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Kruzifix: Das Kreuz Schulzimmer

aus: vorgänge Nr. 119, Heft 5/1992, S. 5-7

Vor dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe ist ein Verfahren über die Zulässigkeit von Kruzifixen / Kreuzen im Schulzimmer anhängig; mit einer Entscheidung ist für die erste Hälfte 1993 zu rechnen. Ein Elternpaar und seine Kinder hatten vor der bayrischen Verwaltungsgerichtsbarkeit gegen das Kreuz im Klassenraum geklagt und in beiden Instanzen, dem Verwaltungsgericht Regensburg und dem Verwaltungsgerichtshof München, verloren. Sie haben jetzt Verfassungsbeschwerde erhoben.

Es fällt nicht leicht, die Rechtslage zu entwirren. Ausgangspunkt bildet Artikel 140 des Grundgesetzes:

„Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom Il. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.“ Die entsprechenden Artikel, soweit sie hier von Interesse sind, lauten:
Art. 136: „Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt. … Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Die Behörden haben nur soweit das Recht, ,nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert. Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.” Art. 137: „Es besteht keine Staatskirche. … Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich der gemeinschaftlichen Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.”

Auf dieser Grundlage hatte das Bundesverfassungsgericht, das Schulgebet einer christlichen Konfession im Auge, bereits das Schulgebet für zulässig erklärt; mit dem Argument, der sogenannten „negativen Bekenntnisfreiheit” jener, die hieran nicht teilnehmen wollten, stehe die „positive Bekenntnisfreiheit” derer gegenüber, die ein Schulgebet wünschten; zwischen beiden Freiheiten müsse abgewogen werden.

Der Begriff der positiven /negativen Bekenntnisfreiheit war der verfassungsrechtlichen Diskussion der Weimarer Zeit[1] und auch der Anfangsjahre der Bundesrepublik fremd. Er ist, wenn ich recht sehe, erstmals 1965 durch ein Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofs[2] in die juristische Literatur eingeführt worden. Die Gegenüberstellung der positiven mit der negativen Bekenntnisfreiheit indes erfolgte erstmalig durch Böckenförde[3] in einer Besprechung des Urteils des Hessischen Staatsgerichtshofs. Er zog in dem Vergleich jedoch im Gegensatz zur späteren Rechtsprechung den zutreffenden Schluss, beide Freiheiten müssten auf den persönlichen Bereich und die rein kirchliche Öffentlichkeit beschränkt bleiben.

Heute erfolgt die Gegenüberstellung der positiven mit der negativen Bekenntnisfreiheit zweckgerichtet, um die sogenannte negative zu begrenzen, weil die Bekenntnisfreiheit gemäß der Verfassung ohne Vorbehalt gewährleistet sei und deshalb nur mit dieser juristischen Kunstfigur eine Begrenzung denkbar ist. Der Doppelbegriff stiftete — auch, wenn heute vielfach gebräuchlich — reichlich Verwirrung, weil im Ergebnis immer die Mehrheit entscheidet, die Verfassung mit der Religionsfreiheit jedoch gerade Minderheiten schützen will. Die neuere Literatur hat daher den Begriff der (positiven) Religions- und Weltanschauungsfreiheit geprägt, um auszudrücken, dass der Staat sich bei Religion und Weltanschauung — unabhängig von Mehr-  und Minderheiten — neutral zu verhalten habe. Die Vertreter der früheren Lehre von der negativen und positiven Religionsfreiheit werden nicht nur aus verfassungsrechtlichen Gründen, sondern auch, weil sie zum Resultat führen müsste, dass heute in Deutschland in überwiegend von Türken besuchten Schulklassen Symbole der islamischen Religion zu zeigen wären, ihre Auffassung überdenken müssen.

Die bayrischen Verwaltungsgerichte hatten im vorliegenden Verfahren die Klage auf der Grundlage der Lehre von der negativen/positiven Bekenntnisfreiheit unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum Schulgebet abgewiesen. Es wird voraussichtlich schwer fallen, das Bundesverfassungsgericht zu veranlassen, die falsche Lehre von der negativen / positiven Bekenntnisfreiheit zu verlassen und den Begriff durch den der „positiven Religions- und Weltanschauungsfreiheit” (Erwin Fischer) zu ersetzen, der dem Staat jedwede Organisation kirchlicher Feierlichkeiten untersagt. Indes: Die negative/positive Bekenntnisfreiheit ist nicht das entscheidende Kriterium.

Beim Schulgebet handelt es sich um die Teilnahme an religiösen Handlungen, und hier ist die negative / positive Bekenntnisfreiheit — so man diesen eingeführten, wenn auch überholten Begriff überhaupt verwenden will — in der Tat der wesentliche Gesichtspunkt. Das Kreuz ist ein kirchliches Symbol, dessen Anblick allen Schülerinnen und Schülern einer Klasse als gemeinsames Symbol des Staates (sonst hinge es nicht in einer staatlichen Schule) und der Kirche aufgezwungen wird. Die entscheidende Frage dieses Verfahrens ist deshalb, ob der Staat ein kirchliches Symbol in seinen Einrichtungen verwenden und so eine Einheit von Staat und Kirche darstellen darf. Das Kruzifix, die stilisierte Darstellung eines Hinrichtungsinstruments, war zunächst kein christliches Symbol. Hierzu wurde es erst im Laufe der Geschichte, etwa seit dem 4. Jahr-hundert, mit der Wandlung der Kirche zur Staatskirche. Im Laufe der Geschichte wurde es zum Sinnbild der sich als christlich empfindenden Kirchen, insbesondere der katholischen. Sie verstehen das Kreuz nicht nur als Zeichen des Todes und der Auferstehung Jesu, sondern vor allem auch als Symbol des Triumphes und der siegreichen Herrschaft über die Welt. Viele Menschen sehen im Kreuz dagegen ein Symbol eines gnadenlosen und brutalen Kampfes gegen alle, die anders glaubten und glauben, etwa Juden und Ketzer.

Wenn es der Staat in seinen Institutionen, gleich ob Schulen oder anderen Einrichtungen, verwendet, identifiziert er sich mit den Kirchen und versinnbildlicht die von der Verfassung missbilligte Einheit von „Thron und Altar”. Man könnte sich folglich eine Kirche vorstellen, die im Gegensatz zu ihrer heutigen Einstellung, der Verwendung ihrer Symbole durch den Staat lebhaft widerspricht, weil sie gewärtigen muss, dass der Staat Entscheidungen trifft, die mit kirchlichen Lehren nicht in Einklang stehen (krasses Beispiel: Schwangerschaftsabbruch, selbst in der Form der Indikationenlösung). Ich zügele meine Phantasie bei der Vorstellung, wie die Kirchen reagieren würden, sollten staatliche Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, mit einem Kreuz versehen sein. Wie würden sich die Kirchen verhalten, hinge neben oder gar anstelle des Kreuzes in Schulen auch das Symbol einer anderen Religionsgemeinschaft, etwa der jüdischen Religion oder des Islam? Würden sie auch dann noch vom Toleranzgebot sprechen?

Der Staat ist durch die Verfassung nicht nur gehalten, nicht in Grundrechte (hier die negative Bekenntnisfreiheit) einzubrechen, sondern darüber hinaus, in seiner Selbstdarstellung die Grundwerte unserer Verfassung zu vertreten. Es muss dem Staat verwehrt sein, sich so darzustellen, als seien die Gebote der Verfassung nicht die Richtschnur seines Handelns.

Zu den Grundlagen unserer Verfassung gehört das Gebot weltanschaulicher Neutralität, das Gebot der Trennung von Staat und Kirche. Nach Art. 137 Abs. 1 der Weimarer Verfassung, auf den Art. 140 GG Bezug nimmt, besteht keine „Staatskirche”. Damit ist die bis dahin bestehende, für Staat und Kirche gleichermaßen verheerende Einheit von Thron und Altar zerbrochen. Es muss dem Staat verwehrt sein, mit Symbolen diese von der Verfassung missbilligte Einheit darzustellen. Deshalb sind auch vom Bundesverfassungsgericht Kreuze in Gerichtssälen zu recht als unstatthaft bezeichnet worden.[4]

Insoweit ist der Gegenstand dieses Verfahrens ein anderer als im Verfahren zum Schulgebet.[5] Hier ist zu entscheiden, ob der Staat sich so darstellen darf, dass die Schülerinnen und Schüler von früher Jugend an den Eindruck gewinnen, Staat und Kirche seien eine Einheit, eine dem Grundgesetz (und der Weimarer Verfassung) widersprechende Vorstellung. Ich kann mich auf die frühen Christen berufen. Sie lehnten im Römischen Imperium die Teilnahme an allen staatlichen Veranstaltungen ab, in denen Zeichen des „Divinus Augustus”, des göttlichen Kaisers, aufgerichtet waren.

Ähnlich hat auch das Schweizerische Bundesgericht Lausanne in seinem Urteil vom 26.9.1990 (EuGRZ 1991 S.89) zu Kreuzen in der Schule unter Berufung auf eine ähnliche Entscheidung des Supreme Court der Vereinigten Staaten „von Nordamerika argumentiert: „Der Staat als Garant der von Art. 27 Abs. 3 BV bestätigten konfessionellen Neutralität der Schule kann sich jedoch nicht die Befugnis herausnehmen, die eigene Verbundenheit mit einer Konfession in jedem Fall deutlich zu zeigen. Er muss vermeiden, sich mit einer Mehrheits- oder Minderheitsreligion zu identifizieren und so die Überzeugungen der Bürger anderer Bekenntnisse zu beurteilen. Es ist deshalb begreiflich, dass jemand, der die öffentliche Schule besucht, in der Zurschaustellung eines solchen Symbols den Willen sieht, die Auffassungen der christlichen Religionen im Unterrichtsstoff zu verwenden oder den Unterricht unter den Einfluss dieser Religion zu stellen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass einige Personen sich in ihren religiösen Überzeugungen verletzt fühlen, wenn in der Schule dauernd ein Symbol einer Religion gegenwärtig ist, der sie nicht angehören. Das kann nicht unbedeutende Auswirkungen haben, vor allem auf die geistige Entwicklung der Schüler und ihrer religiösen Überzeugungen die diejenigen der Eltern sind und zu denen sie andererseits zur gleichen Zeit in der Schule erzogen werden, Folgen, die Art. 27 Abs.3 BV gerade vermeiden will …“[6]

Die Rechtslage ist in der Schweiz nicht anders als nach dem Grundgesetz in der Bundesrepublik Deutschland. Dies wird auch daran erkennbar, dass das Schweizerische Bundesgericht Lausanne sich zur Begründung seiner Ansicht auch auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes[7] und auf den deutschen Autor Erwin Fischer[8] beruft …

[1] Gerhard Anschütz Komm. RV 1919, 10. Aufl., S. 538

[2] NJW 1966, S. 31

[3] DÖV 1966, S. 30

[4] BverfGE 35 / 366(375 ff); vgl. hierzu Böckenförde, Zeitschrift für evangelisches Kirchen-recht, 1975, S. 119-147

[5] vgl. hierzu Renck, BayVBI., 1991, S. 346

[6] 7b der Urteilsbegründung
[7] BVerfGE 35, S. 366

[8] Trennung von Staat und Kirche, Ffm 1984

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