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Irre! Ingebor­g-Dre­witz-­Preis der Berliner HU an das Weglaufhaus

11. Februar 2005
Datum: Sonntag, 12. Dezember 2004

Mitteilungen Nr. 188, S.8

Ein ungewöhnlicher Preis für ein außergewöhnliches Projekt: Am 12. Dezember 2004 erhielt das „Weglaufhaus – Villa Stöckle“ in Berlin den Ingeborg-Drewitz-Preis. Die Berliner HU würdigte damit auf ihre Weise das Engagement des antipsychiatrisch orientierten Projektes für die Selbstbestimmung. Das Weglaufhaus bietet Menschen Zuflucht vor Psychiatrisierung und Obdachlosigkeit und ermöglicht es ihnen, ihr Leben wieder in eigene Hände zu nehmen.

Zur Feier im Haus der Demokratie und Menschenrechte kamen etwa 80 Menschen, die dem Weglaufhaus in unterschiedlicher Weise verbunden sind oder waren. Manche gehörten zur Gründergeneration und sahen sich jetzt nach längerer Zeit wieder. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit und Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner sandten Grußworte. Ihnen entging ein Programm, das so vielfältig war wie die Gäste: Umrahmt von Gesang mit Laute mischten sich akustische Improvisationen, Reden, Gedichte, Erzählungen und schließlich die Übergabe des Preises.

Eigentlich hat der Ingeborg-Drewitz-Preis gar keine Gestalt, er ist immateriell wie das politische Engagement der Berliner Schriftstellerin, deren Namen er trägt. Um aber doch etwas überreichen zu können, gab es – passend zur Jahrszeit – ein selbstgebackenes Knusperhaus – sozusagen ein Aufess-Haus für das ganze Weglaufhaus. Darüber freute sich wohl kaum jemand so sehr wie Ludger Bruckmann, der seit Anbeginn beim Weglaufhaus dabei war und den Preis stellvertretend für alle entgegennahm. Er berichtete von einer persönlichen Begegnung mit Ingeborg Drewitz, die er bei einer Veranstaltung um ihre Unterschrift unter einen psychiatriekritischen Aufruf gebeten hatte. Er musste nicht lange bitten.

Bruckmanns „Verrücktheit“ und damit verbundene Einweisung hatte übrigens darin bestanden, sich in Essen einem Polizeiwagen entgegenzustellen und den Polizisten die Bergpredigt zu halten. Laudator Peter Lehmann wies im Hinblick auf kirchenferne Mitglieder der HU darauf hin, dass es ihm vermutlich nicht anders ergangen wäre, wenn er die Erklärung der Menschenrechte vorgetragen hätte…

Aus der Preisbegründung:
Was hat die HU mit Anti-Psychiatrie zu tun und wieso wird der Preis an das Weglaufhaus übergeben?

Mit dem Thema Psychiatrie setzte sich die Humanistische Union erstmals 1979 mit einem Kongress zur Psychiatriereform auseinander … Nach unserer Auffassung gehört Verrücktheit zur Menschlichkeit dazu. Nicht nur irren ist menschlich, sondern auch das Irre-Sein. Vor allem aber ist die Frage, wer oder was irre ist oder gemacht wird, eine Frage der Perspektive, der gesellschaftlichen Umstände und auch der Zeit. Unmenschlich waren und sind oft die Konsequenzen, die mit Diagnosen verbunden werden – vor allem dann, wenn Behandlungen gegen den erklärten Willen der Betroffenen erfolgen.

Das Weglaufhaus zeigt tagtäglich, dass ein Ansatz möglich ist, der bewusst verzichtet auf eine Einteilung der Menschheit in „Kranke“ einerseits und „Gesunde und Experten“ andererseits. Uns beeindruckt die Offenheit, mit der das Weglaufhaus neue Wege geht, Altes immer wieder in Frage stellt, Neues ausprobiert und im Team auch kontrovers diskutiert. Das Weglaufhaus setzt sich nicht nur abstrakt für die Selbstbestimmung ein, sondern ganz konkret in der Umsetzung.

Die erfolgreiche Arbeit des Weglaufhauses wirft Fragen auf, die von nicht zu unterschätzender gesellschaftlicher Bedeutung sind: Wer kann bestimmen, ab welcher Abweichung von Rationalitätsnormen die Selbstbestimmung eingeschränkt werden kann? Wie sind die Menschenrechte noch geschützt, wenn gar die Fähigkeit zur Selbstbestimmung bestritten, der erklärte Wille von Menschen ignoriert wird? Diese Fragen müssen wir uns immer wieder stellen, um Ausgrenzungen und Verletzungen der Menschenwürde zu vermeiden. Wahrscheinlich gibt es keine Patentlösungen. Um so wichtiger ist es, immer wieder genau hinzusehen, was – insbesondere unter zunehmendem Kostendruck – in der Psychiatrie geschieht, und nach Alternativen zu suchen. Es gilt zu vermeiden, dass Menschen gegen ihren Willen psychiatrisch behandelt werden, weil sie „anders“ und der Gesellschaft zu anstrengend sind.

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