Blick nach Europa
Mitteilung Nr. 170, S. 35
Blick? Wo sieht man Europa, wo spürt man es? Im Bewußtsein der Bürgerinnen und Bürger im Lande spielt es kaum eine Rolle, denn alles, was es schon so lange gibt, ist selbstverständlich geworden – von der Wirtschaftsgemeinschaft der Anfänge über die zu reformierende Agrarwirtschaft und einem großen Teil der Gesetzgebung bis zum EURO, der trotz anfänglich vielfacher Ablehnung präsent ist, durch eine geschickte Einführungsphase, die mit jeder Preisangabe deutlich macht: Er ist bald endgültig da.
In der Tat hat Europa in den letzten zwei bis drei Jahren eine enorme Dynamik entwickelt. Die Grenzen sind weg – welch lang ersehntes Ziel! Die Freizügigkeit der Niederlassung für EU-Bürger, die sehr weitgehende Anerkennung beruflicher Qualifikationen als Voraussetzung für freie Wahlen des Wohn- und Lebensortes innerhalb der EU, sind unter anderem wichtige Entwicklungen, die über die Milchquote und die Krümmung der Banane hinausgehen.
Beim Treffen in Lissabon Ende März haben die Regierungschefs die großen Anstrengungen hervorgehoben, die im Bereich der Neuen Medien unternommen werden sollen, um Europa eine führende Position in der Welt und damit auch die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu sichern.
Und am 6. April hat der deutsche Bundeskanzler in einer Regierungserklärung gesagt, daß wir im nächsten Jahrzehnt unseren Markt zum größten Binnenmarkt der Welt machen wollen.
Nun, die Unternehmen richten es allemal, durch Fusionen, Firmenkäufe und intensive Zusammenarbeit, sie sind nicht nur europaweit, auch weltweit zunehmend miteinander verbunden. Die Rahmenbedingungen einer europäischen Gesetzgebung und der EURO beschleunigen die Eigendynamik.
Wie aber steht es demgegenüber mit den individuellen Rechten, wo bleibt der Bürger gegenüber Wirtschaft und Institutionen? Wo sind die Möglichkeiten der EU-Bürger, sich jenseits seiner nationalen Rechtsordnungen rechtlichen Schutz, zum Beispiel gegenüber Europol, dieser ohne Kontrolle grenzüberschreitend arbeitenden Polizeitruppe, zu verschaffen? Gewiß fordern offene Grenzen auch grenzüberschreitende Polizeiarbeit heraus, aber die Beamten arbeiten ohne Rechtfertigungspflicht.
In der Rubrik Blick auf Europa wollen wir künftig in den Mitteilungen hinschauen, was in Europa für den Bürger, mit den Bürgern passiert.
Ausgehend vom Europäischen Rat in Köln wurde sodann, nach Helsinki, in Tampere ein Gremium ins Leben gerufen, daß eine Charta der Bürgerrechte für Europa ausarbeiten soll. In diesem Konvent arbeiten unter dem Vorsitz von Roman Herzog:
15 Beauftragte der Staats- und Regierungschefs der Mitglieds-staaten,1 Beauftragter des Präsidenten der Europäischen Kommission,
16 Mitglieder des Europäischen Parlaments, die von diesem benannt werden,
30 Mitglieder der nationalen Parlamente (2 aus jedem Mitgliedsstaat, die von den nationalen Parlamenten benannt werden).
Außer der Zusammensetzung – auch Beobachter und zu hörende Gremien – wurde das Arbeitsverfahren festgelegt. Der Tagungsort ist Brüssel und zwar abwechselnd im Ratsgebäude und im Gebäude des EP.
Nun sind viele Menschen, viele Gruppierungen und Institutionen herangegangen, mitzuarbeiten, ihre Überlegungen vorzutragen, Entwürfe für eine EU-Charta mitzuentwickeln. Viel Europawissen, viel Engagement, viel Zeit wurde investiert, um dazu beizutragen, daß Europa nicht länger nur eine Wirtschaftsgemeinschaft ist, sondern eine Wertegemeinschaft wird. Und – so dachten wir, eine breite Diskussion in der Bevölkerung müsse nun einsetzen, um dies den Bürgern bewußt zu machen. Aber es gibt einen Zeitplan: Bis Ende Juni soll der erste Entwurf der europäischen Charta vorliegen, dann Weiterreichung zur Diskussion bis Oktober, daraufhin endgültige Fassung, die dann beim Europäischen Rat in Nizza im Dezember diesen Jahres verabschiedet werden soll.
Wo bleibt da die Chance für eine Befassung der Bürger mit dem so wichtigen Thema? Roman Herzog hat kürzlich in Gesprächen mit Journalisten (Süddeutsche Zeitung/Zeit) gesagt, daß er die engen zeitlichen Grenzen aus eben diesem Grund bedaure, aber das Gremium könne die breite Diskussion im Lande nicht leisten, daß müsse auf andere Weise geschehen.
Wir sind also aufgerufen, hier mitzutun, Ideen zu entwickeln, als Multiplikatoren zu wirken, das Thema nicht aus dem Auge, nicht aus dem Blick, zu verlieren.
Zum Sachstand per 7. April 2000:
Die Europaausschüsse von Bundestag und Bundesrat hatten für den 5. April 2000 zu einer öffentlichen Sitzung eingeladen, in der eine Anhörung von gesellschaftlichen Gruppen und Sachverständigen stattfand. Wer sich für die Liste der gehörten Verbände und Experten interessiert, kann sie in der Geschäftsstelle oder bei der Europabeauftragten anfordern.
Die HUMANISTISCHE UNION war mit einer Stellungnahme der von Ingeborg Rürup initiierten „AG-EU-Grundrechtscharta im Forum Menschenrechte“ beteiligt; die Stellungnahme ist nachzulesen in Band 1 der „Materialsammlung zur öffentlichen Anhörung der EU-Ausschüsse des Deutschen Bundestages und des Bundesrates“.
Die Anhörung war gegliedert in Block 1: Inhalt der Grundrechtscharta und Block 2: Geltungsbereich der Grundrechtscharta. Anregungen aus den Verbänden und von den Experten zum inhaltlichen Teil wurden mit Interesse aufgenommen, ihre Berücksichtigung, so weit möglich, zugesagt.
Zum Geltungsbereich äußerte sich der überwiegende Teil der Teilnehmer mit der Aufforderung, die Grundrechtscharta in die EU-Verträge aufzunehmen und sie so zu einem verbindlichen Teil der europäischen Gesetzgebung zu machen: „Grundrechte müssen subjektiv einklagbare Rechte sein“.
In der Diskussion darüber, wie das geschehen sollte, wurde neben der Ratifizierung durch die nationalen Parlamente auch die Durchführung von Referenden in den einzelnen Mitgliedsstaaten vorgeschlagen, zumal dies dann auch am ehesten zu einer Debatte mit den Bürgern führen würde. Warnende Stimmen gaben zu bedenken, was wäre, wenn dann ein Land z.B. Großbritannien, ablehnen würde, oder wenn sich insgesamt nur wenige Bürgerinnen und Bürger (siehe die Wahlbeteiligung bei der letzten Europawahl) mit vielleicht 20-30% beteiligen würden.
Die öffentliche Anhörung schloß mit den Worten von Prof. Dr. Jürgen Meyer (MdB, einer der drei deutschen Teilnehmer im Konvent), daß die Diskussion weitergehen werde, auch über den Juni 2000 und die Verabschiedung im Dezember 2000 hinaus. Beteiligen wir uns!
Gisela Goymann, HU-Europabeauftragte