Publikationen / Mitteilungen / Mitteilungen Nr. 238

Wie weiter mit der Humanis­ti­schen Union? Ein Diskus­si­ons­bei­trag

Mitteilungen23805/2019Seite 10 - 11

In: Mitteilungen 238 (1/2019), S. 10 – 11

1.) Auf unserer Homepage nennen wir als Ziel der HU „Schutz und Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte“, § 2 unserer Satzung ist insoweit noch etwas ausführlicher. In der Tat gibt es zahlreiche Felder, auf denen es mit den Menschenrechten in Deutschland nicht zum Besten steht. Hier seien – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – nur einige genannt:

  • Missachtung der Rechte auf selbstbestimmtes Sterben sowie auf selbstbestimmte Schwangerschaft
  • Missachtung der Versammlungs- sowie der Meinungsfreiheit (z. B. auf der Grundlage eines pauschalen Antisemitismusvorwurfs)
  • Abkehr vom sozialen Wohnungsbau mit der Folge, dass sich immer weniger Menschen Mietwohnungen in Großstädten leisten können
  • Vorenthaltung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums bei Hartz-IV-Sanktionen (wird gerade vom BVerfG entschieden)
  • elektronische Massenüberwachung und -ausforschung durch Polizeien und Geheimdienste, aber auch durch globale Internetfirmen wie Facebook und Google
  • vielfältige Diskriminierungen z. B. aufgrund des Geschlechts (ungleiche Löhne für Männer und Frauen), aber auch aus religiösen Gründen (kirchliches Sonderarbeitsrecht)
  • staatlicher Umgang mit Geflüchteten
  • Förderung von Krieg und Gewalt durch nahezu unbeschränkte Waffenexporte in zahlreiche, auch undemokratisch regierte Staaten völkerrechtlich nicht gedeckte Kriegseinsätze der Bundeswehr rund um die Welt

2) Am ehesten spiegelt sich die ganze Bandbreite der Menschenrechtsverletzungen noch im Grundrechtereport sowie in unserer Zeitschrift „Vorgänge“ wider – beides erscheint mir schon deshalb als unverzichtbar. Darüber hinaus kümmern wir uns nur recht selektiv um die einzelnen Felder – was bei einer doch relativ kleinen Organisation wie der HU wohl auch nicht anders möglich ist. Es kommt hinzu, dass sich in den letzten Jahren zahlreiche NGOs gebildet haben, die jeweils nur eines der genannten Themenfelder bearbeiten, damit zum Teil auch ein großes Medienecho erreichen, in der Sache aber mit uns in Konkurrenz stehen. Deshalb müssen wir uns immer wieder fragen, wo unsere besonderen Stärken liegen.

3) Unsere Kampagne gegen den Verfassungsschutz betrachte ich durchaus als Erfolg. Liberale Medien nehmen uns inzwischen durchaus als Expert*innen hierzu wahr, bitten um Interviews etc. Gegenwärtig bereiten wir gemeinsam mit der VVN einen Sammelband zur Problematik des Verfassungsschutzes vor. Auch die Bitte um Stellungnahmen in Anhörungsverfahren zu Gesetzentwürfen ist grundsätzlich positiv zu werten, auch wenn solche Stellungnahmen viel Arbeit bereiten und die Gefahr besteht, als pseudodemokratisches Feigenblatt benutzt zu werden. Die Erfahrungen mit unseren bisherigen Musterklagen scheinen mir sehr durchwachsen zu sein. So wurden wir im verfassungsgerichtlichen Verfahren gegen die Ermächtigung zur Online-Durchsuchung im BKA-Gesetz von der „Gesellschaft für Freiheitsrechte“ regelrecht ausmanövriert. Grundsätzlich können gezielte Musterklagen durchaus politische Debatten und Veränderungen anstoßen, wie das Beispiel der Umwelthilfe mit ihren erfolgreichen Klagen gegen die Luftverschmutzung in den Städten durch Dieselfahrzeuge zeigt. Ich halte aber nichts davon, krampfhaft nach irgendwelchen Nischen zu suchen, in die andere NGOs noch nicht gesprungen sind. Dies scheint mir der Fall zu sein bei unserer Musterklage für eine Art „Recht auf Mitnahme von Messern oder anderen gefährlichen Gegenständen in der Berliner  S-Bahn während der Wochenendnächte“, welches durch eine – zweifellos zu unbestimmte – Allgemeinverfügung der Bundespolizei beeinträchtigt wurde. Würden wir auch ein „Recht auf Tabakgenuss“ in der U-Bahn oder ein „Recht auf das Rasen auf deutschen Autobahnen“ („Freie Fahrt für freie Bürger“) einklagen, falls sich einmal eine Regierungsmehrheit entschließen sollte, dort ein allgemeines Tempolimit einzuführen? Nicht nachvollziehbar ist für mich auch der Einsatz für ein Recht auf Vollverschleierung auch vor Gericht und für Schülerinnen (vgl. vorgänge Nr. 224, S. 148). Anders als beim Tragen eines Kopftuches als Ausdruck des Bekenntnisses zum Islam dürfte die Berufung auf die Glaubensfreiheit der betreffenden Frauen oder Schulmädchen in diesem Fall häufig nur vorgeschoben sein, während es in Wahrheit um den zutiefst patriarchalischen Herrschaftsanspruch der Ehemänner und Väter geht. Bei den Familien z. B. aus Saudi-Arabien, die ich kennengelernt habe, konnte ich jedenfalls nicht den Eindruck einer freien und selbstbestimmten Entscheidung der Frau für die Gesichtsverschleierung gewinnen. Mit wie viel Mühe ist in den europäischen Staaten die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Frauen durchgesetzt worden! Sollen wir als HU dahinter zurückfallen, indem wir stockreaktionäre, religiös verbrämte Sozialpraktiken romantisch verklären?

4) Wo liegen erfolgversprechende Ansatzpunkte für eine glaubwürdige Menschenrechtsarbeit? Auf jeden Fall sollten wir uns weiterhin z. B. gegen Massenüberwachung usw. engagieren. Vielleicht gelingt es ja unter der neuen Geschäftsführung, endlich die Positionspapiere zum Verfassungsschutz und zum Datenschutz nach entsprechender Aktualisierung zu veröffentlichen. Wie wäre es darüber hinaus mit dem aktuell immer brisanter werdenden Thema der Wohnungsnot? Dieses hat durchaus juristische Bezüge, wie die Debatte um eine Vergesellschaftung von Konzernen wie „Deutsche Wohnen“ in Berlin zeigt. Was bedeutet z. B. das „Recht auf Wohnraum“ in Art. 28 der Verfassung von Berlin und der entsprechende Art. 11 des UNO-Sozialpaktes? Wie könnte eine wirksame „Mietpreisbremse“ gestaltet werden? Ein künftiges Schwerpunktheft der vorgänge soll sich diesen Themen widmen. Last but not least: Wir sollten nicht vergessen, dass die Menschenrechte vor allem die Schwächeren schützen sollen und nicht als Legitimation dienen dürfen, „Selbstverwirklichung“ auf Kosten anderer Menschen zu betreiben.

Martin Kutscha, Mitglied des Bundesvorstands

nach oben