Die Stimme der Bürger: 26 Vorschläge europäischer Bürgervereinigungen
Mitteilungen Nr. 165, S. 14
Dieses Papier ist als Beitrag mehrerer Bürgerorganisationen zum Europäischen Einigungsprozess gedacht. Die verkürzt wiedergegebenen Vorschläge entstanden in Zusammenarbeit den Bürgerinitiativen Initatives de citoyenneté active en réseau (Icare) und dem europäischen Netzwerk Inter Citizens‘ Conferences (ICC). Die ICC, gegründet 1995, umfasst europaweit 35 Nichtregierungsorganisationen (NGOs), darunter drei mit Sitz in Deutschland: Stiftung Mitarbeit, Mehr Demokratie und die Humanistische Union.
Die vernetzte Zusammenarbeit über Informationsaustausch, gemeinsame Debatten und Aktivitäten ist ein Schritt auf dem Weg zu einer lebendigen europäischen Zivilgesellschaft unter echter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Ziel ist es, einen wirklichen Raum für transnationale Debatten zu schaffen, gerade im Hinblick auf gesamteuropäische Entscheidungen wie Vertragsrevisionen oder europäische Wahlen. Der (wechselnde) Sitz des ICC–Sekretariats ist seit kurzem im Haus der Demokratie (Berlin) untergebracht, wo sich auch Geschäftsstellen der drei deutschen Partnerorganisationen befinden. Eine ausführlichere Fassung dieses Papiers oder Übersetzungen sind erhältlich über:
ICC, Haus der Demokratie, Friedrichstr. 165, D–10117 Berlin, Tel.: 030–204 531 90
Warum diese Vorschläge ?
In den letzten Jahren haben sich verschiedene Bürgerinitiativen an der Debatte zu Europas Zukunft beteiligt. Folgende Beiträge hatten für die Diskussion eine wichtige Bedeutung und gingen in die 26 Vorschläge von Icare und ICC ein:
– der Herzog-Bericht, der vom Europäischen Parlament angenommen wurde;
– der Pintasilgo-Bericht eines Expertenkomitees der Europ. Kommission;
– die Charta der Grundrechte der Europäischen Föderalisten;
– die fünf Biennalen zum Sozialen Europa (veranstaltet von der Organisation Lasaire), bei denen die wichtigsten europ. Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretungen zusammenkamen (Bericht Taddei – Trentin)
– die Aktivitäten der Inter Citizens‘ Conferences auf europäischer Ebene;
– die Veranstaltungen von Vereinigungen in ICARE und CAFECS (Coordination des Associations Franá§aises pour une Europe Civique et Sociale)
Trotz deren unterschiedlicher Herkunft weisen diese Ansätze überraschenderweise einige zentrale Gemeinsamkeiten auf:
– Es geht nicht mehr darum, für oder gegen Europa zu sein, sondern darum, welche Richtung eingeschlagen werden soll, progressiv oder reaktionär.
– Die Konstruktion der EU leidet an zwei Mängeln: An einem sozialen Defizit und an einem bürgerschaftlichen Defizit. Beide Problembereiche verstärken sich wechselwirkend, so dass man sie nur zugleich angehen kann.
– Die nächste Europa-Wahl sollte sich nicht auf nationale politische Ansätze beschränken. Sie soll auch eine Gelegenheit bieten, über das von den Bürgern gewünschte Europa zu debattieren und zu entscheiden.
Deshalb haben ICC und Icare beschlossen, die Ergebnisse der bisherigen Debatten in Form der 26 Vorschläge zu veröffentlichen
Wie kann das Dokument genutzt werden ?
Dieses Dokument ist lediglich eine Kurzzusammenfassung der Vorschläge. Es ist in doppelter Hinsicht vereinfachend:
– Zahlreiche der breit diskutierten und gesammelten Vorschläge (insg. ca. 60) wurden nicht berücksichtigt
– Die ausgewählten Vorschläge wurden stark verkürzt und vereinfacht, um sie in wenigen Zeilen wiedergeben zu können
Unser Ziel ist es nicht, die Debatte durch ausgefeilte Vorschläge abzuschliessen, sondern durch den Entwurf von Vorschlägen die Diskussion zu beleben. Wir legen daher allen Bürgern und Kandidaten einen vorläufigen Debattenstand vor, der zwangsläufig schematisch sein muss und hoffentlich nicht zu sehr überzeichnet ist. Nun liegt es an Ihnen, den Text für sich zu nutzen:
– Zum einen, um intern zu debattieren, in Ihrem Land, Ihrer Vereinigung, mit anderen, in privaten und öffentlichen Debatten, mit den Kandidaten zur Europa-Wahl oder ohne sie …
– Zum anderen, um diese Vorschläge zu kritisieren, zu verfeinern, abzuändern, zu vervollständigen, völlig neu zu überarbeiten… und neue Anregungen zu denselben oder zu anderen Themen zu geben (Kontaktadresse ICC s.o)
Wir wissen alle, dass die repräsentative Demokratie nur durch eine Verstärkung des partizipativen Elements zu retten ist.
Wir wissen alle, dass sie daher mehr und mehr interaktiv werden muss: Durch Papiere, via Internet oder durch die Nutzung anderer Medien können wir beginnen, dies bei einem Thema zu beweisen, das uns allen am Herzen liegt:
Unsere Zukunft in Europa und die Zukunft unseres Europa.
Einladung zur Aktion „Bateau des Citoyens / Schiff der Bürger“
vom 26. bis 28. Mai (Köln).
Vor der Europawahl (12. Juni`99) gibt es Gelegenheit mit ICC zu einem Europa der Bürger und den 26 Forderungen zu diskutieren: Für das Wochenende vom 28.-30. Mai (Anreise: Freitagnachm.) sind in Köln verschiedene Veranstaltungen, Gespräche, und Diskussionen geplant, an denen ICC-Mitglieder und Europaabgeordnete aus verschiedenen Staaten teilnehmen. Diese Veranstaltungen finden vorwiegend am Freitag- und Samstagabend statt. Am Samstag gibt es tagsüber Gelegenheit, an der Großdemonstration in Köln im Rahmen der Euromärsche teilzunehmen. Am Sonntagmorgen findet eine Schiffsfahrt auf dem Rhein bei Köln statt, evtl. mit einem politischen Frühschoppen, anschließend ist ein Treffen der in den ICC aktiven Gruppen geplant.
Informationen/ Anmeldung: ICC-Sekretariat, Haus der Demokratie, Friedrichstr. 165, D–10117 Berlin, Tel.: 030-204 531 90
Die Stimme der Bürger:
26 Vorschläge für ein soziales bürgernahes Europa.
A. Für ein soziales Europa und Beschäftigung
1. Ein Sozialvertrag für Beschäftigung
Die Beschäftigung ist das wesentliche Ziel des Sozialvertrages, der durch die Zustimmung der europäischen Völker beim Bau Europas legitimiert wird. Dieser Vertrag muss konkrete Mittel zur nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung, zu Arbeitszeitverkürzung, Wettbewerbsfähigkeit und zur Entwicklung von Dienstleistungen beinhalten.
2. Der Euro im Dienste der Beschäftigung
Der Euro soll im Dienste der Beschäftigung stehen und von gleichem Gewicht wie die Preisstabilität sein.
3. Ein Budget für die Solidarität
Die nationale und die europäische Haushaltspolitik soll im Dienste der Beschäftigung stehen.
4. Kontrolle bei der Schliessung von Industriebetrieben
Die einseitige Schliessung von Industriebetrieben soll nicht mehr möglich sein.
5. Gemeinsame Sozialpolitik
Europa eine umfassende soziale Dimension zu geben muss absoluten Vorrang haben. Die Richtlinien auf diesem Gebiet sollen nach der Regel der qualifizierten Mehrheit gefasst werden.
6. Stärkung der Rechte der ArbeiterInnen und der Gewerkschaften
Die Arbeitnehmerrechte auf Information und Beratung in allen Unternehmen sind zu stärken.
Die Rechte der Gewerkschaften müssen in der gesamten EU vollständig gewährleistet werden.
Ein wirksames europäisches Recht auf Tarifverträge muss anerkannt werden, sowohl berufs- als auch branchenübergreifend.
7. Bekämpfung von Armut, Lebensrisiken und Ausgrenzung
Die Europäischen Institutionen sollen die 1992 verabschiedete Empfehlung umsetzen, die das Recht auf ein Existenzminimum vorsieht, um zu verhindern, dass jemand unter der international definierten Armutsgrenze leben muss.
B. Für ein Europa der Rechte
8. Die Europäische Charta der Rechte
Es sollte sofort mit einem Prozess der gemeinsamen Ausarbeitung einer Charta der Bürger- und sozialen Rechte und Pflichten begonnen werden. Dadurch wird es möglich, neue Einsichten und Notwendigkeiten unserer Gesellschaften zu berücksichtigen: lebenslange Weiterbildung, Umwelt, zukünftige Generationen, Arbeitszeitgestaltung, Bioethik, neue Informationstechnologien, politische und kulturelle Minderheiten.
9. Rechte und Pflichten der BürgerInnen
Das europäische Bürgerrecht erwirbt jeder Erwachsene, der sich fünf Jahre lang rechtmässig auf dem Gebiet der Union aufhält.
10. Sicherung der Freizügigkeit von Personen
Daher soll die Union:
– die Kurzzeit-Visa (weniger als drei Monate) in Europa abschaffen;
– den Grundsatz der Rechtsgleichheit bei den Ausländergesetzgebungen einführen;
– die Zulässigkeit von Massnahmen zur Legalisierung akzeptieren, die auf der Ablehnung rechtsfreier Räume und der Respektierung der Persönlichkeitsrechte beruhen;
– den Kampf gegen illegale Arbeit mit Massnahmen der Beschäftigungspolitik sowie mit der Sicherung der Persönlichkeitsrechte verbinden;
– die Niederlassungsfreiheit in Europa für die Angehörigen aus AKP-Staaten gewährleisten.
11. Das Recht auf Dienstleistung im allgemeinen Interesse
Über Amsterdam hinaus sollen die Verträge die Verbindung zwischen Dienstleistung im allgemeinen Interesse und Bürgerschaft juristisch und politisch begründen. Dienstleistung im allgemeinen Interesse sind ein Element der Grundrechte (Recht auf Gesundheit, Bildung, Energie, Wasser, Sicherheit …) und sie tragen bei zu den grundlegenden Zielen der Union wie Gleichheit, Solidarität und sozialer Zusammenhalt.
12. Das Recht der Vereinigungen
Die Union soll das Recht der Vereinigungen anerkennen und ein europäisches Statut der Vereinigungen, Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinitiativen einführen.
13. Die Gemeinwirtschaft fortentwickeln
Die Besonderheit der Gemeinwirtschaft und ihr Beitrag zum Gemeinwohl sollen anerkannt werden.
C. Für ein demokratisches Europa
14. Information und Transparenz
Die Eröffnung eines Raumes öffentlichen Meinungsaustausches wäre durch die Abhaltung einer jährlichen Konferenz über den Zustand der Union und ihrer politischen Zielrichtungen gewährleistet. Auf Betreiben des Europäischen Parlaments und nach breiten nationalen Debatten kämen hierbei die Gewählten und die gesellschaftlich Aktiven der Einzelstaaten bzw. Gesamteuropas zusammen. Die Konferenz würde Vorschläge und Stellungnahmen ausarbeiten, bevor der Europäische Rat und die Kommission über Richtungen und Arbeitsprogramme Entscheidungen träfen.
15. Wahlrecht
Das Wahlrecht bei den Europawahlen wird erweitert auf alle Personen, welche sich seit fünf Jahren rechtmässig innerhalb der Union aufhalten.
16. Wahlvorschriften
Die Europawahlen sollen in jedem Land nach dem Verhältniswahlrecht durchgeführt werden u. so gestaltet, dass die Abgeordneten möglichst bürgernah bleiben.
17. Mitentscheidung und Mehrheitsentscheidung werden Regel im Unionsrecht
Das Mitentscheidungsverfahren wird zur Regel im Unionsrecht.
18. Teilung des Initiativrechtes
Ein allgemeines Initiativrecht wird von Parlament und Kommission gemeinsam ausgeübt. Ein Initiativrecht der Bevölkerung wird eingeführt.
19. Für die baldige Reform der Institutionen
Diese notwendige Umgestaltung der Institutionen soll Gegenstand einer grossen demokratischen Debatte in der gesamten Union werden und schliesslich überleiten zu einer institutionellen Konferenz, die das europäische und die nationalen Parlamente sowie die Regierungsvertreter zusammenführt.
20. Auf dem Weg zu einer demokratischen Verfassung Europas
Die nächste Vertragsänderung sollte wesentlich mutigere Schritte für künftige Revisionen enthalten, insbesondere die Einführung einer verfassungsgebenden Versammlung, um auf der Grundlage bestehender Texte eine Verfassung für Europa vorzubereiten.
D. Für ein solidarisches Europa in der Welt
21. Die Wahrnehmung einer wirklichen Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP)
Die Europäische Union oder die Staaten der Union, die dies wünschen, sollten eine wirkliche Aussen- und Sicherheitspolitik wahrnehmen. Dies setzt voraus:
– dass Konfliktvermeidung eine Hauptkompetenz der EU wird;
– dass die WEU zum militärischen Instrument der Union umgestaltet wird;
– dass die GASP in den Bereich der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen fällt.
22. Die Politik der Zusammenarbeit überdenken
Die Verträge zur Zusammenarbeit sollen unter anderem:
– in jedem Einzelfall die Einführung von freiem Handel und/oder Schutzmassnahmen einschätzen, um die Produktionspotentiale sowie die Folgen der Verträge auf die jeweilige Volkswirtschaft und vor allem auf die Bevölkerung besser berücksichtigen zu können;
– eine wirtschaftliche und politische Partnerschaft zwischen Entwicklungsländern und der Union aufzubauen;
– der Union ermöglichen, durch finanzielle Mittel und durch Sachverständige alles zu unterstützen, was den Rechtsstaat und die Demokratie fördern kann (Ausbildung von Richtern, Staatsanwälten, Journalisten, Kampf gegen Korruption im politischen System, Konfliktvermeidung …);
– den Kampf gegen die Armut an die Spitze der Bemühungen der Union stellen, indem sie die Mikroökonomie, Kleinkredite und die Aneignung von Technologien unterstützt;
– die Bedingungen für einen Schuldenerlass vorsehen.
23. Den Euro in den Dienst einer weltweiten Finanzordnung stellen
Die Dynamik des Euro darf nicht im Sinne einer Logik der Rivalität und des schrankenlosen Wettbewerbs mit den wichtigsten Handelspartnern missbraucht werden. Vielmehr soll es darum gehen, ein neues internationales Währungsystem zu schaffen, das die internationalen Finanzen regulieren soll: durch die Schaffung eines Sicherheitsrates für Wirtschafts- und Währungsfragen, durch die Einführung entprechender Rechtsregeln, durch die Besteuerung von spekulativen Währungstransaktionen sowie durch den Kampf gegen Steuerparadiese und Geldwäsche.
24. Gemeinsam den Planeten gestalten
Europa muss sich in diesem Sinne für die Schaffung neuer Formen demokratischen planetarischen Regierens einsetzen. Diese globale Regierungsform muss in der Lage sein, u.a. die folgenden Probleme zu bewältigen: Ernährung, Regulierung der internationalen Finanzmärkte, Kampf gegen das organisierte Verbrechen, die grossen ökologischen Herausforderungen, vor allem die Fragen des Wassers und des Klimas, den Zugang aller zur Informationsgesellschaft (um zu verhindern, dass sich neue Ungleichheiten zu den bestehenden addieren) sowie die Abrüstung.
25. Das Recht auf dauerhafte Entwicklung
Die Union verfolgt ein Projekt dauerhafter menschlicher Entwicklung, welches zugleich ökonomisch, sozial, ökologisch, kulturell und arbeitsplatzschaffend ist.
26. Erweiterung der Union in den Osten des Europäischen Kontinents
Die Osterweiterung der Union ist ein Recht aller Staaten Mittel- und Osteuropas. Diese fortschreitende Integration muss ökomisch und sozial organisiert werden. Der Osterweiterung muss eine Reform der Institutionen der EU vorangehen.