Angriff auf die Löhne. Ausweitung erzwungener Leiharbeit für Erwerbslose
Grundrechte-Report 2003, S. 112-116
In ungewohnter Eile hat die Bundesregierung die Empfehlungen der «Hartz-Kommission» zur schnelleren Vermittlung von Erwerbslosen in Beschlüsse und Gesetze umgesetzt. Kernstück der Entwicklung ist die großflächige Ausweitung der Leih- bzw. Zeitarbeit und die damit verbundene Installierung von Personal-Service- Agenturen (PSA). Die vertragliche Kooperation mit bereits tätigen Zeitarbeitsfirmen soll dabei Vorrang haben. Die Erwerbslosen gelten dann als dort «angestellt» (d. h. sie erscheinen nicht mehr in der Statistik) und erhalten zwischen zwei Leiharbeitsverhältnissen eine Bezahlung in der Höhe ihrer Arbeitslosenunterstützung.
Die Voraussetzungen für diese Ausdehnung waren bereits im April 1997 mit dem Arbeitsförderungsreformgesetz geschaffen worden, das dann im Januar 1998 in das Sozialgesetzbuch III einfloss.
Zentrale Aspekte dieser Entwicklung sind:
• die Abschaffung des Berufsschutzes: Das bedeutet die Vermitt- Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen Art. 12 (1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. lung von Erwerbslosen ohne Berücksichtigung ihrer Qualifikationen, Interessen oder Fähigkeiten. • die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung und damit die massive Ausweitung des Zwangs zu irgendeiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Maßnahme der «Beschäftigungsförderung »; bei Ablehnung werden die sozialen Leistungen befristet gesperrt oder sogar ganz eingestellt. Die Vermittlung in Leiharbeit und befristete Beschäftigung war schon zuvor ermöglicht worden.
Dieses Regelwerk eröffnete mehr denn je die Möglichkeit, Erwerbslose zu irgendwelchen Tätigkeiten zu verpflichten, selbst dann, wenn diese nur wenige Wochen dauern oder mit Niedriglöhnen bezahlt werden. Das Januar 2002 in Kraft getretene «Job- AQTIV-Gesetz» erweiterte dazu die Spielräume der Arbeitsverwaltungen, Leistungen zu sperren. Die Intensivierung des Arbeitszwangs geschieht in der behördlichen Praxis, alltäglich und unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Vorrangige Vermittlung in die Leiharbeit
Die neuen Gesetze, die größtenteils zu Jahresbeginn 2003 in Kraft traten, haben den Druck weiter erhöht und zwar durch eine Neuerung: Jede / r arbeitsfähige Erwerbslose muss unmittelbar nach Beginn der Erwerbslosigkeit in eine PSA bzw. eine etablierte Zeitarbeitsfirma, wobei die Sachbearbeiter verpflichtet sind, auch bereits Erwerbslose dorthin zu schicken. Zwar gab es bereits in der Vergangenheit derartige Vermittlungen, aber ihre Umsetzung hatte mehr oder weniger im Ermessen der Sachbearbeiter gelegen. Geplant ist darüber hinaus, die Angestellten der Agenturen zwischen den Leiharbeitseinsätzen weiter zu qualifizieren. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Qualität dieser Weiterbildungen aussehen wird, da die neuerliche Vermittlung unbedingt Vorrang haben soll. Die Maßnahme muss sofort abgebrochen werden, wenn sich eine Arbeitsstelle findet.
Ein Blick auf die bisherige Praxis der Leiharbeit macht deutlich, mit welcher Intention diese Form der Arbeitsverhältnisse vorangetrieben wird. Seit 1991 hat sich die Zahl der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter auf 360000 erhöht und damit verdreifacht. Von «gleichem Lohn für gleiche Arbeit» ist man dabei weit entfernt, denn es wird in der Regel bis zu 40 Prozent weniger als der Tariflohn bzw. der ortsübliche Lohn gezahlt; auch betriebliche Leistungen haben für diese Beschäftigten keine Geltung. Nach bisherigen Erhebungen ist nur etwa jeder Fünfte länger als sechs Monate beschäftigt; von einem «Sprung in den ersten Arbeitsmarkt » kann von daher nur in wenigen Fällen die Rede sein.
Aus Beschäftigung wird Leiharbeit
Das Unternehmen Siemens hat Ende 2001 die Vorzüge dieses Systems für die Betriebe erkennen lassen: 1000 Beschäftigte wurden entlassen und im Anschluss daran 800 von ihnen wieder an ihren alten Arbeitsplätzen eingesetzt, und zwar zu 20 Prozent weniger Lohn. Die «Hartz-Kommission» formulierte diese Vorzüge in aller Klarheit: Zum einen gebe es für die Unternehmen mit Leiharbeitsverhältnissen keine arbeitsrechtlichen Verpflichtungen und keine Kostenrisiken bei der Personalsuche; zudem werde der Kündigungsschutz «neutralisiert», weil diese Beschäftigten jederzeit entlassen werden können. Berücksichtigt man zudem die schlechtere Bezahlung, dann ist das Ziel offenkundig, denn Stammbelegschaften werden sukzessive so weit wie möglich ausgetauscht, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden nach Bedarf geordert, und auf bestehende Entlohnungen wird Druck ausgeübt. Die Rolle der Einzelgewerkschaften war bei der tarifvertraglichen Regelung der Leiharbeit eher fragwürdig, da sie in einzelnen Branchen nachgerade die ungleiche Bezahlung zementierten. So sind Tarifvereinbarungen bekannt, die Bruttostundenlöhne von 5,11 Euro – und damit an der Grenze zum Wucherlohn – festlegten (vom Sozialgericht Berlin wurde im Jahr 2002 ein Stundenlohn von 11 DM als Wucherlohn und damit als «Verstoß gegen die guten Sitten» bezeichnet).
Die Bundesregierung setzt sich das Ziel, mit der massiven Ausweitung der Leiharbeit die Arbeitslosigkeit drastisch zu verringern. Mit Zwang und Disziplinierung will man Erwerbslose auf einen Arbeitsmarkt drängen, der zunehmend weniger existenzsichernde Arbeitsplätze bereithält. Da zukünftig entstehende Beschäftigungsverhältnisse primär mit Leiharbeitern besetzt werden – und die Erfahrungen in der Vergangenheit zeigen dies – werden keine neuen Stellen geschaffen, sondern es findet ein Austauschprozess statt, der die Hoffnung auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze obsolet werden lässt.
In Ostdeutschland war die Praxis der Leiharbeit bislang ein Nullsummenspiel, da selbst der Austausch von Stammbelegschaften mangels Stellen nicht gelingt. Überhaupt wird in den Hartz- Gesetzen ignoriert, dass es dort in gravierendem Umfang an Stellen mangelt, und zwar gleichgültig, ob sie existenzsichernd sind oder nicht. Die Leiharbeit großflächig durchzusetzen und der Vermittlung unbedingten Vorrang geben zu wollen, erscheint vor diesem Hintergrund als völlig realitätsferner Aktionismus.
Lohnsenkung statt Reduzierung der Arbeitslosigkeit
Dass durch diese Strategien die Arbeitslosigkeit reduziert wird, wird auch von Praktikern bezweifelt. So äußerte der Direktor des Arbeitsamtes Frankfurt a. M., das bereits ausgiebige Erfahrungen mit der Leiharbeit sammelte (in Hessen waren Leiharbeitsfirmen schon im Jahr 2002 die größten Arbeitgeber), große Skepsis, da beispielsweise in Hessen innerhalb eines Jahres mittels der Leiharbeit noch nicht einmal 1000 Erwerbslose in den ersten Arbeitsmarkt wechselten, wobei unbekannt ist, wie lange die Beschäftigungen dort dauerten und wie sie bezahlt wurden.
Die Ausweitung derartiger Leiharbeitsverhältnisse hat real weniger mit der Schaffung neuer existenzsichernder Arbeitsplätze zu tun, sondern ist im Kontext einer allgemeinen, umfassenden Lohnsenkungsstrategie zu sehen. Berücksichtigt man dabei auch die Absenkung staatlicher Sozialleistungen und die zunehmende Privatisierung von Lebens- und Arbeitsrisiken (wie bei der Rentenreform), dann wird die Strategie der Verminderung des Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten deutlich, und zwar als Teil einer breiten Deregulierung des Arbeitsmarktes im Dienste der Unternehmen.
Dabei darf nicht vergessen werden: Leiharbeit ist eingebettet in eine umfassende, gesetzlich verankerte Zwangsapparatur für Erwerbslose. Das Postulat der freien Berufswahl, wie sie der Artikel 12 des Grundgesetzes festschreibt, erscheint vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklung nachgerade wie Teil eines revolutionären Manifestes.