Ein bestreitbares Urteil
in: vorgänge Nr. 14 (2/1975), S. 1-3
1. Ungefähr neun Monate hat es gedauert, bis es zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) wegen der Fristenregelung kam. Man vergleiche damit den Supreme Court der Vereinigten Staaten, der ein höchst schwieriges Grenzproblem der Gewaltentrennung im Zusammenhang mit dem Watergate-Komplex in etwa 14 Tagen klärte und entschied. Was lange währt, wird gut? Nach der langen Schwangerschaft kam es zu einer Fehlgeburt. Das Urteil ist eine Mischung von verfassungsrechtlichem Spruch, gesetzgeberischem Stückwerk und Ethik-Unterricht.
Sicher war es schwer, die Fristenregelung für verfassungswidrig zu erklären. Aber etwas weniger anstößig, etwas taktvoller und zurückhaltender wäre es auch möglich gewesen. Inzwischen ist über das Urteil vieles – man möchte meinen: alles – gesagt worden. Zusammengefaßt: das Urteil und seine Begründung werden immer unerfreulicher, je länger man sich mit ihnen befaßt.
2. Da sind zunächst die beiden Krücken, auf die sich die Behauptung von der Verfassungswidrigkeit der Fristenregelung stützt, nämlich die Auslegung des Wortes „Jeder” in Art 2, Abs 2, Satz 1 GG („Jeder hat das Recht auf Leben…“) und weiter das Bekenntnis zur Wirkungskraft der strafrechtlichen Generalprävention.
Die Auslegungsmethode des BVG ist kühn. Sie verfremdet nicht nur den gewohnten und anerkannten Begriff, sondern sie ignoriert sowohl den Zusammenhang, in dem der Satz steht, wie auch seine geschichtliche Entstehung. Im ersten Absatz von Artikel 2 heißt es: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, sofern er nicht die Rechte anderer verletzt.” Absatz 2 beginnt dann mit „Jeder hat das Recht auf Leben…” und setzt fort mit dem Satz „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.” Es ist evident, daß in allen drei Grundrechtsvorschriften von demselben Rechtsträger die Rede ist. Dennoch gibt das BVG dem Wort „Jeder”, das zweimal unmittelbar nacheinander vorkommt, zwei verschiedene Bedeutungen. In Absatz 1 ist es die geborene Person, während es in Absatz 2 „jeder Lebende, anders ausgedrückt, jedes Leben besitzende menschliche Individuum” ist, und somit den Embryo umfaßt.
Damit war für die Verfassungswidrigkeit der Fristenregelung nicht viel gewonnen, denn es bestand Einigkeit darüber, daß, wie immer man auch das Wort „Jeder” auffassen wollte, der Schutz ungeborenen Lebens nach der Grundnorm unseres rechtlichen Zusammenlebens erforderlich ist. Kernpunkt war hingegen die Frage, ob dieser Rechtsschutz unabdingbar strafrechtlicher Natur sein muß oder ob auch andere Schutzmethoden anwendbar sind. Das Urteil beschäftigt sich nicht damit, grundgesetzlich nachzuweisen, daß der strafrechtliche Schutz unbedingt nötig ist. Nirgendwo im Grundgesetz steht etwas darüber, daß zum Schutz menschlichen Lebens niemals und in keinem Fall auf das Strafrecht verzichtet werden darf.
Da das BVG diesen Standpunkt nicht dem Grundgesetz entnehmen, ihn auch nicht in es hineininterpretieren kann, tut es etwas höchst Anfechtbares. Es nimmt zur Sachfrage Stellung, obwohl diese seit Jahren im Mittelpunkt der ganzen Auseinandersetzung stand und vom Parlament als eine politische Frage entschieden worden ist.
Erstaunlicherweise entscheidet das Gericht in einer nicht verfassungsrechtlichen Frage darüber, ob die Strafdrohung wirksamer als die durch Entkriminalisierung ermöglichte Sachberatung der Frauen werdendes Leben zu schützen vermag. Obwohl es nach den jahrelangen Erörterungen feststand, daß keine Seite die andere über-zeugen konnte, weil es keine exakten Beweise für die eine oder andere These gab, ignorierte das Gericht dies alles und verkündete frischweg, daß die Beratung nicht in der Lage sei, werdendes
Leben zu erhalten, daß durch den Verzicht auf Strafandrohung somit eine „Schutzlücke” ent-standen sei, die ausgefüllt werden müsse und durch das BVG auch ausgefüllt wurde.
Das BVG meinte, es sei berechtigt, in dieser rein politischen, nicht verfassungsrechtlichen Frage nochmals das Dogma der Generalprävention, so zerschlissen es auch bereits ist, durchzusetzen und das nach eingehender Gewissensprüfung erfolgte Votum fast der absoluten Mehrheit des Bundestags zu verwerfen. In einer Imitation der Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit stellte es fest, was richtig ist, und fügte einer anfechtbaren Auslegung des Grundgesetzes noch eine kompetenzmäßig angreifbare Stellungnahme in politicis hinzu.
3. In der Reform des § 218 steckte stets auch ein Stück Frauen-Emanzipation. Dieses hat das BVG jetzt zunichte gemacht. Da, wo jemandem ganz oder teilweise Verantwortung verweigert wird, da ist und bleibt er unfrei. Wer also die Frage des Schwangerschaftsabbruchs ernsthaft überdenkt, wird dazu Stellung nehmen müssen, daß das Recht der Frau auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, beeinträchtigt durch eine ungewünschte Schwangerschaft, mit dem Recht des sich entwickelnden Lebens auf Leben kollidiert. Wie kann man das Recht der Frau verteidigen, ohne gleichzeitig das Recht auf das Leben, das sich in ihr entwickelt, zu vernichten? Oder umgekehrt: wie kann man das Recht des Embryos auf seine Entfaltung und Menschwerdung aufrechterhalten, ohne das Recht der Frau auf die freie Entwicklung ihrer Person zu beseitigen?
In diesem Punkt nimmt das BVG einen genau so extremen Standpunkt ein wie die Vertreter der ersatzlosen Streichung des § 218. Genauso wie diese lehnt die Mehrheit der Verfassungsrichter einen Ausgleich beider Rechte als völlig unmöglich ab. Dies nimmt wunder, weil in seiner sonstigen Rechtsprechung das BVG möglichst nach einem Ausgleich sucht, wenn zwei Grundrechte aufeinander treffen. Warum dies hier nicht möglich ist, ergibt sich aus einer anderen abstrusen Theorie des BVG: Leben sei ein kontinuierlicher Prozeß, bei dem in ständiger Entwicklung eine Phase auf die andere folgt. In dieser Entwicklung gibt es keine scharfen Einschnitte, und daher könne man auch keine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens vornehmen. Das Gericht bezieht sich dabei auf die moderne biologische und physiologische Wissenschaft, und es erscheint müßig, diese These zu bestreiten, denn nicht sie, sondern die aus ihr vom Bundesgericht gezogene Konsequenz ist unrichtig. Aus der Tatsache einer kontinuierlichen Entwicklung und der angeblichen Unmöglichkeit einer „genauen Abgrenzung” verschiedener Lebensstufen ergibt sich keineswegs, daß es sachlich, ethisch und rechtlich unmöglich sei, zwischen solchen Lebensphasen zu unterscheiden. Die Tatsache, daß ohne Zäsur sich ein Lebensstadium aus dem vorhergehenden entwickelt, ergibt doch nicht, daß alles gleich zu behandeln wäre!
Die ideologische Übersteigerung des Wertes biologischen Lebens, die offenbar die Mehrheit des BVG-Senats beherrscht, findet weder in der Mehrheit des Volkes noch in der Rechtsgeschichte Rückhalt. Wenn kein Unterschied zwischen der Lebensqualität des acht Wochen alten Embryos und der des geborenen Menschen bestünde, womit erklärt sich dann die Sonderbehandlung der Tötung und der Abtreibung nach altem Strafrecht (und auch nach der Auffassung des BVG selbst)? Nicht einmal religionsgeschichtlich wird diese BVG-Lehre abgestützt. Dort ist früher durchaus verständlich auf die Existenz der Seele abgestellt, und niemand wird behaupten, daß es irgendeine Wissenschaft gibt, die den Zeitpunkt der Entstehung der Beseeltheit feststellen könnte.
4. Auch das BVG vertritt nicht die These „Abtreibung gleich Mord”, obwohl es sich mit dem Verzicht darauf selbst widerspricht. Es vertritt den Standpunkt, daß trotz seiner Ausführungen über die unteilbare Lebensqualität dennoch in gewissen Fällen eine Tötung werdenden Lebens gutgeheißen werden kann, nämlich dann, wenn Leben oder Gesundheit der schwangeren Frau ernsthaft bedroht sind, oder „andere außergewöhnliche Belastungen für die Schwangere, die ähnlich schwer wiegen”, vorhanden sind. Hierzu könnten nach Ansicht des BVG die Fälle der eugenischen und der ethischen, sowie darüber hinaus der sozialen oder Notlage-Indikation gezählt werden.
Es sei davon abgesehen, daß das BVG kaum ermächtigt dazu ist, Gesetzeslücken durch Anordnungen auszufüllen. Die Gesetzgebung ist dem Parlament vorbehalten, und eindeutig hat hier wieder das BVG die ihm gesetzten Grenzen überschritten. Was aber ist der Unterschied zwischen der Tötung werdenden Lebens nach den vom
BVG dafür vorgesehenen Fällen und nach der Fristenregelung?
Es ist nicht die Vielzahl der Fälle selber, denn wir werden niemals einen wissenschaftlich gesicherten statistischen Überblick darüber bekommen, bei welcher gesetzlichen Regelung häufiger die Schwangerschaft unterbrochen wird. Es ist nicht der Tötungsakt selber. Der Unterschied liegt allein darin, daß das BVG glaubt, den ärztlich und sozial beratenen Frauen die Entscheidung darüber nicht überlassen zu können, ob „außer-gewöhnliche Belastungen, die ähnlich schwer wiegen” wie eine medizinische Indikation, vorliegen oder nicht.
Diese Entscheidung über die Gesamtheit der Lebensumstände, über den Zustand und die Entwicklung ihrer Ehe und Familie, über eventuelle Ehechancen, über ihre menschliche Entwicklung soll der Frau nicht gegeben werden. Darüber sollen anscheinend „Gutachter” entscheiden, denen eine Sachverständigkeit zugeschrieben wird, die sie ohne eine jahrelange Vorbildung bestimmt nicht haben können. Und damit ist man wieder beim Kern des Problems angelangt, bei der Entscheidung über das Maß an Fremdbestimmung oder Selbstbestimmung.
Hier versagt das Urteil des BVG völlig. Es gibt dem Embryo kein absolutes Überlebensrecht, es tut nur so mit moralischen und pseudophilosophischen Sprüchen. In Wirklichkeit läßt dieses Urteil viele Möglichkeiten zu, die Schwangerschaft abzubrechen, und zwar mit Rücksicht auf die „unzumutbare” Lage der Mutter. Was jedoch unzumutbar ist, das sollen — unter Berufung auf die Wertordnung, unter der wir leben, und im Gegensatz zur NS-Herrschaft (die bekanntlich schwerste Strafen zugunsten werdenden Lebens einführte), andere feststellen, denen man sein Privatestes zu offenbaren hat.
5. Was soll und kann nun geschehen?
Menschlich soll man den bedrängten und bedrohten Frauen helfen, so gut man kann, durch Beratung, durch Information über die Möglichkeiten, die es für sie gibt.
Gesetzliches ist weit schwerer zu formulieren. Eine Grundgesetz-Änderung ist keine praktische Möglichkeit. Protestdemonstrationen helfen bestimmt nur wenig. Das gleiche gilt von konsequenten Selbstbezichtigungen, die man ja bestimmt nicht den Frauen auch noch auferlegen könnte, und die — nach Auslauf der Verjährungsfristen — ebenfalls nur demonstrativ wirken würden.
Es bleibt also das Bemühen um eine neue gesetzliche Formulierung, — und hier sind alle möglichen Kräfte im Gang, um eine Indikationenlösung als zweitbeste Regelung zu empfehlen. Demgegenüber muß daran festgehalten werden, daß jede Indikationenregelung, die Frauen bestimmten Entscheidungsgremien unterstellen, der politischen Wertordnung der Demokratie widerspricht. Das äußerste, wozu man sich im Interesse einer Verbesserung der tatsächlichen Lage von Frauen bereitfinden könnte, wäre eine weite Indikationenregelung, bei der die beteiligten Frauen mitentscheiden, und nicht nur demütig einen Antrag stellen. Die Antragstellerin sollte nicht nur über das Ergebnis des Antrags nach einer offenen Beratung mitstimmen, sondern ihr Antrag auf Schwangerschaftsabbruch sollte nicht gegen ihren Willen mit einfacher Mehrheit, sondern nur mit einer qualifizierten Mehrheit abgelehnt werden können. Das würde dazu führen, daß schon ein äußerst gravierender Mangel an Umständen vorliegen müßte, damit ein Antrag abgelehnt wird. Damit wäre, wenn auch nicht die politisch und ethisch befriedigerende Regelung der Selbstbestimmung des Fristenvorschlags verwirklicht, aber doch ein hohes Maß von positiver und negativer Mitbestimmung.
Die Bundestagsabgeordneten sollten sich nicht durch das Urteil des BVG einschüchtern und auf die Linie des geringsten Widerstands abdrängen lassen. Ein zweites Mal wird sich so leicht kein Senat gegen ein mit Mehrheit beschlossenes Reformgesetz zum § 218 StGB aussprechen.