Publikationen / vorgänge / vorgänge 1985

Rede vor dem Amtsgericht in Schwäbisch Gmünd

Ich habe, zum ersten, wiederholt in Mutlangen demonstriert, weil ich dazu beitragen wollte, hier und heute einen öffentlichen Dialog jener Art wieder aufleben zu lassen, wie er in den fünfziger Jahren, auf hohem Niveau und mit einem Maximum an Verantwortungsbewußt-sein, geführt worden ist: zu einer Zeit, als langsam deutlich zu werden begann, was die Lagerung von atomaren Ersteinsatzwaffen auf bundesrepublikanischem Boden bedeutet. Bereitstellung von verwundbaren Zielen; Provokation des Gegners; Gefährdung der Bevölkerung; Erhöhung der Kriegsgefahr.
Ich habe, zum zweiten, demonstriert, weil ich, nach umfassendem und sorgfältigem Quellenstudium, zu der Ansicht gekommen bin, daß die neue, dem Prinzip »Wir müssen überlegen sein« folgende amerikanische Militärstrategie die These des Verteidigungsexperten General
a.D. La Rocque bestätigt: »Die Amerikaner gehen davon aus, daß der dritte Weltkrieg ebenso in Europa ausgetragen wird, wie der erste und zweite… und dieser Krieg wird ein nuklearer sein«. Ich habe, im Rahmen unserer Tübinger Friedensgruppe »Gustav Heine-mann«, demonstriert, weil ich mit dem amerikanischen Sachverständigen in Abrüstungsfra-gen, C. Paul Warnke, übereinstimme: »Wäre ich Europäer, mit Händen und Füßen würde ich mich gegen die Installierung der abschreckungsfeindlichen, weil den Krieg ‚regionalisierenden‘ Pershing II wehren«.
Ich habe, zum dritten, demonstriert, weil ich meine, daß die Offensivstrategie der Amerikaner, wie sie sich vor allem in den Plänen Field Manual FM 100-5 und AirLand Battle 2000 niederschlägt, die Vorbereitung eines Angriffskrieges für opportun hält – wobei ich sehr
wohl weiß, daß Vorbereitung eins und Ausführung ein anderes ist; aber auch die Vorbereitung hat als Handlung zu gelten, die »geeignet erscheint, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören«. Das heißt, wer hierzu-lande Ja zu Dokumenten vom Rang der Air Land Battle 2000 sagt, muß sich vorhalten las-sen, daß er gegen den Geist und gegen zentrale Aussagen des Artikels 26 unseres Grundgesetzes verstößt.
Ich habe, viertens, demonstriert, weil ich mich meinen Freunden in der DDR, die sich als Christen und Sozialisten verstehen, gegenüber im Wort weiß: Sie, die mit Courage und Beharrlichkeit gegen die Hochrüstung in Ost und West opponieren, dürfen von uns erwarten, daß wir das Unsere tun, um zur Beseitigung jener Waffen beizutragen, die man, zu Recht, zwischen Elbe und Oder in einer Weise fürchtet, von der wir uns hier leider nur eine unzureichende Vorstellung machen.
Ich habe, fünftens, demonstriert, weil ich, ein sogenannter »Prominenter«, mich der Verpflichtung erinnere, auch künftig vor Ort, im Geist des Friedens und der Freundlichkeit, präsent zu sein. Ich habe, sechstens, demonstriert, weil ich jene amerikanischen Soldaten durch Zeichen und friedliche Symbole (»Da schaut her und redet mit uns!«) auf ihre und unsere Sache aufmerksam machen wollte, die uns im vergangenen Jahr zur Seite standen. (Die farbigen Uniformierten voran: »Wir sind mit Sie«, riefen sie uns zu). Natürlich habe ich darauf verzichtet, die Medien auf unsere Demonstration aufmerksam zu machen: Der Vor-teil, daß in dem Fall die Wagen erst nach Ende der Blockade aufgetaucht wären, hätte den Nachteil der Wichtigtuerei und der Bitte um ei-ne Extrabehandlung nicht aufgewogen. Ich wollte in aller Stille mit meinen Freunden ein Zeichen setzen – »Wir sind auch noch da, ihr Brüder und Schwestern in Christo, fröhliche Sozialisten in Magdeburg, Halle, Greifswald oder Rostock!« Kein großer Aufwand, keine Kameras, keine Blockade, wie sie die Brummi-Fahrer in Kiefersfelden vornahmen: belobt
wegen ihrer tage- und kilometerlangen Straßensperre, während eine Handvoll friedlicher, meist älterer Menschen, die nicht für Partikulär-, sondern Allgemein-Interessen votierten, unter Anklage gestellt wurden, weil sie die Fahrer von drei amerikanischen Wagen »zwangen«, für eine Zigarettenlänge anzuhalten (beziehungsweise sich durch einen anderen, 300 Meter entfernten Eingang ins Innere zu begeben).
Mutlangen-Festival der Prominenz, Bauern-Demonstration im Kinzigtal, Aufmarsch vor Kiefersfelden: keine Anklage. Sit-ins der Namenlosen: Anklageerhebung. Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz? Papperlapapp! Aufkündigung des Grundprinzips jeden Rechtsstaats: der Rechts-Gleichheit aller!
Ich habe, siebtens und letztens, demonstriert, weil ich an jene gedacht habe, in der Sowjetunion, auf die »unsere« Pershings gerichtet sind.., jene, deren Jahrgängen 1922, 1923 — 98 Prozent gegen Hitlers Truppen gefallen — ich es, neben den West-Alliierten, verdanke, daß ich heute freimütig fragen kann, warum so wenige in unserem Lande begreifen, daß man im Lande der 20 Millionen Kriegstoten Angst vor uns hat.
Ja, und da werde ich nun beschuldigt — ich zitiere einen ebenso fragwürdigen wie in deplorablem Deutsch formulierten Abschnitt des Strafgesetzbuches —, eine Tat begangen zu haben, die rechtswidrig ist… und verwerflich! »Rechtswidrig ist die Tat« – § 240, 2. Absatz —, »wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist«. Zu dem angestrebten Zweck (modal? final? Oder was sonst?) — diese Formulierung zeugt nicht gerade von Bemühung um scharfes Denken und präzise Artikulation. Im Verhältnis zu dem an-gestrebten Zweck — das ist mit dem salopp und obenhin formulierten »zu« offensichtlich gemeint. Sei’s drum. Aber bei verwerflich: Da hört der Spaß auf, da wird’s bitterernst. Verwerflich: Dieser Begriff trifft auf unsere Demonstrationen nicht zu. Hier werden Men-schen, die aus ehrenwerten Motiven handeln, im Geist Albert Schweitzers, Martin Luther Kings, Eugen Kogons, Walter Dirks‘ oder Kurt Scharffs, moralisch disqualifiziert. Will das Gericht dies tatsächlich tun, dann möge es konsequent sein und darauf achten, daß in den Martin-Luther-King-Passagen unserer Lesebücher künftig die Fußnote gedruckt wird: »Dieser Mann hat nach bundesrepublikanischer Rechtsprechung verwerflich gehandelt«.
Verwerflich — das bedeutet, im natürlichen Wortsinn, moralisch mijibilligenswert… im natürlichen und auch im juristischen! Verwerflich ist kein Terminus technicus der Jurisprudenz, kein Begriff der Fachsprache, sondern auch für den Richter ein Adjektiv, das er im Sinne des Gemeinverständnisses verwendet: »Erhöhter Grad sittlicher Mißbilligung — so die Kommentierung des Begriffs. Verwerflich heißt amoralisch, heißt »sozialethisch zu verwerfen«. Kein Wunder also, daß die einhellige Lehre zur Voraussetzung des Mords aus heimtückischen Motiven — des Mords! — die verwerfliche (!) Ausnützung eines bestehenden Vertrauensverhältnisses macht. Nötigung (an der untersten Grenze, wie Staatsanwalt und Richter sagen): verwerflich wie heimtückischer Mord verwerflich ist? Amoralisch in Übereinstimmung mit der üblichen Verwendung des Begriffs? (Verwerflich, man kann’s im Grimm’schen Wörterbuch nachschlagen, heißt religiös und sittlich minderwertig, ungehörig und geringwertig. Der verwerfIiche Richter, das ist der unglaubwürdige, ethische suspekte Mann. Verwerflicher Mensch: ruchlos und sittenlos).
Und — das ist ungeheuerlich! — solcher Verwerflichkeit will man uns zeihen: Ja, wo leben wir denn? Immer noch im Vorgestern, wie die — durchsichtige Tarn-Übersetzung des Begriffs »gesundes Volksempfinden« zu zeigen scheint? (Im Dritten Reich »gesundes Volks-empfinden«, heute »verwerflich«: hier wie dort manifestiert sich das gleiche Gut-Böse-Schema einer aufklärungsfernen Gerichtsbarkeit). Anstiftung zum Frieden als verwerflicher Akt: Diese Schreckensvision- hätte mir mal einer ausmalen sollen, anno 45, nach der Befreiung unseres Landes vom Faschismus — für aberwitzig hätte ich den Menschen erklärt! Der angestrebte Zweck (worunter ich bei genauer Exegese des unscharf-vieldeutigen Satzes den durch symbolische Zeichensetzung demonstrativ und appellativ erbetenen Dialog über Fragen von Leben und Tod verstehe (Heilbronn als Menetekel!) … der angestrebte Zweck: verwerflich? Nein, diese Etikettierung ist zurückzuweisen. Hier geht es um Ehrabschneidung, um moralische Disqualifikation, um Antasten der Würde aller Angeklagten, um einen eklatanten Verstoß gegen den Artikel 1 des Grundgesetzes, der durch keine Ehrenerklärung nach der Verurteilung aus der Welt geschaffen werden kann.
Verwerflich — dieses Wort darf so nicht stehenbleiben, nicht hier und nicht künftig. Es hat im Paragraphen 240 nichts zu suchen — nichts in einem Rechtsstaat, dessen Jurisdiktion die Würde jedermanns zu wahren hat, so wie es das Grundgesetz vorschreibt. Doch dieses Grundgesetz eben wird im Kern ausgehöhlt, wenn die Formel »verwerflich« im Kontext ehrenhafter Bemühungen um den Frieden zur obrigkeitsstaatlichen Drohformel wird, die autoritär bestimmt, was sozial verbindliches Ethos ist und was nicht.
Im Sinne solcher von keiner Aufklärung berührten Wert-Setzung fühle ich mich nicht nur — das ohnehin — unschuldig, sondern von diesem Gesetzestext als Demokrat überhaupt nicht tangiert — nicht tangiert, weil Absatz 2 des Paragraphen 240 sich wegen des Begriffs »verwerflich« nach meiner Ansicht, bezogen auf unseren Fall, außerhalb der durch Artikel 1 des Grundgesetzes (»Die Würde des Menschen ist unantastbar«) definierten Rechtsordnung bewegt.
»Verwerflich«: zehn Minuten Demonstration zugunsten des Friedens, auf einer Straße, hinter der Waffen lagern, die, wie der Fall Heilbronn gezeigt hat, Vernichtung für Zeit und
Ewigkeit bergen? Der Versuch, auf dem Weg zum Abgrund eine winzige Panne befördern zu helfen – verwerflich? Ich fürchte, hier feiert der Ungeist des »gesunden Volksempfindens«, der Ungeist einer totalitären Rechtsprechung seine späten und bösen Triumphe.
Ich bitte den Richter als den souveränen und verantwortlichen Ausleger des Gesetzes, diesem Spuk ein Ende zu bereiten und die Unangemessenheit des Paragraphen im Urteilsspruch sichtbar zu machen: durch einen Freispruch.

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