Europol - eine "entfesselte" Polizeimacht
Grundrechte-Report 1998, S. 200-205
Am 10. Oktober 1997 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Zustimmungsgesetz zum „Übereinkommen über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts“. Bereits bei der ersten Beratung dieser „Europol-Konvention“ in der Bundestagssitzung am 24. April 1997 äußerte Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch verfassungsrechtliche Bedenken. Seiner Kritik schlossen sich Verfassungsrechtler, Datenschützer und Bürgerrechtsorganisationen (so die Humanistische Union bei der Vorstellung des ersten Grundrechte-Reports am 22. Mai 1997 in Bonn) an.
Die im Parlament und in der Öffentlichkeit geäußerte Kritik konnte jedoch keine Korrektur der umstrittenen Regelungen bewirken. Weil die „Europol-Konvention“ als völkerrechtlicher Vertrag im Verfahren gemäß Art. 59 Abs. 2 GG behandelt wurde, blieb dem Bundestag nur die Möglichkeit, dem Vertragstext zuzustimmen oder die Konvention insgesamt abzulehnen. Eine Veränderung des Vertragstextes nach der Beratung in den Parlamentsausschüssen ist im Verfahren gemäß Art. 59 Abs. 2 GG nicht möglich. Ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Übereinkommen nicht zu ratifizieren (BT-Drs. 13/7490), hatte im Bundestag keinen Erfolg. Das Parlament stimmte also einer „Europol-Konvention“ zu, die von den Regierungsvertretern der EU-Mitgliedstaaten ausgehandelt wurde. Auf diese Weise war eine neue Behörde mit polizeilichen Eingriffsbefugnissen geschaffen, ohne daß der deutsche Gesetzgeber Begrenzungen und Vorgaben für deren Eingriffshandeln festlegen konnte. Die Bindung der Exekutive an den Gesetzesvorbehalt (Art. 20 Abs. 3 GG) gilt demnach nicht für das polizeiliche Handeln auf europäischer Ebene.
Dieser Einwand kann auch nicht durch den Hinweis darauf entkräftet werden, daß Beamte von Europol zunächst keine eigenständigen Ermittlungshandlungen vornehmen dürfen, sondern auf die Sammlung und Auswertung von Erkenntnissen nationaler Polizeidienststellen beschränkt sein sollen. Denn die Speicherung von personenbezogenen Daten in den bei Europol geführten „Analysedateien“ sowie deren Nutzung und Weitergabe greift nach deutschem Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 65, 1) in das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG ein. Zu den erfaßten Personen gehören gemäß Art. 10 Abs. 1 der Europol-Konvention nicht nur Tatverdächtige, sondern auch Zeugen, Kontaktpersonen, Opfer und Hinweisgeber. Ebenso bedenklich wie der Umfang dieser „Datensammlung auf Vorrat“ ist eine Bestimmung in der Konvention, nach der die Art der erfaßten Informationen vom Verwaltungsrat in einer sogenannten „Durchführungsbestimmung“ festgelegt werden soll. Zum Zeitpunkt der ersten Lesung der Europol-Konvention im Deutschen Bundestag lag – den meisten unbekannt – schon der Entwurf einer Durchführungsverordnung zu den Analysedaten vom 3. April 1997 vor. Danach werden von den genannten Personengruppen nicht nur die Personalien, sondern auch Angaben zu ihrem Lebensstil, der „Art und Weise des Lebens, der rassischen Herkunft, der politischen und religiösen Überzeugungen sowie der sexuellen Gewohnheiten“ gespeichert (so Burkhard Hirsch in der parlamentarischen Beratung, BT-Prot. 13/172, S. 15489). Der Verwaltungsrat – also nicht das Parlament – bestimmt also wesentliche Einzelheiten des Eingriffshandelns; er besteht aus je einem (Regierungs-)Vertreter der Mitgliedstaaten. Das Gremium tagt hinter verschlossenen Türen und ist weder dem Europäischen Parlament noch den nationalen Parlamenten verantwortlich. Das ist die „Ersetzung des demokratisch-parlamentarischen Prinzips durch die Gubernative“, wie es Rupp beschrieben hat (NJW-Echo, Heft 29/1997, S. XXVIII).
Dies gilt erst recht, wenn Europol – wie geplant – mit eigenen Ermittlungstätigkeiten, also ohne Ersuchen einer staatlichen Strafverfolgungsbehörde, beginnt. Europol wird damit zu einer Strafverfolgungsbehörde sui generis, die neben der innerstaatlich geltenden Prozeßordnung und damit ggf. auch im prozessualen „Vorfeld“ operieren kann. Das Ermittlungsverbot ohne konkreten Verdacht gemäß § 152 Abs. 2 StPO wäre überwunden und der Weg zu sogenannten Strukturermittlungen frei, also wieder der Zustand erlangt, wie er vor dem „reformierten Strafprozeß“ und vor Einführung der Staatsanwaltschaft nach französischem Vorbild im vorigen Jahrhundert bestanden hat, ohne daß irgendein nationaler Gesetzgeber ein Gesetz ändern oder auch nur ein Wort mitreden müßte. Man muß sich Fouché im Mantel des Rechtsstaates vorstellen.
Neben diesen Kritikpunkten im Hinblick auf die fehlende demokratische Legitimation von Europol bestehen erhebliche Bedenken gegen die Regelung in Art. 41 Abs. 1 der Europol-Konvention, der bestimmt: „Europol, die Mitglieder der Organe, die stellvertretenden Direktoren und die Bediensteten von Europol genießen die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Vorrechte und Immunitäten nach Maßgabe eines Protokolls, das die in allen Mitgliedstaaten anzuwendenden Regelungen enthält.“ Dieses Immunitätsprotokoll sollte zunächst nicht als Zustimmungsgesetz in den Bundestag eingebracht werden. Der für alle Mitgliedstaaten verbindliche Vertragstext wurde während der parlamentarischen Beratung im Bundestag zwar bekannt, aber von der Bundesregierung erst am 17. November 1997 als Gesetzentwurf (BT-Drucks. 13/9084) eingebracht. Gemäß Art. 8 Abs. 1a der Vereinbarung genießen die Mitglieder der Organe und des Personals von Europol „Immunität von jeglicher Gerichtsbarkeit hinsichtlich der von ihnen in Ausübung ihres Amtes vorgenommenen mündlichen und schriftlichen Äußerungen sowie Handlungen“. Damit werden erstmals in der europäischen Rechtsgeschichte Polizeibeamte von jeglicher gerichtlicher Verantwortung freigestellt. Professor Simitis, der viele Jahre hessischer Datenschutzbeauftragter war, hat dazu (in der Süddeutschen Zeitung vom 3. Mai 1997) unzweideutig gesagt: „Das ist unhaltbar. Dieses Europa ist, spätestens nach dem Maastricht-Vertrag, eindeutig den Grundrechten seiner Bürgerinnen und Bürger verpflichtet. Deswegen machen wir doch dieses Europa! Also muß man sich fragen: Wie verträgt sich denn eine Immunität mit den Grundrechten der Bürger? Gar nicht!“
Die Bundesregierung verweist darauf, daß es der „allgemeinen völkerrechtlichen Praxis“ entspreche, Bediensteten internationaler Organisationen Immunität zu gewähren. Tatsächlich hat die Straflosstellung der Europapolizisten aber nichts mit „Immunität“ zu tun. Die Immunität von Abgeordneten und Diplomaten, an die sprachlich angeknüpft wird, ist örtlich, zeitlich und sachlich beschränkt. Sie ist also keine Exemtion, d. h. Abgeordnete und Diplomaten bleiben verantwortlich. Der Polizist soll hingegen frei von strafrechtlicher Verantwortung sein. Das widerspricht der in Art. 20 Abs. 3 GG unabänderlich verankerten Bindung der Exekutive an Gesetz und Recht.
In der Unrechtsgeschichte der Völker gibt es unzählige Beispiele rechtswidrigen staatlichen Tuns, ohne daß man die rechtsfreie Willkür früherer Fürsten mitzählen müßte, zumal sie weiterhin ohne rechtliche Bindungen entschieden. Mit dem Wandel vom totalen Absolutismus zum modernen Verfassungsstaat trat an die Stelle souveräner Herrschaftsmacht eine rechtlich gebundene Regierungsmacht. Es begann mit den Habeas-corpus-Akten (Charta de la libertad der Cortes von Leon, 1188; Magna Charta Libertatis, 1215; Art. 5 I EMRK), die bestimmtes staatliches Tun, nämlich bestimmte Eingriffe in private Rechte, verboten oder begrenzten oder mediatisierten; und es endete vorerst mit einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt für jegliches Herrschaftshandeln, der sich unveränderbar im Gesetzmäßigkeitsgebot von Art. 20 Abs. 3 GG findet.
Die so erstrebte Rechtssicherheit steht und fällt naturgemäß mit dem Willen zum Recht derjenigen, die es angeht. Solcher Rechtsgehorsam ist erfahrungsgemäß nicht selbstverständlich. Deswegen werden die Amtswalter durch Eid an die Verfassung gebunden, und deswegen auch unterliegen sie einer eigenen Disziplinargewalt und den für alle geltenden Gesetzen einschließlich den Strafgesetzen. Der Bürger soll vor ungesetzlichem Tun weitestmöglich geschützt werden, weil die innerstaatliche Ordnung in der Geschichte immer stärker durch die Staatsmacht gefährdet war als durch jeden anderen. Selbst schlimmste Unrechtsregime haben immer mehr willige Vollstrecker gefunden als Widerständler für das Recht. Es gehört also unabdingbar zum Kernbestand des Rechtsstaates, wie ihn das Grundgesetz will, daß kein Amtswalter exemt, also frei von gerichtlicher Kontrollierbarkeit ist.
Bei einer solchen Legalstruktur konnten auch alle bisherigen Pläne, den „verdeckten Ermittlern“ der Polizei für sogenannte „milieubedingte strafbare Handlungen“ Straffreiheit zuzubilligen, keinen Bestand haben. Es kann nur im Einzelfall Straffreiheit wegen eines ausweglosen Notstandes in Betracht kommen, wie ihn das Strafgesetzbuch kennt. Aus denselben Gründen kann es eine generelle Straflosstellung europaweit operierender Polizisten oder Agenten nicht geben. Wer auf diesem Feld arbeitet, muß die Strafgesetze in den verschiedenen Ländern kennen und achten. Seine Aufgabe rechtfertigt keine strafbaren Methoden, auch kein Mitmachen zum Zweck der Tarnung.
Der Rechtsstaat, auch der europäische Staatenverbund, unterscheidet sich vom Unrechtsstaat wesentlich durch die Methodenwahl. Einbußen an vermeintlicher Effektivität haben ebenso wie der Erfolg keinen Rechtswert. Sämtliche Prozeßordnungen sind zwar Hemmnisse für die „Effektivität“, aber Garanten für die Wahrung der Menschenrechte derjenigen, die als Prozeßpartei betroffen sind. Es kann und darf also keine allein am „Erfolg“ orientierten Polizeimethoden und deswegen auch keine exemt gestellten Polizisten geben. Alle dahin zielende Pläne sind grob verfassungswidrig und auch nicht im Wege der Verfassungsänderung erreichbar. Sie rechtfertigen den Vorwurf der Verfassungstreue. Exemtion hat das Bundesverfassungsgericht nur für das Regime der Besatzungsmächte gelten lassen (BVerfGE 3, 4); im übrigen hat es für jegliches staatliches Tun im In- und Ausland die Bindung an das Rechtsstaatsprinzip betont (vgl. BVerfGE 53, 115 m. w. N.).
Es bleibt abzuwarten, ob das Bundesverfassungsgericht Anlaß sieht, im Anschluß an seine Maastrichtentscheidung (BVerfGE 89, 155) einen Verfassungsverstoß „von substantiellem Gewicht“ bei der Schaffung einer „entfesselten“ Europapolizei festzustellen.