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Zwanzig Thesen über die Unwis­sen­schaft­lich­keit der Theologie

vorgängevorgänge 12/196901/1970Seite 413-414

Vorgänge 12/1969, S. 413-414

(vg) Von Dr. Joachim Kahl, dem Autor des Buches „Das Elend des Christentums, oder: Plädoyer für eine Humanität ohne Gott“ (rororo 1093), erschien in den Vorgängen zuletzt das „Plädoyer für die Abschaffung der Kindertaufe“ (vg 11/68, 385 ff ). Der nachfolgende Beitrag über die Unwissenschaftlichkeit der Theologie ist eine wichtige Ergänzung zu dem in vg 10-11/69, 351 ff, publizierten Hauptartikel von Rütger Schäfer: „Die theologische Fakultät – ein staatskirchliches Relikt“ (und der in den vg schon länger zum Thema geführten Diskussion).
Als Erstdruck erschienen die „20 Thesen“ Kahls übrigens in dem „deutschen Studienmagazin“: „apekte“, Frankfurt/Main (Mauerweg 10), einer von dessen Verlag in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg, herausgegebenen Zeitschrift für die Vorbereitung der Berufswahl der Oberschüler.

Zum Stellenwert des Problems

1. Die Kritik an der strukturellen Unwissenschaftlichkeit jeder Art von Theologie hat einen doppelten Aspekt: einen wissenschaftstheoretischen und einen hochschulpolitischen.

2. Beide Aspekte dürfen nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang mit der heute in jeder Disziplin erforderlichen materialen Wissenschaftskritik und der notwendigen Demokratisierung der Universität gesehen werden.

3. Der Vorwurf gegen die Theologie wie auch gegen die ihr zugeordnete organisatorische Einheit (Fakultät oder Abteilung) geht dahin, daß beide nicht dem Anspruch wissenschaftlicher Autonomie genügen und als solche notwendig nicht genügen können.

Wissenschaft

4. Die Unwissenschaftlichkeit der Theologie ergibt sich nicht aus einem ganz spezifischen (möglicherweise umstrittenen) Wissenschaftsbegriff, sondern aus der elementaren Voraussetzung jedes Wissenschaftsbegriffes: allein der kritischen Rationalität verpflichtet zu sein.

5. Kritische Rationalität – im Unterschied zu Dogmatismus – bedeutet, daß der gesamte Forschungs- und Erkenntnisprozeß einem Legitimationszwang unterstellt ist. Jede Prämisse, jede Methode, jeder Gegenstand, jedes Ziel, jedes Ergebnis unterliegt der öffentlichen und ungehemmten Diskussion aller Beteiligten. Nichts, auch nicht der wissenschaftlicher Kanon selber, ist a priori und ein für allemal festgelegt, sondern steht der Kritik und der möglichen Korrektur oder gar Falsifikation offen.

6. Diese oft langwierige und schwierige Prozedur der gegenseitigen Kritik und Kontrolle ist notwendig, weil das menschliche Erkenntnisvermögen infolge seiner Endlichkeit aufhebbar der Möglichkeit des Irrtums unterworfen ist. Insofern ist Wissenschaft „methodisierter Zweifel“, und jeder Anspruch einer Person, einer Partei oder einer kirchlichen Institution auf Unfehlbarkeit ist als antiwissenschaftlich zu denunzieren.

7. Wissenschaft gedeiht im Medium herrschaftsfreier Diskussion, in der nicht Autorität, sondern allein die Kraft des besseren Argumentes entscheidet.

8. Aus alledem, das heißt: aus der Eigenart wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens selbst, folgt die Forderung nach einer demokratischen und autonomen Universität. Alle Abhängigkeiten des Forschungs- und Lehrbetriebes von außeruniversitären Instanzen (z. B. privatindustriellen Geldgebern) wie auch von professoralen Zunftprivilegien müssen abgebaut werden.

Theologie als Pseudo­wis­sen­schaft

9. Die institutionalisierte Abhängigkeit der Theologie von einer universitätsexternen gesellschaftlichen Größe, der Kirche, beweist, daß die Theologie nicht nur keine autonome Wissenschaft ist, sondern auch keinen Anspruch auf Autonomie erhebt. Die theologische Fakultät (Abteilung) ist die Agentur der Kirche in der Universität, das Relikt eines vordemokratischen Staatskirchentums.

10. Die Abhängigkeit der Theologie von wissenschaftsfremden und partikularen Interessen dokumentiert sich am deutlichsten in der konfessionellen Spaltung der Fakultäten (Abteilungen) sowie in der kirchlichen Zensur bei der Besetzung der Lehrstühle. Nur ein Christ der jeweiligen Konfession kann als Dozent bestallt werden, und zwar erst nachdem ein kirchliches Gutachten über seine Rechtgläubigkeit eingeholt wurde.

11. Diese Regelung, die jede Lehrfreiheit im strengen Sinn verhindert, verhindern soll, und nur zu vergleichen ist mit einem – glücklicherweise noch nicht vorhandenen – Mitspracherecht der Unternehmerverbände bei der Besetzung von wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühlen, ist ein sicheres Indiz für die strukturelle Unwissenschaftlichkeit der Theologie. In der Tat entspricht der äußeren Bindung der theologischen Fakultät (Abteilung) an die Kirche die innere Bindung der Theologie an die „Offenbarung“, das „Evangelium“, den „Glauben“.

12. Zwar arbeitet keine Wissenschaft ohne Voraussetzungen, zwar liegt jeder rationalen Erkenntnis ein „erkenntnisleitendes Interesse“ (Habermas) zugrunde, jedoch werden sie niemals dogmatisiert, sondern bleiben stets hinterfragbar. Theologie dagegen tritt notwendig affirmativ an ihre Voraussetzungen („Offenbarung“, „Evangelium“, „Glauben“) heran. Während Wissenschaft gerade alle maximalen Ansprüche (auf Offenbarung, allen Menschen das Heil zu bringen, die unüberholbare Wahrheit zu sein usw.) kritisch prüft und auf ihre rationale Legitimation befragt, setzt Theologie die Wahrheit des christlichen Anspruchs immer schon voraus. Wo Wissenschaft Beweise fordert und nichts unbesehen akzeptieren kann, ruft Theologie zu dem gläubigen und verantwortungslosen Vertrauen auf, das sie selbst voraussetzt: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Johannes-Evangelium 20, 29)

13. Theologie behauptet ex auctoritate, Wissenschaft argumentiert ex ratione.

14. Die Rolle der menschlichen Vernunft ist in der Theologie reduziert auf das, was die altprotestantische Orthodoxie den „usus organicus rationis“ nannte. Die Vernunft dient lediglich als organon, als Werkzeug, das den vorgegebenen Inhalt der Offenbarung kritiklos aufzunehmen und nur nachträglich zu entfalten hat. Insofern ist theologisches Denken immer exegetisches Denken.

15. Der theologische Vernunftbegriff zeigt eine enge Verwandtschaft zum Positivismus, wo ebenfalls die Vernunft zum Instrument formalisiert wurde, das vorgegebene Zwecke und Ziele erreichen hilft (Zweckrationalität). Positivismus und Theologie stimmen darin überein, daß sie beide die normative Orientierung des Handelns einer rationalen Begründung wie auch einer rationalen Kritik entziehen. Werden aber Normen nicht von der Vernunft bestimmt, so werden sie not-wendig der Unvernunft ausgeliefert: sie werden heteronom gesetzt – wozu die Theologie den vermeintlichen Willen Gottes bereithält. Die beschnittene Vernunft wird komplettiert durch „Offenbarung“.

16. Der Vorwurf der strukturellen Unwissenschaftlichkeit schließt eine partielle Wissenschaftlichkeit der Theologie im Bereich der instrumentellen Vernunft nicht aus. Im Gegenteil verstehen viele Vertreter der Universitätstheologie es geschickt, die Ergebnisse und Methoden anderer Disziplinen (namentlich der Geschichtswissenschaft, der Philosophie und neuerdings der Soziologie und der Politologie) für ihre dogmatische Arbeit fruchtbar zu machen. In einzelnen Fällen geraten die rezipierten kritischen Theoreme, zumal wenn sie aus dem Kontext der materialistischen Dialektik stammen, in Gegensatz zum theologischen Ansatz und lösen die Lehre von der Offenbarung heimlich in Sozialphilosophie auf. Diesen Prozeß gilt es zu fördern, offen durchzuführen und institutionell abzusichern.

Religionswissenschaft

17. Mit der theologischen Fakultät (Abteilung) darf nicht zugleich die wissenschaftliche Analyse religiöser Phänomene überhaupt, namentlich der jüdisch-christlichen Tradition, von der Universität verbannt werden. Im Gegenteil: die bisher von dem kirdtlidt-theologischen Monopol fast völlig verdrängte Religionswissenschaft muß eine eigene Abteilung erhalten.

18. Unter den drei Aspekten der Geschichte, der Soziologie und der Philosophie wird in einer kritischen Theorie der Religion untersucht, welchen Beitrag die bisherigen Religionen im Prozeß der Selbstkonstitution der Gattung Mensch geleistet haben.

19. Eine vornehmliche Aufgabe ist die hermeneutisch reflektierte Vermittlung und kritische Aneignung der religiösen Traditionen, und zwar besonders des in ihnen enthaltenen utopischen Potentials. Die Theologie ist hierzu wie zu einem historischen Begreifen des Christentums überhaupt unfähig, wie einst Franz Overbeck nachwies.

20. Die religionswissenschaftliche Abteilung könnte einen Teil der Ausbildung derjenigen Studenten leisten, die als spätere Lehrer das Fach Philosophie unterrichten wollen, das an die Stelle des abzuschaffenden christlichen Religionsunterrichtes treten muß.

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