Mehr Liberalität oder ein schritt zum Überwachungsstaat?
Das neue niedersächsische Polizeigesetz
aus: vorgänge Nr. 119, Heft 5/1992, S. 15-18
Die Niedersächsische Landesregierung bereitet die Änderung des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung vor, das zukünftig den Namen Niedersächsisches Gefahrenabwehrgesetz (NGAG) tragen soll. Diese Novellierung ist dringlich, da das bisherige Gesetz zum einen nicht den Anforderungen des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts von 1985(!) entspricht, zum anderen ist sie Bestandteil des Koalitionsabkommens der rot /grünen Landesregierung.
Doch plant die Novelle Unmögliches: Polizei-recht ist Landesrecht, Strafprozessrecht Bundes-recht. Das Polizeirecht klassischer Fassung bestimmt die Abwehr von Gefahren als Aufgabe der Polizei. Hinzu kommt nun, für die Verfolgung von Straftaten vorzusorgen und Straftaten zu verhüten. Gemäß dem Strafprozessrecht ist es Aufgabe der Polizei, Straftaten zu verfolgen. Beide Bereiche sind in der Praxis kaum zu trennen: Der Polizeibeamte, der auf einen Hilferuf zu einem Einbruch eilt, sucht nach Polizeirecht die Ausführung des Einbruchs zu hindern und nimmt gleichzeitig die Strafverfolgung auf. Die Überschneidung würde nicht schaden, beschrieben das Polizei- und das Strafprozessrecht nicht die Befugnisse der Polizei unterschiedlich. Diesen Widerspruch aufzulösen, ist der Novelle nicht gelungen. Auch zeigen sich Überschneidungen mit dem Versammlungsgesetz.
Im klassischen Polizeirecht (Preußisches Polizeiverwaltungsgesetz von 1931) ist Eingriffsvoraussetzung eine (bereits eingetretene oder unmittelbar bevorstehende) Störung der öffentlichen Ordnung. Ähnlich darf nach dem Strafprozessrecht die Polizei erst ermitteln, wenn ein Anfangsverdacht vorliegt. Diese Begrenzung soll jetzt (nicht nur in Niedersachsen) durchbrochen werden. Die Polizei hat Vorbereitungen (zu treffen), um künftige Gefahren abwehren zu können … (und) außerdem für die Verfolgung von Straftaten vorzusorgen. Dies ist eine Ausdehnung der Aufgaben in das Vorfeld. Kritisch kann man die in dem gesamten Bundesgebiet zu beobachtende Entwicklung als einen Schritt zum Überwachungsstaat sehen. Die Polizei indes sieht es anders: Sie habe diese Aufgaben schon immer wahrgenommen. Wie dem auch sei: Diese Entwicklung ist kaum aufzuhalten, sondern nur zu begrenzen.
Der Polizei ist eine nahezu unbegrenzte Erhebung und Speicherung personenbezogener Daten gestattet, insbesondere über Personen, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, sie könnten künftig Straftaten – auch geringe begehen, über Kontakt- oder Begleitpersonen, über Personen, bei denen Anhaltspunkte bestehen, dass sie Opfer von Straftaten werden. Kontakt- oder Begleitperson ist ,,eine Person, die mit einer anderen Person, von der tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass diese eine Straftat von erheblicher Bedeutung begehen wird, in einer Weise in Verbindung steht, die erwarten lässt, dass durch sie Hinweise über die angenommene Straftat gewonnen werden können.“ Einfacher wäre es gewesen, den Personenkreis zu beschreiben, dessen Daten nicht gespeichert werden dürfen.
Die erhobenen Daten dürfen ewig, auch bei Kindern und Jugendlichen, gespeichert werden. Bei Erwachsenen wird spätestens nach zehn, bei Jugendlichen nach fünf und bei Kindern nach zwei Jahren eine Prüfung notwendig, ob die Daten weiterhin benötigt werden.
Natürlich dürfen die Daten genutzt werden, bei Kontakt- und Begleitpersonen allerdings nur, soweit dies zur Verhütung von Straftaten von erheblicher Bedeutung erforderlich ist. Also nicht zur Aufklärung von Straftaten? Wirklich nicht?
Die Polizei (und nicht etwa das Innenministerium) kann mit anderen Bundesländern und dem Bund einen automatisierten Datenverbund vereinbaren. Es ist dies wohl der einzige Fall, in dem eine nachgeordnete Behörde als selbstständiger Vertragspartner eines anderen Bundeslandes oder des Bundes auftritt. Eine Kuriosität, die der Erwähnung kaum bedürfte, wäre sie nicht ein Anzeichen für das Ausmaß, in dem sich die Polizei von den politisch verantwortlichen Ministerien abgekoppelt hat. Die übermittelten Daten werden alsdann nicht nur in den Grenzen des niedersächsischen Gesetzes, sondern in den unter Umständen weiteren Grenzen in anderen Bundesländern genutzt werden dürfen. Auch die Übermittlung an ausländische Stellen ist zu-gelassen worden, eine wohl unvermeidliche Lösung, auch wenn der Datenschutz hier mehr als zweifelhaft ist.
An dieser Stelle wird deutlich, warum die polizeilichen Aufgaben im Eingang der Novelle aus-weitend beschrieben worden sind. Wegen der Zweckbindung der Datenerhebung, Speicherung und Nutzung im Datenschutzrecht muss der Zweck erst geschaffen werden.
Unbestritten ist es um die polizeilichen Dateien nicht gerade zum Besten bestellt. Es findet sich viel Banales, Überholtes und Unrichtiges. Wahrscheinlich ist dies von menschlichen Unzulänglichkeiten abgesehen unvermeidlich. Die Polizei ist eine Behörde, die auf Verdacht arbeitet. Endgültige Klarheit schaffen erst die gerichtliche Hauptverhandlung und das Urteil. Der Polizeibeamte weiß zu Beginn seiner Ermittlungen nicht, wie das Ergebnis aussehen wird. Deshalb wird er zunächst auch Anhaltspunkte für Straftaten in die Dateien einspeichern, von denen er noch nicht weiß, dass sie ihn in die Irre geführt haben. Andererseits wird er Beobachtungen aussparen, die ihm zunächst nebensächlich erschienen und deren Bedeutung sich erst später offenbart. Hier müsste eine fortlaufende Datenpflege einsetzen. Für diese personalaufwändige Arbeit fehlen Zeit und Kraft. Zudem ist der Datenfluss von den Gerichten und Staatsanwaltschaften zur Polizei nach Abschluss der Verfahren mehr als nur mangelhaft, so dass spätere Korrekturen schwierig sind.
Vor diesem Hintergrund ist die Datenspeicherung für die Bürgerinnen und Bürger gefährlich, weil sie bei einem späteren Einschreiten der Polizei aus anderem Anlass zu Fehlgriffen führen kann. Die Mängel der Daten lassen sich auch nicht aus der Datei selbst auch nicht bei deren routinemäßiger Überprüfung erkennen; der Abgleich mit der Wirklichkeit fehlt zwangsläufig.
Es hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten, diese Dateien überhaupt verbieten zu wollen. Es wäre aber auch vergebliche Liebesmüh, nach qualifizierteren Dateien zu verlangen und eine Heuchelei, sie zu versprechen. Es bleibt nur die realistische Erkenntnis, dass die Polizei mit berechtigten, aber auch mit ungesicherten Verdächten gefüllte Dateien benötigt. Deshalb müssen die Dateien zugelassen werden, aber nur verbunden mit der Forderung, das Bewusstsein der Beamtinnen und Beamten von der Bedeutung der Dateneingabe zu schärfen. Entscheidend aber ist die Forderung, dass die Dateien nach kurzer Frist höchstens drei Jahre gelöscht werden müssen.
Eine solche Löschung würde die Arbeit der Polizei nicht erschweren. Nach dieser Frist ist nämlich der verfolgte Verdacht in aller Regel gerichtlich abgeklärt, sodass das Bundeszentralregister mit der Auflistung der rechtskräftigen Verurteilungen als deutlich zuverlässigere Informationsquelle zur Verfügung steht. So paradox es klingen mag: Die Arbeit der Polizei würde durch kurzfristige Löschungen sogar erleichtert, da sie nicht durch alte, längst widerlegte Verdächte fehlgeleitet würde. Oder, anders herum formuliert: Wer die polizeilichen Dateien unbrauchbar machen will, muss die Löschung eingegebener Daten verbieten.
Auffällig ist, dass die Staatsanwaltschaften weiterhin keinen unmittelbaren Einblick in die polizeilichen Dateien erhalten sollen. Die Übermittlungsregelungen des § 27 (k) werden ihn auch in Zukunft ausschließen. Es ist schwer zu begreifen, dass die Staatsanwaltschaften bis zur Anklage die Verfahren leiten und die Polizei mit Instruktionen zu versehen haben, aber über einen geringeren Informationsstand verfügen, sodass ihre Weisungen nicht immer hinreichend qualifiziert sein können. Ein Einblick der Staatsanwaltschaften in die Dateien würde auch häufig zu einer Berichtigung der Dateien führen, da deren Beamtinnen und Beamte eher in der Lage sind, Fehler zu erkennen und die Daten, etwa auf Grund einer Anklage, zu aktualisieren. So käme die Einsicht durch Staatsanwältinnen und Staatsanwälte auch der Polizei zugute. In diesem Zusammenhang ist auf die von dem Generalbundesanwalt Rebmann und den Generalstaatsanwälten angestoßene Diskussion, eine justizeigene länderübergreifende Datei von Ermittlungsverfahren zu schaffen, hinzuweisen. Die kostenintensive, haushaltsrechtlich nicht zu verantwortende Doppelarbeit von Polizei und Justiz könnte durch einen Zugriff der Staatsanwaltschaften auf die Polizeidateien vermieden werden.
Wer sich anhand des NGAG über verdeckte Ermittler, Vertrauensleute und die Möglichkeiten eines Lauschangriffs unterrichtet, muss sich der begrenzten Reichweite dieses Gesetzes bewusst sein. Es ordnet hier nur die Vorsorge für eine künftige Strafverfolgung, die Strafverfolgung selbst erfolgt nach den Regeln der Strafprozessordnung (StPO). Eine Maßnahme kann daher nach dem NGAG verboten, nach der StPO dagegen erlaubt sein und umgekehrt. Die Wahrscheinlichkeit für diese Ungereimtheit ist sogar groß, da die parlamentarischen Mehrheiten im Bund und im Lande Niedersachsen von unterschiedlichen Parteien gebildet werden.
Verdeckte Ermittler (Polizeibeamte, die unerkannt im kriminellen Milieu wirken) sind im NGAG nicht vorgesehen. Doch darf die Polizei Vertrauensleute (Personen, deren Zusammenarbeit mit der Polizei Dritten nicht bekannt ist“; eine Formulierung, die dem Begriff des Informellen Mitarbeiters sehr nahe ist) zu folgenden Zwecken einsetzen:
zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit,
über Personen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass diese Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden, und wenn die Datenerhebung zur Verhütung dieser Straftaten erforderlich ist, sowie über Kontakt- oder Begleitpersonen, wenn die Aufklärung des Sachverhalts auf andere Weise nicht möglich erscheint.
Ärzte und Angehörige ähnlicher Vertrauensberufe dürfen nicht als Vertrauensleute eingesetzt werden, ein Fortschritt, den die Humanistische Union erstmals im niedersächsischen Verfassungsschutzgesetz durchgesetzt hat.
Bemerkenswert und neu ist, dass eine längerfristige Observation nur von der Behördenleitung oder einer von ihr bestimmten Beamtin / Beamten des höheren Dienstes angeordnet werden darf und dass die Anordnung schriftlich zu begründen ist.
Der Lauschangriff (Verdeckter Einsatz technischer Mittel“) ist unter denselben Voraussetzungen zulässig. Der Lauschangriff auf eine Wohnung ist jedoch nur legitim, Wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer sich in der Wohnung aufhaltenden Person erforderlich ist oder dass sich in der Wohnung Personen aufhalten, von denen solche Gefahren ausgehen: ` Dieser Lauschangriff bedarf der richterlichen Anordnung. Bei Gefahr im Verzug genügt die Anordnung durch eine Beamtin / Beamten des höheren Dienstes; alsdann ist unverzüglich eine richterliche Bestätigung herbeizuführen.
Eine Rasterfahndung ist nicht erlaubt. Razzien hingegen sind an Orten zulässig, von denen auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte erfahrungsgemäß anzunehmen ist, dass dort
Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung verabreden, vorbereiten oder verüben,
sich Personen aufhalten, die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen, oder
sich Personen verbergen, die wegen Straftaten gesucht werden.
Diese Bestimmungen erscheinen unscharf. Offensichtlich soll hier ein bestimmtes Milieu getroffen werden; Börsensäle und Vorstandsetagen werden kaum gemeint sein.
Die Bestimmung zum Todesschuss ist abgeschafft, ein posthumer Erfolg von Werner Holtfort, der durch viele Jahre gegen eine Regelung des Todesschusses in Polizeigesetzen, die es Vor-gesetzten ermöglicht, diesen anzuordnen, angekämpft hat. Selbstverständlich bleiben tödliche Schüsse unter dem Gesichtspunkt der Notwehr oder Nothilfe nach dem Strafgesetzbuch weiterhin zulässig.
Es ist selbst für den Kenner der Materie außer-ordentlich schwierig, das Gesetz zu verstehen, weil es sehr abstrakt formuliert ist und sich dem Leser die Bedeutung nur erschließt, wenn er gleichzeitig mehrere andere Gesetze, insbesondere die Strafprozessordnung, das Außenwirtschaftsgesetz, das Versammlungsgesetz, das Bundes- und das niedersächsische Datenschutzgesetz in Gedanken mitliest. Die geplante Novelle stellt nicht nur an die Parlamentarier, die das Gesetz verantwortlich beschließen sollen, sondern später an alle, die es anzuwenden haben, hohe Anforderungen. Niemand kann erwarten, dass alle Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, erst recht nicht die Bürgerin und der Bürger, es ohne Erläuterung verstehen werden.
Zum Teil ist dies unvermeidlich, weil jedes Polizeigesetz eine schwierige Gratwanderung zwischen der Notwendigkeit ist, die Polizei mit den erforderlichen Befugnissen auszustatten und der weiteren Notwendigkeit, Missbrauchsmöglichkeiten zu begrenzen. Jeder Polizeiapparat nicht nur in Deutschland ist skandalanfällig.
Deshalb ist der Gesetzestext allein nicht entscheidend. Von größerer Bedeutung ist vielmehr der Geist, in dem die Befugnisse genutzt werden. Hier ist in einer über vierzigjährigen Geschichte der Verfassung der Bundesrepublik (West) inzwischen viel erreicht, doch auch noch viel zu tun.