Themen / Sozialpolitik

Obdachlose im Sozialstaat - Zum Recht auf angemessene Wohnung

22. Februar 1998

Grundrechte-Report 1998, S. 189-194

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt die Zahl der Wohnungslosen auf ca. 930000 Personen. Etwa 150000 Menschen leben auf der Straße, davon ungefähr 50000 Kinder und Jugendliche.

Obdachlosigkeit verletzt die Würde des Menschen. Folglich müssen wir den Tatbestand der Wohnungslosigkeit als Verstoß gegen die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot begreifen. Nach Art. 20 Abs. 1 GG ist die Bundesrepublik darauf festgelegt, ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ zu sein. Das Sozialstaatsgebot steht zugleich mit dem Demokratieangebot in Art. 20 Abs. 1 GG und den besonderen Ausprägungen des Rechtsstaatsgebotes in Art. 20 Abs. 3 GG an zentraler Stelle des Grundgesetzes. Nach Ernst-Rudolf Huber ist der Sozialstaat _ein dem Industriezeitalter adäquater Staat der sozialen Intervention, die dem Schutz der schwächeren Gruppen in der Gesellschaft dienen soll. Folglich besteht eine wesentliche Aufgabe des Staates darin, für eine solche Integration der Obdachlosen zu sorgen. Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat, sich um soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich zu bemühen.

Im Grundgesetz ist kein Grundrecht auf Wohnen formuliert. Jedoch beeinträchtigen die Folgen von Obdachlosigkeit verschiedene Grundrechte, wie zum Beispiel Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 2 GG) sowie die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG).

Obdachlose haben grundsätzlich einen Anspruch auf Unterbringung, nach dem ihnen eine Unterkunft ganztägig nicht nur zum Schutz gegen die Witterung, sondern auch sonst als geschützte Sphäre zur Verfügung steht. Zu dieser Bereitstellung einer Unterbringung sind in der Regel die Kommunen verpflichtet.

Obdachlos ist derjenige, der keine abgeschlossene Wohnung mit einem Mietvertrag hat. Nach § 2 der Durchführungsverordnung zu § 72 BSHG sind „Personen ohne ausreichende Unterkunft im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 Personen, die in Obdachlosen- oder sonstigen Behelfsunterkünften oder in vergleichbaren Unterkünften leben“, das heißt, Obdachlose sind diejenigen, die in einer Obdachlosenunterkunft leben.

Aus ordnungsrechtlicher Sicht und nach allgemeiner Rechtsmeinung sind Obdachlose eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Die zu schützenden Güter sind neben Sicherheit und Ordnung auch Leib und Leben der Obdachlosen. Die gesetzliche Grundlage bilden hier bezeichnenderweise die Polizeigesetze der Länder.

Für die Ordnungsbehörden ist nur derjenige obdachlos (und wird damit auch statistisch erfaßt), der sich obdachlos meldet, um untergebracht zu werden. Aus diesem Grunde sind weitaus mehr Menschen obdachlos, als durch die Statistiken erfaßt werden.

In Juni 1996 fand in Istanbul die 6. große UNO-Konferenz (Habitat II) mit den Hauptthemen „angemessene Unterkunft für alle“ und „nachhaltige Siedlungen in einer zur Verstädterung strebenden Welt“ statt. In der Präambel heißt es unter Ziffer 9: „Alle Menschen und alle Familien besitzen das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard – wozu angemessene Nahrung, Kleidung, Wohnraum, gesundes Wasser und Abfallbeseitigung gehören – sowie auch eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen.“ Und in Kapitel 3 unter Ziffer 25 verpflichten sich die Staaten, „das Angebot an erschwinglichem Wohnraum zu vergrößern“. Nach Ziffer 54 gilt es, „regelmäßig zu beurteilen, wie der Notwendigkeit staatlichen Eingreifens zur Befriedigung besonderer Bedürfnisse der armen und der schwachen Gruppen am besten entsprochen werden kann, für welche die traditionellen Marktmechanismen versagen“. Unter diesen Leitsätzen der Habitat-II-Konferenz hat die Bundesregierung ihre Unterschrift geleistet.

In Hannover haben wir für die auf dem Wohnungsmarkt nicht zu vermittelnden Obdachlosen die Soziale Wohnraumhilfe gegründet, in der durch die Kooperation von Wohnungsbauunternehmen, Landeshauptstadt Hannover und einem Sozialträger (Diakonie) Wohnungen mit normalen Mietverträgen für Obdachlose geschaffen werden.

Das grundlegende Konfliktpotential bei den Wohnungslosen liegt in der Verknüpfung der Chancenungleichheit bei der Teilhabe am Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Obdachlosigkeit beginnt in der Regel mit Arbeitslosigkeit. Danach kommt es häufig zu Eheproblemen, Suchtverhalten, Krankheiten, Schulden, Rückzug aus Sozialbeziehungen und Vereinen, Resignation und Apathie, Zunahme negativer Einstellungen gegenüber Behörden, Ehescheidung, kleinen Strafdelikten wie Schwarzfahren oder Diebstahl und letztlich zum Wohnungsverlust. Manche versuchen dann eine Zeitlang bei Verwandten unterzukommen, beginnen den Kontakt zur Obdachlosenszene. Der individuelle Absturz zum „Wohnungsnotfall“ vollzieht sich in der Regel über Mietschulden, Räumungsklage bis zur Räumung der Wohnung und im äußersten Fall zu einem Leben in der Obdachlosenunterkunft oder auf der Straße. Dadurch verstärken sich die Alkoholprobleme und die Krankheitserscheinungen. Manchmal erhalten Wohnungslose vorübergehend wieder eine Wohnung zugewiesen, können sie jedoch nicht halten aufgrund neuer Haftstrafen oder verstärkter Krankheiten. Da die Betroffenen oft nicht regelmäßig zum Arzt bzw. Gesundheitsamt gehen und Therapien abbrechen, haben sie zunehmend Schwierigkeiten, neue Wohnungen zu erhalten. Leben ohne Wohnung ist Kampf ums Überleben. Die Straße ist keine Wartehalle für Menschen ohne Wohnung, die Straße zerstört das Leben der Menschen. Tägliches Essen, Schlafen, Trinken und auch die Geselligkeit geschehen in der Öffentlichkeit. Ohne den Schutzraum der eigenen Wohnung verfügen wohnungslose Menschen nur über ein eingeschränktes oder über gar kein Privatleben. Sie vereinsamen am Rande der Gesellschaft.

Eine weitere gravierende Ursache steigender Obdachlosigkeit ist die anhaltende Verknappung billigen Wohnraums für sogenannte Problemgruppen. Viele Sozialbindungen sind im sozialen Wohnungsbau ausgelaufen, ohne daß ausreichender Ersatz geschaffen worden ist. Zusätzlich ist die Zahl preisgünstiger Wohnungen durch Abriß von Altbauten, Renovierung, Sanierung, Fehlbelegung und durch Umwandlung in Eigentum bei steigendem Bedarf erheblich zurückgegangen.

Reduzierte Sozialhilfe, unzureichende Unterkunft, befristete Aufenthaltsdauer sind Maßnahmen der Kommunen, die wohnungslose Menschen erneut in die Perspektivlosigkeit entlassen. Sie haben trotz freistehenden Wohnraums keine Chance auf eine normale Wohnung. Die Eigentümer vermieten aus folgenden Gründen nicht mehr an alle Personen:

– wenn sie Mietschulden haben und bei der Schufa (Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung) eingetragen sind:

– wenn sie besondere soziale Probleme und einen hohen Betreuungsbedarf haben;

– wenn sie auffällig im äußeren Erscheinungsbild sind, das auf Verwahrlosung oder Suchtprobleme schließen läßt;

– wenn sie ein gescheitertes Mietverhältnis hinter sich haben.

Vom Amt für Wohnungswesen in Hannover werden in vielen Fällen Bescheinigungen verlangt, in denen die betreuenden Dienste nachweisen müssen, daß der zukünftige Mieter in der Lage ist, eine Wohnung zu bewohnen. Besonders bei Wohnungslosen wird angezweifelt, ob sie wohnfähig sind und den von ihnen zu erwartenden Pflichten nachkommen können. Zur Wohnfähigkeit gehören drei Komponenten:

– die vorhandene Wohnung mit ihrer Größe, Ausstattung und Lage;

– der Mieter mit seiner Lebensgeschichte und seinen Gewohnheiten;

– das Wohnumfeld (Nachbarschaft) oder auch das Gemeinwesen mit all den Bedingungen und Regeln, die sich häufig über Jahre entwickelt haben.

Die Wohnfähigkeit ist die Übereinstimmung und das konfliktlose „Zusammenpassen“ dieser drei Faktoren: Umfeld, Wohnung und Mieter. Aufgrund dieser Situation ist es schwer für einen Obdachlosen, wohnfähig zu werden. Es widerspricht der Würde des Menschen, anstelle einer Unterbringung durch die Behörde auf das Wohlwollen Dritter angewiesen zu sein.

Die genannten negativen Auswirkungen der Obdachlosen-Unterbringung bzw. des Lebens auf der Straße verletzen mehrere Grund- bzw. Menschenrechte. „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet …“ heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (Art. 25 Abs. 1). Die Menschenwürde wird angetastet, wenn das Selbstwertgefühl des Menschen zerstört wird und er unter Lebensbedingungen aufwachsen muß, die ihn zum Objekt erniedrigen.

Die Folgen der Obdachlosigkeit sind deutlich sichtbar in bezug auf die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ und das „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Die Ausgrenzung vom gesellschaftlichen Leben, das Ausgeliefertsein in das willkürliche Verhalten Dritter und die schweren psychosomatischen Folgen machen die Ausübung der Grundrechte des Artikels 2 unmöglich.

Der Art. 6 Abs. 1 GG enthält die Verpflichtung zum besonderen Schutz von Ehe und Familie durch die staatliche Ordnung. Die Stigmatisierungs- und Diskriminierungseffekte wirken sich negativ auf die Familie und hier insbesondere auf die Kinder aus. Suchtprobleme und Verwahrlosungseffekte sind Folgen des Obdachlosendaseins und machen ein normales Familienleben unmöglich. Da nach Art. 6 Abs. 2 GG die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern ist, sind die Kinder häufig schwerwiegenden Schädigungen ausgesetzt.

Wenn das grundgesetzliche Sozialstaatsgebot vor allem den sozial schwächeren Teil der Bevölkerung fördert und die Belange der Allgemeinheit den Vorrang vor der Verfolgung eigensüchtiger Interessen haben, dann steht den Menschen für ein angemessenes Leben in Würde zumindest ein moralisches „Grundrecht“ zu. Die überragende Bedeutung des Wohnens für ein menschenwürdiges Leben wird auch in Art. 13 Abs. 1 GG („Die Wohnung ist unverletzlich“) unterstrichen.

Es gibt unterschiedliche Kategorien von Menschenrechten, insbesondere in Hinblick auf die rechtliche Einklagbarkeit. Für alle Kategorien ist die Würde des Menschen in gleicher Weise der entscheidende Kern. Vor allem die sozialen Menschenrechte haben immer auch eine Schutzfunktion. Sie schützen gegen mögliche Verletzungen durch Dritte und gegen staatliche Verordnungen. Gleichzeitig fördern sie positive Maßnahmen zur Verwirklichung der sozialen Menschenrechte. Wenn es auch kein grundgesetzlich verankertes Recht auf Wohnen gibt, so bedeuten die Folgen des Wohnungsverlusts eine erhebliche Verletzung der Menschenrechte und des Sozialstaatsgebots. Angesichts dieser Tatsachen würde es durchaus Sinn machen, den Art. 20 durch ein Grundrecht auf angemessene Wohnung zu ergänzen.

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