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Die Wende: Ersehnt – erlebt – erlitten. Fazit neun Jahre nach`89

Mitteilungen16206/1998Seite 46

Mitteilungen Nr. 162, S. 46

Der andauernde Prozeß der Ent-Beruflichung in Ostdeutschland fand in den alten Bundesländern bislang wenig Beachtung. Für die Humanistische Union ist die faktische Berufsverbotspraxis gleichwohl von besonderem Interesse. Laut Beschluss der letzten Delegiertenkonferenz sind die Kultusministerien Sachsens und Thüringens aufgefordert, die formelhaften Kündigungen von Lehrern wegen „persönlicher Nichteignung“ entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Urt. v. 08.07.97, Az. 1 BvR 1243/95) zugunsten einer Überprüfung zu korrigieren, die dem Einzelfall gerecht wird. Den folgenden Bericht erhielten wir von unserer Diskussionsredakteurin Irmgard Koll:

Die Wende: Ersehnt – erlebt – erlitten.
Fazit neun Jahre nach ’89

Zu dieser „Bilanz einer Abgewickelten und eines West-Imports“ berichteten der DGB-Gewerkschafter Günter Harrer, MdL Thüringen, und Sabine Hoffmann aus Jena, Fraktionssprecherin der PDS im Jenaer Stadtrat und Wahlkreismitarbeiterin des parteilosen Günter Harrer, am 24. April 1998 in Oberkirch/Baden über ihre Erfahrungen seit der Wende.
Eingeladen hatte der Ortsverband Oberkirch-Ortenau der Humanistischen Union. In ihren einführenden Worten begründete Ursula Neumann die Initiative zu dieser Veranstaltung mit persönlicher Neugier auf mehr Informationen aus erster Hand über die Entwicklung in den neuen Bundesländern und dem Bestreben, angesichts der inzwischen aufgekommenen „Ossi-Wessi-Animosität“ einen Schritt aufeinander zu zu tun.
In seinem Einführungsstatement berichtete HU-Mitglied Günter Harrer, der als Gewerkschaftssekretär 1990 nach Jena abgeordnet worden war, um dort beim Aufbau der Gewerkschaftsorganisation mitzuhelfen, welchen Schock ihm die im Einigungsvertrag vorgegebene „Abwicklung“ von Unternehmen (und damit Beschäftigungsverhältnissen) in der früheren DDR versetzt habe. Die fünf neuen Länder wurden als „Sondergebiet“ behandelt. Harrer hatte in zahlreichen Arbeitsgerichts-Prozessen die Interessen der vor die Tür gesetzten Arbeitnehmer zu vertreten, die – nachdem sie zunächst in einer „Warteschleife“ gelandet waren, schließlich doch in großer Zahl entlassen wurden, weil keine Arbeit mehr für sie im Betrieb vorhanden war. Bei anderen Berufsgruppen (Beamte, Lehrer) zählte zu den Kündigungsgründen z.B. „persönliche Nichteignung“, womit die Mitgliedschaft in der SED gemeint war.
Die Löhne liegen beispielsweise im Baugewerbe unter portugiesischem Niveau. Die Aussichten für die Beschäftigungssituation sind trübe, nicht zuletzt auch angesichts der Tatsache, daß es in Thüringen kaum tarifgebundene Betriebe bzw. Tariflöhne gibt. Die Betriebe weisen inzwischen moderne Standards und eine hohe Produktivität auf („Kapitalismus ohne Arbeit“). Die Enttäuschung der arbeitslosen Menschen, die so große Hoffnungen auf die Wiedervereinigung gesetzt hatten, ist leicht vorstellbar.
Sabine Hoffmann, „echte“ Ossi und bis zur Wende SED-Mitglied (wozu sie sich offen bekennt), erzählte zunächst aus sehr persönlicher Sicht, wie sie – gleich vielen anderen – das Alltagsleben in der DDR empfunden hatte: Gesicherter Arbeitsplatz, gute berufliche Möglichkeiten für Frauen, kostenlose Gesundheitsfürsorge und Kindereinrichtungen, niedrige Kosten für Wohnen und andere Grundbedürfnisse gewährleisteten ein Leben ohne nennenswerte materielle Sorgen. Die Plattenbausiedlungen (mit ihrem guten Wohnkomfort) erschienen ihr nicht „grau“ wie so manchem „Westbesucher“ die Solidarität unter den Bewohnern und die gemeinsame Lebensgestaltung brachten „Farbe“ in den Alltag dort.
Dennoch wurden zugegebenermaßen spätestens in den 80er Jahren die wirtschaftlichen Probleme immer
deutlicher: Fehlende Waren und Produktionsmaterialien, schrumpfende Produktivität, die wachsenden ökologischen Probleme in Industrie und Landwirtschaft. Die jetzige Unternehmens- und Beschäftigungssituation (eine Viertelmillionen Arbeitslose in Thüringen), die nach dem Einzug des westlichen Systems entstanden ist, bereitet jedoch mindestens ebenso viele Sorgen.
Betroffen sind besonders die Frauen, deren berufliche Eingliederung zu DDR-Zeiten deutlich weiter fortgeschritten war. (Frau Hoffmann, Diplom-Philosophin, mußte nach der Wende umschulen, wurde Krankenschwester und bewarb sich schließlich um den parlamentarischen Posten bei der PDS). So gesehen, verwundert der Zulauf zur SED-Nachfolgepartei PDS in den neuen Ländern, wo die Enttäuschung über die Auswirkungen des aus dem Westen importierten Kapitalismus groß ist, nicht.
In der anschließenden angeregten Diskussion wurden u. a. Fragen nach den Erfolgen der PDS im thüringischen Landtag und nach der Zukunft dieser Partei gestellt. Herr Harrer gab zu, daß sich die Arbeit im Landtag für die PDS schwierig gestaltet. Die meisten Erfolgschancen sieht er in der Europapolitik, in der die PDS-Anträge mal mit der CDU, mal mit der SPD realisiert werden können.
Bestehende Vorurteile erschweren mitunter die Verständigung: Für viele Thüringer gilt Günter Harrer als Westdeutscher, im Westen sieht sich der der parteilose Gewerkschafter dem Vorwurf des Überläufers in den Osten ausgesetzt. Wenn die Veranstalter sich im Vorfeld ein wenig Sorgen über die Resonanz dieses Abends – wegen des Reizbegriffs „PDS“ – gemacht hatten, so erwiesen sich diese als unbegründet. Die Teilnehmer zeigten sich sehr aufgeschlossen und interessiert. So konnte Moderator Johannes Neumann als Fazit festhalten, daß das Anliegen, Vorurteile abzubauen und menschliches Verständnis füreinander zu entwickeln erreicht worden und ein Schritt getan worden sei, die „Mauer in den Köpfen“ abzubauen.

Irmgard Koll

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