Demokratischer Marxismus
als theoretisches und politisches Programm
Demokratischer Marxismus
als theoretisches und politisches Programm
Franz Neumann: Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930-1954, herausgegeben von Alfons Söllner, edition Suhrkamp Nr 892, Frankfurt 1978, 477 Seiten, 14 DM.
Franz Neumann (1900-1954), einer der großen Theoretiker der Demokratie und des Sozialismus, war lange Jahre in der Bundesrepublik fast unbekannt. Das war kein Zufall, denn in der Restaurationszeit der Regierung Adenauer wurde die Gedankenwelt sozialistischer Demokratie Stück für Stück ins politische Abseits gedrängt. Auch wenn Neumann 1954 als Mitherausgeber des renommierten Handbuchs „Die Grundrechte“ hervortrat, so bedeutete dies keineswegs, daß der Sachgehalt der zeitgenössischen Analysen von Neumann – etwa die Abhandlung „Zum Begriff der politischen Freiheit“ (1953) – in der Staatsrechtslehre systematisch wahrgenommen, geschweige denn zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen gemacht wurde. Allein in der politischen Wissenschaft wurde gelegentlich auf Arbeiten von Neumann zur Struktur der Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Herrschaftssystems Bezug genommen, die sozialistischen Implikationen von Neumanns Theorie blieben jedoch strikt ausgespart.
Von der Sozialdemokratie, deren Syndikus Franz Neumann bis zu seiner Ausbürgerung durch die Nazis Anfang Mai 1933 gewesen war und in deren mittlerem und linken Spektrum er Zeit seines Lebens – als Emigrant und als Beobachter Nachkriegsdeutschlands – gestanden hatte, sind die Schriften Neumanns weder ediert noch in breiterem Umfang rezipiert worden. Dies hatte in der Ära Adenauer seinen Grund darin, daß Neumanns theoretische Zugangsweise nicht zu vereinbaren war mit jener im Godesberger Programm kulminierenden politischen Tendenz, das lebendige klassenanalytische Instrumentarium des Marxismus und die Zielsetzungen demokratischer Vergesellschaftung als Ballast abzuwerfen.
Erst Mitte der 60er Jahre, schon fast mit dem Beginn der Studentenbewegung, wurden einige Arbeiten Franz Neumanns wieder veröffentlicht und in steigendem Maße von der juristischen Linken aufgenommen. Die Gegenposition ließ indes nicht lange auf sich warten. Einer der führenden Kommentatoren des Grundgesetzes, Günter Dürig, erachtete es für nötig, im Rahmen seiner Auslegung des Gleichheitssatzes die Rezeption der Schriften Neumanns durch die seit 1968 erscheinende Kritische Justiz als geradezu amoralische Fälschung zu brandmarken (Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Grundgesetz, RdNr10, Anm 1 zu Art 3,1 GG). Gegenüber der Nicht-Befassung mit Neumann ist diese Polemik immerhin ein Fortschritt.
Der weitschichtige Komplex der Arbeiten von Franz Neumann, die dessen Herausgeber Alfons Söllner in einer reflektierten und informierenden Einleitung höchst treffend periodisiert und dabei auch die gängige Vorstellung korrigiert, der späte Neumann habe seine sozialistischen Ursprünge zugunsten eines isoliert festgehaltenen politischen Liberalismus preisgegeben, wird im Kern von einer einzigen Fragestellung beherrscht: den Konstitutions- und den Blockierungsbedingungen für ein Gemeinwesen sozialistischer Demokratie. Dieses grundlegende Problem wird in den historischen Perioden, die den jeweiligen Untersuchungsgegenstand der Arbeiten von Neumann abgeben, aus verschiedenen Perspektiven angegangen.
In der Zeit der Weimarer Republik sucht Neumann das von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung vertretene programmatische Ziel, die politische Demokratie zur Wirtschaftsdemokratie zu erweitern, in ein juristisches Interpretations- und Strategiegerüst zu übersetzen. Zu diesem Zweck werden die Grundrechte und die Wirtschaftsverfassung nicht als Bestandsgarantien der kapitalistischen Gesellschaft interpretiert, sondern unter den leitenden Gesichtspunkt des „sozialen Rechtsstaats“ gerückt, dessen „Ziel die Verwirklichung der sozialen Freiheit ist. Soziale Freiheit bedeutet, daß die Arbeiterschaft ihr Arbeitsschicksal selbst bestimmen will, daß die Fremdbestimmung der Arbeit durch die Befehlsgewalt des Eigentümers an den Produktionsmitteln der Selbstbestimmung weichen muß“ (S 70).
Mit dem Sieg des deutschen Faschismus ändert sich die Untersuchungsrichtung Neumanns. Sein Augenmerk richtet sich nun notwendigerweise darauf, die Ursachen für die Zerstörung der ersten deutschen Demokratie und die sozialen Grundlagen der nationalsozialistischen Despotie in gleicher Weise zu analysieren. Diese zweifache Fragerichtung, welche in Neumanns großem Werk „Behemoth-Struktur und Praxis des Nationalsozialismus“ (dt, mit einem ausführlichen Nachwort von Gert Schäfer, Köln 1977) systematisch verfolgt wird, liegt auch den das Dritte Reich betreffenden Aufsätzen zugrunde. In dem 1933, nach der Flucht vor den Schergen des NS-Staates, geschriebenen Aufsatz „Der Niedergang der deutschen Demokratie“ kennzeichnet Neumann in äußerster Prägnanz die Interessenlagen der gesellschaftlichen und politischen Kräfte in der Endphase der Weimarer Republik. „Die These dieses Aufsatzes ist“, formuliert Neumann, „daß die nationalsozialistische Revolution eine Konterrevolution der monopolisierten Industrie und der Großgrundbesitzer gegen Demokratie und gesellschaftlichen Fortschritt ist …, daß die Sozialdemokratische Partei und die Freien Deutschen Gewerkschaften, die als einzige Kräfte die parlamentarische Demokratie verteidigten, zu schwach waren, um dem Nationalsozialismus zu widerstehen, und daß ihre Schwäche sowohl unvermeidlich wie selbst-verschuldet war“ (S 104).
In der unverstellten Wahrnehmung des Nationalsozialismus tritt die für die Aufsätze aus der Weimarer Zeit bestimmende juristische Konstruktion zugunsten der politisch-soziologischen Analyse der gesellschaftlichen Klassenverhältnisse in den Hintergrund. Diese Erweiterung des begrifflichen Rahmens reflektiert sich in einer zuerst 1934 erschienenen Auseinandersetzung mit der „Staatslehre“ Hermann Hellers, des in Weimar führenden sozialdemokratischen Verfassungsjuristen. Gegen Hellers Position, daß der Staat als prinzipiell von den gesellschaftlichen Widersprüchen getrennt zu begreifen sei, setzt Neumann die These, daß der Staat nichts anderes sei als die jeweilige Funktion der Klassenkräfte der Gesellschaft. Hellers Konstruktion, daß „sittliche Rechtsgrundsätze“ (S 138) die Grundlage der Staatseinheit bildeten, hält Neumann die Realität der faschistischen Staaten entgegen.
In den materialen Untersuchungen der Herrschaftsordnung des Nationalsozialismus erweist sich die Fruchtbarkeit des klassenanalytischen Ansatzes für eine Theorie der Diktatur bzw. der Demokratie. Neumann zeigt, wie das autoritäre politische System des Nationalsozialismus mit den Interessen der industriellen und agrarischen Führungsklassen korrespondiert. Deren imperialistische Ziele, fast ganz Europa ökonomisch zu beherrschen, können nur durchgesetzt werden, wenn die Demokratie beseitigt wird.
Denn: „Die totale Organisierung der Gesellschaft für den Aggressionskrieg kann nicht zustandekommen innerhalb des Institutionensystems der politischen Demokratie“ (S 256). Gegenüber der unspezifischen Charakterisierung des Nationalsozialismus als eines totalitären Staates, der alle gesellschaftlichen Sphären in gleicher Weise seiner absoluten Bestimmungsgewalt unterworfen habe, differenziert Neumann sehr genau nach den jeweiligen Interventionsbereichen. In bezug auf den politischen Bereich, vor allem im Blick auf die politischen Freiheitsrechte, ist der Staat in der Tat totalitär. Für den wirtschaftlichen Bereich gilt dies jedoch grundsätzlich nicht. Die wichtigsten privaten Eigentumspositionen bleiben erhalten, sie werden nicht in die Hände des Staates gelegt. Der NS-Staat „stabilisiert die Diktatur des Eigentums … als Herrschaft über den Menschen in seiner Stellung als Arbeiter, als Konsument und als Bürger“ (S 216f).
Nach dem Zerbrechen des Dritten Reiches wechselt wiederum die leitende Fragestellung von Franz Neumann. Sie richtet sich nun darauf, die Bedingungen für die Konstituierung einer stabilen, bis in die gesellschaftlichen Fundamente hineinreichenden Demokratie in Deutschland theoretisch und praktisch ins Auge zu fassen. Von der Euphorie einer Stunde Null ist Neumann im Unterschied zu vielen Illusionen der zeitgenössischen Sozialdemokratie weit entfernt, weil er die innen- und außenpolitischen Gegenkräfte, die der praktischen Durchsetzung gesellschaftlicher Demokratie im wege stehen, unverstellt erkennt.
In vier großen zwischen 1947 und 1952 geschriebenen Aufsätzen entfaltet Neumann ein reich gegliedertes Panorama der sozialen und politischen Gegensätze jener Periode, das in kaum einer der späteren Monographien in dieser Weite und Exaktheit wieder erreicht wurde. In der durch die Entnazifizierung kaum tangierten Bürokratie, in den wiedererstarkenden Wirtschaftsmächten, in der nur wenig veränderten Zusammensetzung der Bildungsinstitutionen und in der durch die beginnende Wiederbewaffnung bewirkten Eingliederung der Offiziere der Wehrmacht erblickt der Autor diejenigen restaurativen Faktoren, welche der demokratischen Erneuerung entgegenstehen. Als einzige Basis für eine lebensfähige Demokratie Westdeutschlands erscheint Neumann die Arbeiterbewegung, zu der er vor allem die Sozialdemokratie, die Gewerkschaften, die linken Gruppen der christlich-demokratischen Parteien und – bei aller sonstigen Kritik am Stalinismus – die Kommunistische Partei rechnet. Aber Neumann ist skeptisch, ob die Aktionsfähigkeit der Arbeiterbewegung ausreichen wird, dem restaurativen Druck genügend Widerstand entgegenzusetzen. Neumann erinnert an die kampflose Anpassung der Gewerkschaften an das NS-Regime, um die nicht bloß historisch gemeinte Feststellung zu treffen, daß den Gewerkschaften seinerzeit „die Aufrechterhaltung der organisatorischen Integrität… sehr viel wichtiger geworden (war) als jede weitreichende politische Zielvorstellung“ (S 396). Auch die Schwäche der Sozialdemokratie sieht er darin, daß sie ihr Programm „nicht militant genug“ (S 354) vertritt. Aber Neumann ist auch nicht blind für die objektiven Schranken sozialistischer Politik in Westdeutschland, die durch die Option der stärksten westlichen Besatzungsmacht für die Privatwirtschaft gesetzt wurde. Diese Tatsache gibt den ökonomischen Herrschaftsgruppen einen Rückhalt, mit dem eine wesentliche Schwäche der Demokratie der Bundesrepublik vorprogrammiert ist. Denn diese Gruppen „sind heute nicht und waren niemals leidenschaftliche Verfechter der Demokratie“ (S 325).
Wenn man das in den Arbeiten von Neumann zutage tretende methodische Instrumentärium in eine Formel preßt, so könnte man sagen, daß sich in seinem Denken vor allem zwei Momente zu einer Einheit verbinden: eine empirisch fundierte historisch-politische Analyse des Feldes der gesellschaftlichen Kräfte und eine systematische Rezeption der in der Aufklärungsphilosophie von Locke über Rousseau bis Karl Marx entwickelten Theorien politischer und sozialer Freiheit.
Diese Zugangsweise bringt Neumann in eine mehrseitige Frontstellung. Gegenüber den konservativen Ideologien, welche die Ewigkeit gesellschaftlicher und politischer Hierarchien behaupten, hält Neumann an der Möglichkeit geschichtlicher Strukturveränderungen von Herrschaftsbeziehungen fest. Gegenüber den parteikommunistischen Vorstellungen, welche die staatsabsolutistische Verfügung über die Produktionsmittel mit dem Sozialismus verwechseln, besteht Neumann auf den bürgerlich-demokratischen Errungenschaften von 1789. Aber auch die reformkapitalistische Programmatik der Sozialdemokratie, welche die Verbindung von politischer Demokratie und privater Wirtschaftsordnung zum Endpunkt der Geschichte macht, findet in Neumann einen Theoretiker, der die Unvollkommenheit der demokratischen Strukturen, ihre gefährliche Halbheit, in den Blick rückt.
Die Arbeiten Franz Neumanns sind in einer Sprache geschrieben, die sich von professioneller Verschrobenheit, wie sie in der akademischen Wissenschaft vielfach anzutreffen ist, abhebt. Neumanns Sprache ist unverkennbar durch den Umkreis der alten Arbeiterbewegung, in der er lange Jahre hindurch gewerkschaftliche Kurse abgehalten hat, geprägt. Neumann schreibt, um sich mitzuteilen und zu wirken, nicht um sich darzustellen. Dies entspricht dem Gehalt seiner Theorie, die darauf zielt, die Demokratie in die tätige Wirklichkeit aller Individuen zu verwandeln. Das ist auch aktuell bedeutsam. Gegen jene mächtigen politischen Kräfte in der Bundesrepublik, welche den demokratischen Marxismus zu ihrem Feind erklärt haben, gewinnen die Texte Neumanns lebendige Schärfe – wenn sie gelesen werden.