten Einzelfällen in Betracht kommen.

Angesichts des weiteren Wortlauts von Artikel 2 Absatz 1 4. ZP („und ihren Wohnsitz frei wählen“) stellt sich die Frage unter welchen Voraussetzungen eine Beschränkung des Rechts, den Wohnsitz frei zu wählen, möglich ist. Konkret muss geprüft werden, ob eine Wohnsitzauflage „zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ gerechtfertigt sein kann, da die anderen Fallvarianten des Artikel 2 Absatz 3 4. ZP schon vom Wortlaut her nicht einschlägig sind, wenn die Auflage an den Sozialhilfebezug anknüpft. Nach der Gesetzesbegründung für § 12 Absatz 2 Satz 2 AufenthG können und sollen Auflagen dazu dienen, die Lasten bei Sozialhilfebedürftigkeit unter den Ländern und Gemeinden gleichmäßig zu verteilen sowie der Verschiebung von Sozialhilfelasten und damit einer funktionellen und finanziellen Mehrbelastung der Verwaltung entgegenzuwirken.

Die Residenzpflicht und die Wohnsitzauflage stellen sehr weitgehende Eingriffe dar, die ausländischen Staatsangehörigen die Aufrechterhaltung familiärer und freundschaftlicher Bindungen oder anderer, für die Arbeits- und Wohnungssuche wichtiger, sozialer Kontakte und eine selbstständige Lebensführung für einen nicht von vornherein beschränkten Zeitraum erschwert oder sogar unmöglich macht. Das dem gegenüberstehende Interesse der Verwaltung an der Vermeidung der Verschiebung von Zuständigkeiten kann eine prinzipielle Beschränkung der Wohnsitznahme von Personen mit einem Aufenthaltstitel, die Sozialhilfe oder ALG II empfangen, nicht rechtfertigen, da nicht ersichtlich ist, dass durch den Wechsel der Zuständigkeiten die öffentliche Ordnung in einer Weise gestört wird, die eine Einschränkung des Freizügigkeitsrechts im Regelfall „notwendig“ macht.

Aus Artikel 2 4. ZP ergibt sich, dass eine Einschränkung des Freizügigkeitsrechts im Regelfall nicht auf rein fiskalische Überlegungen gestützt werden kann. Insofern ist davon auszugehen, dass zumindest ein Großteil der die Freizügigkeit beschränkenden Auflagen, die für Personen mit einem humanitären Aufenthaltstitel bestimmt werden, nicht rechtmäßig ist.

Bei anerkannten Flüchtlingen und Personen, die subsidiären Schutz nach dem EU-Asylrecht zuerkannt bekommen, verstoßen Wohnsitzauflagen zusätzlich gegen weitere Normen aus dem Völker- und Europarecht. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2008 für Wohnsitzauflagen bei anerkannten Flüchtlingen mit Blick auf die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ausdrücklich festgestellt. Eine grundlegende Änderung der diesbezüglichen Verwaltungspraxis in Deutschland ist erforderlich, um die volle Wirksamkeit der GFK, des EU-Asylrechts und der sich aus der EMRK ergebenden Verpflichtungen im Hinblick auf die Gewährung des Freizügigkeitsrechts herzustellen.

* Die hier geäußerten Ansichten sind die des Verfassers und werden nicht unbedingt von den Vereinten Nationen oder von UNHCR geteilt.

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