Termine / Veranstaltungen / Nach Jahren / 2012

Die Abwehr des 8. Mai

30. Juni 1995
Datum: Montag, 08. Mai 1995

Joachim Perels Die Abwehr des 8. Mai

aus: Vorgänge Nr.130 ( Heft 2/1995), S.1-4

Joachim Perels

In Frankreich gibt es in vielen Städten und Gemeinden einen Platz des 8. Mai, eine place de la liberation. In der alten Bundesrepublik existiert nicht ein solcher Platz. Es sagt etwas über die Geschichte dieses Landes aus, daß erst 50 Jahre nach dem 8. Mai 1945 nicht etwa von einem Repräsentanten des demokratischen Staates, sondern von einem prominenten, von der Roten Armee befreiten Opfer der Nazis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, der Vorschlag gemacht wird, jedes Jahr bewußt der Befreiung vom System des Dritten Reiches zu gedenken. Hierzu gehört, daß schon zu Beginn der Bundesrepublik die politische Entscheidung fiel, der Erinnerung an den aktiven Kampf gegen die NS-Despotie durch die Verschwörer des 20. Juli, des Versuchs eines 8. Mai von innen, keine identitätsstiftende Bedeutung in Gestalt eines Gedenktags zuzuerkennen.

Die langanhaltende Wahrnehmungsstörung gegenüber dem 8. Mai 1945 hat viele Gründe. Die Bundesrepublik verstand sich trotz der Absage des Grundgesetzes an die Barbarei ganz überwiegend nicht in der Tradition der durch den 8. Mai intendierten bedingungslosen Diskontinuität zwischen dem Staatsapparat der Nazi-Diktatur und der neu zu schaffenden Demokratie: Die Kontinuität der traditionellen Eliten der NS-Diktatur im Militär, in der Wirtschaft, in der Justiz, in der Polizei und nicht zuletzt in den Universitäten aber auch positive Stimmungen in der Bevölkerung mit Blick auf den Nationalsozialismus – 1948 hielten 55% den Nationalsozialismus für etwas Gutes, das nur schlecht ausgeführt wurde – blockierte viele Jahrzehnte die Wahrnehmung des 8. Mai. Eugen Kogon, den die amerikanischen Truppen aus dem KZ Buchenwald befreiten und so die Ausführung eines für ihn bestehenden Exekutionsbefehls verhinderten, faßte 1954 in einem Artikel in den Frankfurter Heften die restaurative Blockade in den Satz, daß die 131er – die wiedereingestellten Träger des NS-Regims – über die 1945er gesiegt hätten. Daher wurde der 8. Mai, die große Niederlage gerade jener traditionellen Eliten, die zum Rückgrat der frühen Bundesrepublik wurden, aus der selbstkritischen Erinnerung verbannt. Wie sollte, um ein bekanntes Beispiel zu erwähnen, der Kommentator der Nürnberger Gesetze und spätere Staatssekretär Konrad Adenauers, Hans Globke also – lange Jahre wohl der zweitmächtigste Mann der Bundesrepublik -, der nach dem 8. Mai von den Amerikanern und Briten als Beamter des nationalsozialistischen Innenministeriums in automatischen Arrest genommen wurde, ein Interesse daran haben, jenes Tages zu gedenken, der den Bruch zwischen dem Machtapparat des Nationalsozialismus und einer neuen humanen Ordnung am sinnfälligsten zum Ausdruck brachte? Wer wie fast die gesamte Justiz der 50er und 60er Jahre der Rechtsordnung des Nationalsozialismus, die bis zum 8. Mai 1945 gegolten hatte, noch im nachhinein ohne jede Einschränkung Gültigkeit zusprach und Gustav Radbruchs rechtsstaatliche Gegenkategorie des „gesetzlichen Unrechts“ zum Verschwinden brachte, konnte den Bruch mit dem NS-System nicht zum positiven Bezugspunkt machen. Der 8. Mai stand der Legitimation eines Staates entgegen, der sich von der Bundesregierung bis zur erdrückenden Mehrheit der Staatsrechtslehre uneingeschränkt als staats- und völkerrechtliche Fortführung des Deutschen Reiches begriff, das doch mit der alliierten Erklärung über die Übernahme der obersten Autorität vom 7. Juni 1945 untergegangen war.

Das lange Schweigen zum 8. Mai ist, denke ich, allgemein erst durch Richard v. Weizsäckers Rede vor zehn Jahren durchbrochen worden. Sie markierte den emanzipatorischen Schnittpunkt der Kapitulation Nazi-Deutschlands und führte die Folgewirkungen des Kriegsendes auf den Machtantritt Hitlers zurück. Die Öffentlichkeit wurde von dieser Rede mehr beeindruckt als beeinflußt. Ein Indiz ist die Position Andreas Hillgrubers im Historikerstreit von 1986. In seiner Option für Teile der alten Eliten, einschließlich bestimmter Hoheitsträger der NSDAP, lehnt er es ausdrücklich ab, die Kapitulation des Nazi-Reichs als Befreiung der Nation als ganzer zu begreifen.

Erst ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Debatte um die Bewertung des 8. Mai voll entbrannt. Dies ist, trotz der Wiedererweckung mancher alter Ideologien und Wahrnehmungsverzerrungen, ein Fortschritt. Der 8. Mai beginnt, zu einem positiven Bezugspunkt der deutschen Geschichte zu werden. Das hängt damit zusammen, daß die tragenden Eliten des NS-Systems und seiner trotz der Niederlage z.T. fortexistierenden Massenbasis, die das Gesicht der alten Bundesrepublik, ihre „organisierte Unbußfertigkeit“ (Iwand) prägten, als politische Kraft weitgehend verschwunden sind. Es hat symptomatische Bedeutung, daß nach neuesten Umfragen immerhin achtzig Prozent der Bevölkerung den 8. Mai als Tag der Befreiungansehen – trotz einer, auch finanziell mächtigen, durch drei Großanzeigen in der FAZ auftretenden Kampagne für die systematische Relativierung der Zerschlagung der NS-Herrschaft. Diese Kampagne hat die CDU immerhin gespalten. Während ihr liberaler Flügel mit Rita Süßmuth der Umdeutung des 8. Mai in ein angeblich doppelgesichtiges Datum entschieden entgegentritt, nimmt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Wolfgang Schäuble, die Wertung seines Vorgängers Dregger auf, der Tag der Kapitulation sei wesentlich ein Tag der Trauer. Ähnlich spricht die CSU, sekundiert von der FAZ, von einem Tag der Ambivalenz.

Die vielfältigen Veranstaltungen zur Erinnerung an die Befreiung der Konzentrationslager Auschwitz, Sachsenhausen, Bergen-Belsen, Dachau, Neuengamme und vieler anderer, in denen die Erinnerung an die NS-Despotie fast zeitnah in das tägliche Bewußtsein der Zeitungsleser und Fernsehzuschauer tritt, wirken aber einer ideologischen Sicht des Endes der Nazi-Diktatur entgegen. Sie haben nichts Inflatorisches. Sie holen komprimiert nach, was lange ausstand. Denn die Stellung zur Befreiung von der NS-Herrschaft fällt mit der politischen und moralischen Selbstdefinition eines demokratischen Gemeinwesens zusammen.

Die politische Auseinandersetzung dreht sich um den auf den 8. Mai gemünzten Begriff der Befreiung. Für das Selbstverständnis eines Teils der sogenannten Bildungsschichten ist ein Blick in die Leserbriefspalten der FAZ aufschlußreich. Ein bekannter Staatsrechtler, Karl August Bettermann, Nachfolger des Emigranten Franz Neumann als Mitherausgeber des renommierten Handbuchs der Grundrechte, schreibt in einem Leserbrief: „Die Kapitulation vom 8. Mai 1945 markiert den absoluten Tiefpunkt in der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts, vielleicht gar dieses Jahrtausends.“ Demgegenüber gilt: Auch wenn eine große Zahl von Nazis und Mitläufern auf allen Ebenen das Regime bis zum Schluß unterstützten, berührt dies den Tatbestand der Befreiung, der nur durch die vollkommene Niederlage Nazi-Deutschlands Wirklichkeit werden konnte, nicht im geringsten. Wenn die Empfindungen der Anhänger des NS-Staats das Kriterium für die Verwendung des Begriffs der Befreiung abgeben könnten, wäre das NS-Regime in Form seiner geistigen Verdoppelung noch einmal legitimiert. Der Begriff der Befreiung bezeichnet, bei aller Bedeutung für die Gefangenen des Regimes, sehr wesentlich ein objektives Geschehen, das mit den – oftmals falschen – Empfindungen vieler Menschen nicht zusammenfallen muß. Gerade diese Empfindungen aber werden in den Erklärungen des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten zum 8. Mai ausdrücklich der Wertung entzogen. Die Irrtümer – um einen zurückhaltenden Ausdruck zu verwenden – von Zeitgenossen des 8. Mai dürfen nicht in geschichtliche Wahrheiten umgedeutet werden. Befreiung ist die Abbreviatur für die opferreiche Zerschlagung des mächtigsten Mordsystems Mitteleuropas.

Befreiung definiert sich durch die umfassende Negation aller Herrschaftsformen und Herrschaftsapparate des NS-Regimes. Es war, wie vor allem Franz Neumann erkannte, kein Staat mehr, sondern ein an keinerlei zumal rechtliche Schranken gebundenes System unbegrenzter Willkür, das neben anderen Garantien der Individuen, die auch in autoritären Staaten bis zu einem gewissen Grade gewahrt werden, das elementare zivilisatorische Recht auf Leben vollständig zur Disposition stellte. Außerhalb von Kriegshandlungen sind – und diese Aufzählung ist keineswegs vollständig – 70000 psychisch Kranke, 38000 Angeklagte, 1,6 Millionen sowjetische Kriegsgefangene, 1 Million menschliche Objekte von Einsatzgruppen, 6 Millionen Juden staatlichen Tötungsverbrechen zum Opfer gefallen.

Wer für die Beendigung dieses Systems den Begriff der Befreiung relativiert, verfolgtdas Ziel der Propagierung einer, wie es bei der Gruppe um Zitelmann heißt, „selbstbewußten Nation“. Welche Implikationen dieses Wort hat, läßt sich daran erkennen, daß der Initiator des rechtskonservativen Aufrufs zum 8. Mai, eben Rainer Zitelmann, in einem Gemeinschaftsbeitrag einst von einem „Mangel an Gelassenheit im Umgang mit der NS-Geschichte“ gesprochen hatte – als sei, Auschwitz vor Augen, moralisches Entsetzen ein Erkenntnisdefekt.

Die Hypostasierung der deutschen Nation verstellt den Blick auf den historischen Zusammenhang, in dem die Kriegsfolgen im Osten stehen. Wer ganze Völker radikal dezimiert und allein in der Sowjetunion mindestens 20 Millionen Tote hinterläßt, der kann – bei aller auch vom polnischen Außenminister geäußerten Kritik an den Vertreibungen – nicht erwarten, daß die Reaktion auf die Verbrechen sich in humanen und rechtlich einwandfreien Formen abspielte. Der Vertreibung der Flüchtlinge gingen die Exekutionskommandos der Einsatzgruppen, der Negierung völkerrechtlicher Garantien durch die deutsche Wehrmacht voraus. Diese Kausalität, die in der erwähnten Erklärung des Bundeskanzlers anders als in der Rede Weizsäckers vor zehn Jahren unerwähnt blieb, ist eindeutig: Ohne den Ausrottungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands gegen Osteuropa – in Polen wurden von tausend Einwohnern allein 200 umgebracht – hätte es keine Vertreibung gegeben. Nur wer diesen Zusammenhang erkennt, kann auch moralisch über die Vertreibungen urteilen.

Die Befreiung hatte aber aus einem ganz anderen Blickwinkel als dem der nationalistischen Ideologen eine innere Schranke. Für viele, vor allem für Widerstandskämpfer, kam die Befreiung zu spät. Noch in den letzten Kriegstagen wurden ganze Gruppen von Widerstandskämpfern – Dietrich Bonhoeffer, Hans v. Dohnanyi, Hans Oster und viele andere – ermordet. Sie fehlten für den demokratischen Neuaufbau. Was hätte von Dohnanyi, der seit 1933 als persönlicher Referent des Reichsjustizministers Gürtner eine detaillierte Skandalchronik über die systematischen Rechtsverletzungen des Regimes führte, für eine moralisch unanfechtbare Rolle bei der juristischen Aufarbeitung der NS-Gewaltverbrechen spielen können, welches Gewicht hätte Dietrich Bonhoeffer mit seinem in der Haft formulierten Postulat, daß nur eine Kirche, die für andere da ist, gegenüber der Selbstgefälligkeit des traditionellen Christentums gehabt, welche Gegenpositionen hätte der weitsichtigste Außenpolitiker des Widerstands, Adam v. Trott zu Solz, der schon im Kriege einen Ausgleich zwischen der Sowjetunion und dem Westen anstrebte, zur Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges bezogen?

Die überlebenden Opfer der Marterstätten des Dritten Reiches trugen überwiegend psychische Schäden in sich – ein halber Sieg des NS-Systems. Der schon erwähnte Autor des noch 1945 geschriebenen „SS-Staats“, sein Name wurde schon einmal genannt, wurde – ich weiß es von ihm selbst – immer wieder von fürchterlichen Träumen, in denen die Wirklichkeit des KZ-Buchenwald wiederkehrte, gepeinigt. So erging es nicht nur ihm. Paul Celan, Jean Amery und Peter Szondi, außergewöhnliche Schriftsteller und Wissenschaftler, litten nach den Lagern unter Schwermut. Sienahmen sich in den siebziger Jahren das Leben.

Ich schließe mit einer Erinnerung an meinen Vater Friedrich Justus Perels, Rechtsberater der Bekennenden Kirche und Mitstreiter Dietrich Bonhoeffers im Widerstand. Vor zehn Jahren schrieb meine Mutter Helga Perels an den Fraktionsvorsitzenden der beiden sich christlich nennenden Parteien im deutschen Bundestag diesen Brief: „Sehr geehrter Herr Dregger, wenn Sie sich daran erinnern, daß Sie am letzten Kriegstag mit 24 Jahren mit Ihrem Bataillon die Stadt Marklissa in Schlesien gegen Angriffe der Roten Armee verteidigt haben, so erinnere ich mich daran, daß heute – am 22. April vor vierzig Jahren – mein Mann, der Jurist der Bekennenden Kirche, Friedrich-Justus Perels, mit 35 Jahren aus dem Gestapo-Gefängnis in Berlin, Lehrterstr. 3, nachts mit anderen Mitgefangenen von einem SS-Sonderkommando herausgeholt wurde und unter dem Vorwand der Verlegung mit Genickschuß hinterrücks ermordet wurde … In einem Gespräch hat mein Mann seinerzeit gesagt: ,Es fallen so viele für dieses System, es ist besser, man fällt gegen dieses System.“

Text der Rede auf einer Veranstaltung des Fachbereichs Geschichte,

Philosophie und Sozialwissenschaften der Universität Hannover am 8.5.1995

Kategorie: vorgänge: Artikel

nach oben