Wenn sich der Rechtsstaat vermummt - Videoüberwachung von Demonstrationen
Grundrechte-Report 2010, Seite 39
Am 4. Juni 2008 findet im westfälischen Münster eine Demonstration gegen einen Atommüll-Transport statt. Abgereichertes Uran soll mit der Bahn von der Urananreicherungsanlage in Gronau nach Rotterdam gebracht werden, um schließlich in Sibirien unter freiem Himmel als „Wertstoff” zu lagern. Zwischen 40 und 70 Menschen ziehen friedlich protestierend durch die Straßen der Stadt. Schon während der Auftaktkundgebung halten die Polizeibeamten des Polizeipräsidiums Münster ihre Kamera auf die Demonstranten. Die Bilder werden auf einen Monitor in einem Polizeiwagen übertragen. Die Atomkraftgegner protestieren erfolglos beim Einsatzleiter gegen die Videoüberwachung. Der erklärt immerhin, die Filmaufnahmen würden nicht gespeichert. Die Veranstalter klagen schließlich vor dem Verwaltungsgericht Münster gegen die Videoüberwachung ihrer Demonstration.
Videoüberwachung wie in Münster – das gehört inzwischen zum Alltag von Demonstrationen in Deutschland. Dabei warnte schon 1983 das Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungsurteil vor den Folgen derartiger Überwachungsmaßnahmen. „Wer damit rechnet”, so das Gericht, „dass die Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird und ihm dadurch Risiken entstehen”, werde möglicherweise auf eine Ausübung des Grundrechts verzichten. 1985, zwei Jahre später, warnt das Gericht mit dem Brokdorf-Urteil erneut: „exzessive Observationen und Registrierungen” könnten den „staatsfreien unreglementierten Charakter von Versammlungen” gefährden.
„Staatsferne” und „Unreglementiertheit”, das klingt in den Augen mancher Polizeibehörde wie Anarchismus, den sie in Versammlungen ohnehin vermuten. So hielt das Polizeipräsidium der Klage der Veranstalter der Atomdemonstration in Münster entgegen, „dass alle Versammlungen unter freiem Himmel mit einem nie von vornherein ausschließenden Risiko verbunden sind, einen unvorhersehbaren und ggf. gefahrenbegründenden Verlauf zu nehmen.“ Aus diesem Grunde müsse die Polizei vorbereitet und in der Lage sein, ohne Zeitverzug reagieren zu können. Sprich: die Polizei muss jederzeit in der Lage sein, die Bildaufnahmen der Demonstranten zu speichern. Dafür muss die Kamera stets laufen, um – für den Fall des Falles – jederzeit auf die Aufnahmetaste drücken zu können. Das sei eine „bundesweit bewährte und bei zahlreichen Versammlungen ausgeübte Vollzugspraxis“, für die die Polizei zugleich die „selbstverständliche Akzeptanz der Beteiligten“ unterstellte, wie sie vor Gericht erklärte.
Der mündige Bürger als Sicherheitsrisiko?
In dieser obrigkeitsstaatlichen Sicht ist jeder Demonstrant ein Sicherheitsrisiko und nur der Bürger ungefährlich, der zu Hause bleibt und darauf vertraut, dass die politische Führung schon das Richtige macht, während diejenigen, die kollektiv demonstrieren, verdächtig sind, sich mittels des „Drucks der Straße“ unzulässigerweise in die Staatsgeschäfte einzumischen. Die Distanz dieser Sichtweise zum Grundrechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts ist unverkennbar, hatte das Bundesverfassungsgericht doch in seiner Brokdorf-Entscheidung betont, dass das Recht „sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln“, seit je her als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers gelte.
Das Verwaltungsgericht Münster sah zu Recht in seinem Urteil vom 21. August 2009 (Az.: 1 K 1403/08) bereits in der Videobeobachtung der Versammlung eine Reglementierung, also einen Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit: „Wer weiß, dass er als Versammlungsteilnehmer am Monitor überwacht wird, wer jederzeit ohne Kenntnis des Zeitpunkts befürchten muss, dass er „herangezoomt“ und damit als Individuum registriert wird, wer nicht wahrnehmen kann, wann bei der aufnahmebereiten Kamera beabsichtigt oder gar versehentlich der Aufnahmeknopf betätigt wird, wird sich insbesondere gravierender beeinflusst fühlen und sich daher – das gibt der Beklagte ja gerade zur Begründung seines Kameraeinsatzes an – möglicherweise anders verhalten, als derjenige, der lediglich durch Polizeibeamte ohne Einsatz technischer Hilfsmittel wahrgenommen oder mit einem Fernglas beobachtet wird.“
Versammlungsteilnehmer könnten sich, so das Verwaltungsgericht weiter, „durch die Kamerapräsenz und die damit verbundene Möglichkeit gezielter Beobachtung einzelner Personen veranlasst sehen, ihre Versammlungsfreiheit nicht oder nicht in vollem Umfang auszuüben.“ Dass die Bilder nicht gespeichert würden, sei insoweit ohne Bedeutung, da „für den Teilnehmer (…) regelmäßig nicht erkennbar sei, ob eine auch auf ihn gerichtete Kamera lediglich in Echtzeit Bilder auf einen Monitor überträgt oder aber zugleich darüber hinaus die Speicherung auf Datenträgern erfolgt.“
Damit bedarf es für die Videobeobachtung der Versammlung einer Rechtsgrundlage, die diesen Grundrechtseingriff zulässt. Das bislang als Bundesrecht geltende Versammlungsgesetz (VersG) enthält zwar in § 12a eine Erlaubnis zur Videoüberwachung. Die Vorschrift rechtfertigt aber nur die Aufzeichnung, wenn von den Demonstranten eine unmittelbare erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeht. Das war bei der friedlichen Demonstration nicht der Fall. Also gab das Verwaltungsgericht Münster der Klage der Atomkraftgegner statt und stellte die Rechtswidrigkeit der Videoüberwachung fest.
Aber die Beschränkungen des § 12 a VersG für die Videoüberwachung von Versammlungen sind einigen Landespolitikern zu eng. Seit im Zuge der Föderalismusreform das Versammlungsrecht zur Ländersache geworden ist, beraten Länderparlamente über weitergehende Reglementierungen der Versammlungsfreiheit. Am schnellsten war Bayern. Mit dem bayerischen Versammlungsgesetz soll der Polizei in Bayern stets die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen einer Versammlung erlaubt werden. Zu Schulungszwecken können darüber hinaus die Aufnahmen auch gespeichert werden. Für Schulungszwecke dürften sich wohl solche Versammlungen besonders eignen, bei denen eine „Wiederholungsgefahr” gegeben ist, wie sie die Atomkraftgegner mit ihrem schon seit mehreren Jahrzehnten andauernden Widerstand begründen.
Lackmustest für die Politik
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Eilbeschluss vom 17. Februar 2009 (Az. 1 BvR 2492/08) die bayerische Neuregelung der Videobeobachtung von Versammlungen vorläufig eingeschränkt. Übersichtsaufnahmen von Demonstrationen sind danach in Bayern nur noch zulässig, soweit sie zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes wegen der Größe und Übersichtlichkeit der Versammlung im Einzelfall erforderlich sind. Damit hat das Bundesverfassungsgericht zugleich klargestellt, dass nicht nur die Speicherung von Videoaufnahmen sondern bereits die Anfertigung derartiger Übersichtsaufnahmen einen Grundrechtseingriff darstellt. Diese Entscheidung hat erhebliche Konsequenzen, die das Verwaltungsgericht Münster mit seiner Entscheidung aufgezeigt hat: Während in Bayern Übersichtsaufnahmen einer Demo bis zu einer endgültigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das bayerische Versammlungsrecht künftig, wenn auch nur unter engen Voraussetzungen, zulässig sind, dürfen in den anderen Bundesländern, mangels Regelung, solche Übersichtsaufnahmen gar nicht gemacht werden. Und selbst auf der Grundlage bayerischen Rechts wäre der Polizei das Abfilmen einer recht übersichtlichen Versammlung mit weniger als 100 Teilnehmern, wie jener in Münster, nicht gestattet.
Es ist zu vermuten, dass die Regelungen zur Videoüberwachung von Versammlungen einer der politischen Streitpunkte bei der Schaffung von Landesgesetzen zum Versammlungsrecht sein werden. Die Videoüberwachung von Versammlungen wird damit zum Lackmustest für die Politik und ihr Verständnis von Versammlungsfreiheit: sind Versammlungen freie und grundsätzlich unreglementierte Beiträge zur Meinungsbildung in der Gesellschaft, oder sind Versammlungen eher eine Erkenntnisquelle des Staates zur Feststellung aufrührerischer Bürger, die möglichst schnell registriert und eingeschüchtert werden müssen. Letzteres wäre – je nach Sichtweise – entweder die Demaskierung oder die Vermummung des Rechtsstaats.