Über das italienische Gesetz Nr. 180
Klaus Hartung
aus: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Tagung. HU-Schriften 9, München 1980, Seite 24 – 26
Hartung arbeitet seit zwei Jahren in der italienischen Psychiatrie. Er setzte seinen Ausführungen einige kritische Anmerkungen zum gegenwärtigen Stand der Sozialpsychiatrie in der Bundesrepublik voran. Die alternative Psychiatrie in der Bundesrepublik befindet sich
auf der Seite der guten Argumente, sie ist unbestritten im Recht, aber daneben gibt es die Logik der Programmierung der Institutionen, und beides steht ohne Kommunikation nebeneinander. Man hat den Eindruck, es bestehe kein Gefühl für den Faktor „Zeit“. Gewiss gibt es gewisse Zeiträume, in denen sich Reformen abspielen, aber es gibt auch die Lebenszeit derer, die betroffen sind und einen verzweifelten Überlebenskampf führen. Hartung wunderte sich über die Leidenschaftslosigkeit der Diskussion um die Psychiatrie Reform. Bezogen auf Kulenkampff, der in Langzeiträumen denkt, kritisierte Hartung auch die Vorstellung, dass in der Diskussion und Planung von Alternativen die Zustände in den Kliniken allzu leicht kaschiert würden, dass man bereit sei, die Großkliniken hinzunehmen wie ein Historisches Erbe. Die Diskussion so Hartung muss von der Existenz der Großkliniken, von der Existenz der Barbarei und Rechtlosigkeit ausgehen. Selbstverständlich liefert Italien kein Modell, das beliebig auf andere Länder übertragbar ist. Übertragbar sind jedoch gewisse Erfahrungen aus der italienischen Praxis. Das Gesetz Nr. 180 ist aus der Praxis heraus entstanden. Es hat in Italien einen Versuch von Jervis gegeben, durch alternative Einrichtungen in einer Region die Irrenhäuser „auszutrocknen“. Der Versuch ist gescheitert. Die Kliniken existieren im gleichen Umfang wie zuvor.
Deshalb werden Einrichtungen wie Patienten Wohngemeinschaften immer nur im Zusammenhang mit der Zerstörung von Kliniken gesehen. Diese Einrichtungen sind auch in ihrer jetzigen Form nicht festgelegt. Alle psychiatrischen Dienste, sind an den Zerstörungsprozess der Kliniken angegliedert im Gegensatz zur alternativen Psychiatrie in der Bundesrepublik, die im Vorfeld der Klinik aufgebaut wird, aber doch von dem großen Rhythmus der Drehtürpsychiatrie beeinflusst, kontrolliert und beherrscht wird.
Die Agitation in Italien richtet sich vor allem auch gegen die Zwangspatidentisierung. In der Enquete gibt es keine Statistik über die Zwangseinweisung. Psychiatrie wird in der Bundesrepublik immer noch unter dem Gesichtspunkt der Versorgung gesehen. Man macht sich nicht klar, welcher politische Sinn hinter dieser Einrichtung steht und wogegen man eigentlich ankämpfen sollte. Beispiele aus dem italienischen Gesetz Nr. 180: Art. 1, Abs. 1 besagt, dass Einweisungen dem Prinzip der Freiwilligkeit unterliegen, Abs. 2, dass die obligatorische Behandlung als Ausnahme zu gelten hat, und unter der Achtung der Würde der Person, der bürgerlichen Rechte und der verfassungsmäßigen Garantien erfolgen muss. Eingeschlossen ist im Rahmen des Möglichen die freie Arztwahl und die Wahl der Behandlungsarten. Dies stellt praktisch eine Aufhebung des klassischen Begriffes „Therapie“ dar und damit auch ein Infragestellen der Psychiatrie als Wissenschaft. Durch das Prinzip der Freiwilligkeit, wird auch die angebliche Gefährlichkeit des Patienten negiert, was bei uns zur Begründung der Entziehung der Bürgerrechte dient Abs. 4 besagt, dass der Patient das Recht hat, mit jedem so zu kommunizieren, wie er es für richtig hält, Abs. 5, dass alle Handlungen im Konsens und unter Beteiligung des Patienten zu geschehen haben. Dies sind mehr als formelle Regelungen, denn die obligatorische Einweisung unterliegt einer Prozedur. Der einweisende Arzt hat eine Begründung an den Bürgermeister zu schicken. Er entscheidet; diese Entscheidung wird jedoch durch den Vormundschaftsrichter überprüft. Nach 7 Tagen muss die Prozedur wiederholt werden. Jeder Bürger kann eine rechtliche Überprüfung der Einweisung beantragen. Mit Rücksicht auf die soziale Herkunft der meisten Patienten und ihrer Angehörigen geschieht dies gebührenfrei. Es wird des öfteren der Vorwurf erhoben, dass Gesetz äußere sich nicht über die weitere Psychiatrische Versorgung. Der Vorwurf trifft insofern nicht, weil der Geist des Gesetzes darauf beruht, die sozial und rechtliche Stellung des Patienten zu regeln. In Art. 6, 7 und 6 wird die Veränderung des psychiatrischen Systems fest-gelegt. Berühmt ist inzwischen die Formulierung des Art. 7: „Es ist in jedem Fall verboten, neue psychiatrische Kliniken zu konstruieren. Die gegenwärtig noch existierenden sind als psychiatrische Spezialabteilungen der allgemeinen Krankenhäuser zu benutzen, und in den allgemeinen Krankenhäusern sind psychiatrische Spezialabteilungen aufzubauen. 15 Betten sind an der jeweiligen Klinik vorgesehen. Nach einem Jahr des Inkrafttretens dieses Gesetzes sind die Zwangseinweisungen um 58 % zurückgegangen. Es hat auch keine Flucht in die Privat- und Universitätskliniken gegeben, sondern auch hier einen Rückgang um 3 %. Weitere praktische Konsequenzen sind zur Zeit noch nicht vorausschaubar. Das Gesetz steht nicht am Ende eines Reformprozesses, sondern stellt gleichsam die Eröffnung eines Kampfes dar. Es eilt den Entwicklungen im Süden und in den großen Städten voraus, definiert aber die zukünftigen Auseinandersetzungen. Die Frage ist in Italien die Durchsetzung des Gesetzes und mithin die Frage der politischen Kräfteverhältnisse.