Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 225/226: Meinungsfreiheit in Zeiten der Internetkommunikation

Editorial

in: vorgänge Nr. 225/226 (1-2/2019), S. 1-6

Unser Grundgesetz kennt eigentlich keine Hierarchie der Grundrechte. In ihm stehen die freie Rede wie der Schutz der Vertraulichkeit, die Religionsfreiheit und die Gleichberechtigung sowie viele andere Werte nebeneinander. Unter all diesen Verfassungswerten kommt der Meinungsäußerungsfreiheit eine grundlegende Bedeutung zu, sie ist mehr als nur ein Grundrecht unter den anderen. So betont auch das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen immer wieder, dass die Meinungsäußerungsfreiheit für die Freiheit und die Demokratie schlechthin konstitutiv sei.

Wo und wie sich diese Freiheit jeweils verwirklichen kann, welchen potenziellen Einschränkungen und Gefährdungen sie ausgesetzt ist, unterliegt wie bei allen Grundrechten dem gesellschaftlichen Wandel – sowohl der Wertevorstellungen, Normen und politischen Gegebenheiten, aber auch ihrer technischen Bedingungen. Mit der zunehmenden Verlagerung der öffentlichen Kommunikation in den digitalen Raum stellen sich daher auch für die Meinungsfreiheit neue Fragen: Was bedeutet es, wenn Kommunikation die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes verliert und immer mehr digitale Spuren hinterlässt? Wie sollen wir mit der zunehmenden kommunikativen wie lebensweltlichen Abschottung einzelner Subkulturen, mit Hate Speech und Fake News umgehen? In welchem Maß beeinflussen Netzwerke und ihre Newsalgorithmen heute unsere Wahrnehmung und Kommunikationsbeziehungen? Mit diesen Fragen digitalisierter Kommunikation befasst sich die vorliegende Ausgabe der vorgänge. Unsere Autor*innen suchen bürgerrechtliche Antworten darauf, welche Chancen und Gefahren sich für die Meinungsfreiheit unter den Bedingungen digitaler, vernetzter Kommunikation ergeben.

Den Schwerpunkt eröffnet Patrick Donges mit einem Beitrag, der die Entwicklung der Internetkommunikation bis zur Entstehung von Social Media kommunikationswissenschaftlich einordnet. Donges macht drei Faktoren aus, die die Kommunikation und die medialen Inhalte im Netz heute prägen: Digitalisierung, Personalisierung und neue Gatekeeper. Die Digitalisierung befördere vor allem die Quantifizierung und Bewertung aller Inhalte, erlaube aber auch deren schnelle Weitergabe und (nahezu beliebige) Neu-Komposition: niemand muss heute mehr eine ganze Zeitung abonnieren, von der er oder sie sich nur für den Wirtschaftsteil interessiert. Daneben etabliere das Netz eine neue Form der Kommunikation, die an eine breite Öffentlichkeit gerichtet sei, sich aber durch eine Personalisierung ihrer Inhalte und ihrer Ansprache mehr und mehr dem Stil klassischer Individualkommunikation annähere. Schließlich löse das Netz die Unterteilung der klassischen Massenmedien in Produzierende (z.B. Journalist*innen) und Konsumierende (Leser*innen) auf bzw. führe mit den Social-Media-Anbietern neue Formen der Nachrichtenmittler ein, die zwischen diesen beiden Polen anzusiedeln sind.

Till Köstler knüpft daran an und versucht eine genauere Begriffsbestimmung Sozialer Netzwerke: Er geht auf die sozial- und kommunikationswissenschaftlichen Netzwerkdebatten ein, die deutlich älter als Facebook & Co sind und in denen besondere Merkmale und Funktionen dieser Netzwerke hervorgehoben wurden. Dies kontrastiert er mit der juristischen Netzwerk-Diskussion, die in Deutschland ihren vorläufigen Höhepunkt mit dem Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) erreicht hat. Demnach handelt es sich um eine besondere Form von Telemediendienstanbietern, die sowohl von der Individualkommunikation (etwa per eMail), aber auch von journalistisch gestalteten Telemedien (z.B. Nachrichtenwebseiten) und vom klassischen Rundfunk abzugrenzen ist. Köstler zeigt, dass die im NetzDG verankerte Legaldefinition der Netzwerkanbieter noch einige Abgrenzungsprobleme aufwirft, wer unter den Anwendungsbereich dieses Gesetzes fällt und wer nicht – etwa wenn die Gewinnerzielung oder die journalistische Gestaltung von Inhalten zu entscheidenden Kriterien werden. Dies wirke sich auch auf die Frage auf, welche grundrechtlichen Schutzbereiche für die Netzwerke bzw. die dahinterstehenden Anbieter anzuwenden sind. Zugleich sieht er den aktiven Einfluss, den die Betreiber über ihre AGBs und die Algorithmen auf die Verteilung (bzw. Unterschlagung) von Nachrichten ausüben, in der rechtlichen Regulierung bisher nicht hinreichend berücksichtigt – das NetzDG behandle die Firmen wie klassische Telefonanbieter, als würden diese gewissermaßen nur „Leitungen“ und „Pinnwände“ für die Nutzer*innen bereitstellen, was aber erkennbar zu kurz greift.

Während die ersten Beiträge den innovativen und teilweise auch emanzipatorischen Charakter der Sozialen Netzwerke betonen, folgt jetzt ein Perspektivwechsel: Wir widmen uns den Problemen und Gefahren, die mit der Ausweitung der Internetkommunikation verbunden sind. Stefan Hügel stellt in seinem Text die Diskussion um die Macht und Reichweite Künstlicher Intelligenz (KI) sowie deren Kontrolle vor. Nach seiner Darstellung korrespondiert ein übertriebener Glaube an eine allmächtige, starke KI („die wissenden Maschinen“) mit einem defizitären Verständnis von der realen Wirkungsweise und Einbettung von Algorithmen in unserem technisierten Alltag. Einerseits sei das, was heute unter dem Label „KI“ vermarktet werde, längst noch nicht so intelligent, wie es die Visionen intelligenter Automaten nahelegen. Auf der anderen Seite werden die tatsächlichen Folgen der Datafizierung, die sich in nahezu allen Wirtschafts- und Lebensbereichen breit macht, eindeutig unterschätzt. Hügel beschreibt, welche gesellschaftlichen Folgen (etwa neue Formen der Diskriminierung) die verschiedenen „Lernformen“ der KI bereits heute haben und wie sich einzelne Techniken auf z.B. Kriegsführung, politische Kommunikation oder Wahlen auswirken. Die Lösung dieses Dilemmas sieht Hügel in einem weiter entwickelten Datenschutz – denn jener schütze nicht nur die Befindlichkeiten der Einzelnen, sondern biete in seiner Gesamtheit auch die Gewährleistung dafür, dass grundlegende Freiheiten wie die Meinungs- oder Handlungsfreiheiten unter digitalen Bedingungen erhalten bleiben.

Als ein weiteres Problem wird in den Netzdebatten immer wieder die Möglichkeit einer anonymisierten Teilnahme benannt: Sie verleite einerseits Teilnehmer*innen zu verbalen, persönlichen Angriffen und zersetze den öffentlichen Diskurs. Andererseits wird in ihr ein zentrales Hindernis für die effektive Rechtsdurchsetzung bzw. die Strafverfolgung im Netz angesehen, weil die Urheber*innen nicht zu ermitteln sind bzw. potenzielle Beweismittel fehlen. Der Beitrag von Michael Kuhn greift dieses Thema mit dem umstrittenen „Recht auf Anonymität“ im Digitalen auf. Kuhn zeigt, dass das Recht auf Anonymität eine zentrale Dimension des Grundrechtsschutzes berührt. Er skizziert die Bedingungen für Anonymität im digitalen Raum und weist nach, dass Anonymität kein neues Problem ist, das erst mit der Digitalisierung entsteht. Nach seiner Darstellung enthalten auch die Grundrechtskonzepte für die analoge Welt implizite Annahmen zur Anonymität, ohne dass das Verfassungsrecht bisher ein umfassendes Konzept von Anonymität herausgearbeitet habe. Ein solches Konzept sei aber dringend nötig, um das Verhältnis von Anonymität und Identifizierbarkeit im digitalen Raum so austarieren zu können, damit die Schutzwirkung der Grundrechte auch hier zur Geltung komme.

Nach den eher grundsätzlichen Beiträgen widmet sich der Schwerpunkt dem deutschen NetzDG, seiner konkreten Anwendung und der Kritik daran. Zunächst stellen wir einige Zahlen zur bisherigen Anwendung des Gesetzes auf den drei Plattformen Facebook, Google und YouTube vor. Bisher gilt das NetzDG aufgrund seiner Definition des Anwendungsbereichs in § 1 Abs. 2 NetzDG (mind. 2 Millionen angemeldete Nutzer*innen) nur für diese drei Plattformen – alle anderen sind kleiner. Als das Gesetz 2017 beraten und verabschiedet wurde, gab es von vielen Seiten Kritik an dessen Regulierungsansatz. Was ist davon zwei Jahre später übrig geblieben, welcher Nachbesserungsbedarf zeigt sich aus der ersten Rechtsprechung zum Gesetz? Dazu befragten wir Martin Eifert und Ulf Buermeyer. In ihrer Bewertung des Gesetzes gehen sie von den besonderen Grundrechtsgefährdungen aus, die sich aus den speziellen Kommunikationsbedingungen im Social Web ergeben. Dazu gehöre, dass die Plattformen in einem großen Maße die Aufmerksamkeit des digitalen Publikums lenken (sie bestimmen, wer, wann was liest), dass ihnen eine Dynamik zur Monopolbildung innewohnt (denn mit der Zahl ihrer Nutzer* innen bzw. Leser*innen steigt zugleich der Informationswert der dort verbreiteten Nachrichten) und dass ihre Techniken der Informationsverteilung zu einer Beschleunigung führen, aus der sich die spezielle Dynamik digitaler Aufmerksamkeit mit ihren hochfrequenten Erregungskurven ergibt.

Daran anschließend stellt Hubertus Gersdorf eine Klage gegen das NetzDG vor. Gersdorf ist Bevollmächtigter einer Feststellungsklage der beiden FDP-Politiker Jimmy Schulz und Manuel Höferlin, die jene im Juni 2018 beim Verwaltungsgericht Köln eingereicht haben. Sie sehen durch das NetzDG ihre Meinungsfreiheit erheblich eingeschränkt und kritisieren die in vielerlei Hinsicht unzureichenden Regelungen des Gesetzes, etwa die fehlenden Verfahrensvorgaben für die Löschung von Beiträgen, für die Überprüfbarkeit der Entscheidungen oder die Bußgeldsanktionen gegenüber den Betreibern.

Matthias Spielkamp weist in seinem Beitrag auf ein weiteres Problem hin: die Nachahmer, die das NetzDG in autokratischen Staaten gefunden hat. So wurde das Gesetz beispielsweise in Russland, Malaysia sowie auf den Philippinen als Vorbild genommen – nur dass die vergleichbaren Regelungen unter anderen Vorzeichen dort eine unheilvolle Wirkung entfalten. Diese Beispiele zeigen, wie leicht sich derartige Gesetze für eine politische Beschränkung der Meinungsfreiheit nutzen lassen – wovor auch Deutschland nicht gefeit ist. Vor dem Hintergrund zunehmender nationaler Debatten um die Regulierung sozialer Netzwerke hat Facebook vor einiger Zeit einen Vorschlag vorgelegt, der mit Hilfe Künstlicher Intelligenz und eines externen Beirats eine Art regulierte Selbstregulierung zur Kontrolle der Inhalte vorschlägt. Mit diesem Vorschlag setzt sich Spielkamp kritisch auseinander, denn sie gewährleiste keine hinreichende Transparenz und belasse die letztliche Entscheidung weitgehend der Firma.

Dass Handlungsbedarf bei der Anpassung des NetzDG besteht, wird mittlerweile kaum bestritten – die Debatte um dessen Zukunft hat längst begonnen. Was sich die im Bundestag vertretenen Oppositionsparteien in dieser Hinsicht wünschen, fassen wir in einer weiteren Dokumentation zusammen. Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags führte dazu am 15. Mai eine Sachverständigenanhörung [1] durch. Welche der genannten Vorschläge zur Reform oder gar Abschaffung des Gesetzes eine Chance haben, ist derzeit jedoch offen.

Auf die französischen Versuche, Fake News einzudämmen, sowie die europäischen Regulierungsansätze geht Jörn Reinhardt ein. Er stellt zunächst die verschiedenen Formen der Manipulation öffentlicher Debatten in den Sozialen Netzwerken vor. Im Gegensatz zum NetzDG, welches sich auf die Löschung beleidigender oder anderweitig strafbarer Inhalte beschränkt, zielt das französische „Gesetz gegen die Manipulation von Information“ stärker darauf, die Verbreitung von Falschinformationen zu unterbinden. Dies schränkt – im Vergleich zur deutschen Rechtsprechung über die Grenzen der Äußerungsfreiheit – die Meinungsfreiheit deutlich stärker ein und ist aus grundrechtlicher Sicht daher besonders problematisch.

Den Abschluss des Schwerpunkts bilden zwei Beiträge, die sich mit den politischen Alternativen befassen: Patrick Breyer und Katharina Nocun verdeutlichen zunächst, welches Überwachungspotenzial in Netzwerken wie Facebook und Co. steckt. Dies beschränkt sich längst nicht mehr darauf, die Interessen und Vorlieben der Nutzer*innen für Werbezwecke zu erfassen – vielmehr werden auch deren Kommunikationsbeziehungen und Vernetzungen untereinander erfasst. Das Tragische daran: Die gesamte digitale Welt an Freundschaften, Bekanntschaften und Netzwerken, in der sich viele Menschen heute wie in einer zweiten Heimat zuhause fühlen, kann Facebook nicht nur beliebig manipulieren (Wer kann mit wem in Kontakt treten?), sondern im Ernstfall sogar auf Knopfdruck beenden. Breyer und Nocun sehen anbietergesteuerte Netzwerke deshalb als Gated Communities, die es dringend durch alternative Formen zu ersetzen gelte. Welche Möglichkeiten es dafür heute gibt, stellen sie in ihrem Beitrag kurz vor.

Mindestanforderungen an eine Regulierung der digitalen Welt dokumentieren wir mit einem Forderungskatalog, den die Beteiligten des 2018 veranstalteten Kongresses Bits und Bäume in Berlin vorgelegt haben. Er beschränkt sich nicht auf partizipative Mitgestaltung und demokratische Kontrolle der Netzwerke, sondern hat auch die ethischen und ökologischen Folgen der Digitalisierungstechnik im Blick.

Außerhalb des eigentlichen Schwerpunkts, aber zugleich als historischer Kontext der Debatte um die Meinungsfreiheit im Internet, ist der Beitrag von Helga und Wolfgang Killinger zu verstehen: Sie bieten einen kurzen Abriss der bundesdeutschen Auseinandersetzungen um die Meinungsfreiheit im Rundfunk. Sie schildern die Stationen dieser Geschichte anhand des Engagements der Humanistischen Union, die sich seit ihren Gründungstagen für die Meinungsfreiheit in diesem Medium eingesetzt hat.

Einen weiteren grundrechtsorientierten Rückblick unternimmt Rolf Gössner, der anlässlich des 70. Jahrestages des Grundgesetzes eine kritische Bilanz zur Verfassungswirklichkeit in Deutschland zieht. Er beschreibt in seiner Jubiläumsrede die Etappen der sicherheitspolitischen Aufrüstung der Bundesrepublik. Deren aktuelle Auswüchse schildert Clemens Arzt am Beispiel des Brandenburgischen Polizeigesetzes, wo die rot-rote Landesregierung nach den Vorbild Bayerns, Baden-Württembergs, NRWs und anderer Bundesländer kürzlich mit Verweis auf die „angespannte Terror- und Gefährdungslage“ neue bzw. erweiterte Befugnisse einführte. Sowohl die Frage, ob diese Regelungen wirklich erforderlich sind, noch bei der Frage, ob sie auch geeignet sind, mehr Sicherheit für die Bürger*innen zu schaffen, sieht er im Einzelnen erhebliche Zweifel.

Mit Brandenburg befasst sich schließlich auch der Beitrag von Rosemarie Will: Sie wagt einen Blick nach vorn und diskutiert das Brandenburger Gesetz zur Parität bei den Landeswahllisten. Die kürzlich beschlossene Reform des Landeswahlrechts schreibt erstmals in Deutschland eine stärkere Repräsentation von Frauen in einem deutschen Landesparlament gesetzlich vor, indem die brandenburgischen Parteien ab 2020 zur geschlechterparitätischen Aufstellung der Landeswahllisten verpflichtet werden. Entsprechend heftig fielen die Angriffe auf den Vorschlag aus, die Kritiker* innen sehen in ihm das Ende vom Grundsatz der freien Wahlentscheidung. Will stellt eine verfassungsrechtliche Interpretation dieses Gesetzes vor, mit dem 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu mehr Gleichberechtigung erreicht wird.

Wir wünschen Ihnen wie stets eine anregende Lektüre mit dieser Ausgabe der vorgänge und freuen uns über Ihre Rückmeldungen und Anmerkungen.

Rosemarie Will und Sven Lüders
für die Redaktion

Heftvorschau:

Nr. 227 (3/2019) Polizei und Technik (erscheint voraussichtlich im September 2019)

Nr. 228 (4/2019) Wohnen als Soziales Grundrecht (Dezember 2019)

Anmerkungen:

1 Stellungnahmen der Sachverständigen s. https://www.bundestag.de/ausschuesse/a06_Recht/anhoerungen_archiv/netzwerkdurchsetzungsgesetz-628712.

nach oben