Beitragsbild Organisierte Kriminalität – Ein politischer Kampfbegriff
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Organi­sierte Krimi­na­lität – Ein politischer Kampf­be­griff

30. August 2020
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Gegen die Krimi­nal­po­litik mit der Angst

Verlagsbeilage der Humanistischen Union in der tageszeitung (taz) vom September 1998 (Redaktion: Roland Otte)

 

von Till Müller-Heidelberg

Seit einigen Jahren haben die Sicherheitspolitiker eine „neue“ Kriminalitätsform entdeckt, die uns alle bedroht, und die folglich mit neuen Befugnissen und Instrumenten bekämpft werden muß – die sogenannte „Organisierte Kriminalität“. Denn wenn man nur feststellen würde, daß die traditionelle Kriminalität steigt, dann müßte man sich Gedanken über die Ursachen hierfür machen und die Ursachen zu beseitigen versuchen. Das ist schwierig. Wenn man aber eine „neue“ Kriminalität entdeckt, dann kann man neue Befugnisse für die Strafverfolgungsorgane verlangen, dann kann man Gesetze fordern – und das ist leicht. Wenn wir alle von der neuen Verbrechensform der „Organisierten Kriminalität“ bedroht sind, was bleibt uns dann anderes übrig, als dem Einsatz der Geheimdienste (Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst) zur Kriminalitätsbekämpfung zuzustimmen, Straftaten begehende Beamte als verdeckte Ermittler zu akzeptieren und uns über den Lauschangriff zu freuen, der ja nur die Verbrecher betrifft, nicht aber die rechtstreuen Bürgerinnen und Bürger.

Bei Erfindung des Begriffs sollte die „Organisierte Kriminalität“ sich auf den mafiaähnlich organisierten Drogenhandel beziehen. Da aber die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung weder illegale Drogen nimmt noch mit ihnen handelt, konnte sie sich dadurch nicht bedroht fühlen. Also mußte der Begriff erweitert werden. Jetzt fällt darunter Kriminalität mit „übersteigertem Gewinnstreben“, mit „planmäßiger Begehung“, mit „mehreren Beteiligten“; sie muß „intelligent“ sein, sie soll „gewerbliche, geschäftsähnliche Strukturen“ aufweisen, sie soll straff geführt, hierarchisch gegliedert und arbeitsteilig arbeiten. Jedoch: Hat nicht fast jede Kriminalität übersteigertes Gewinnstreben als Antriebsfeder? Sind Straftaten in der Vergangenheit immer unplanmäßig begangen worden, hat es immer nur Einzeltäter gegeben, und waren Kriminelle grundsätzlich dumm? Wurden Straftaten nie konspirativ begangen, waren kriminelle Banden nie hierarchisch gegliedert und straff geführt? Gibt es nicht im Strafgesetzbuch den gewerbsmäßigen und den Bandendiebstahl sowie Raub und die gewerbsmäßige Hehlerei, ebenso den nur in geschäftsähnlichen Strukturen zu verwirklichenden Subventionsbetrug? Die Definition der „Organisierten Kriminalität“ ist geradezu typisch für jedes Handeln unter Gesetzesverstoß in unserer Wirtschaftsverfassung.

„Organisierte Kriminalität“ ist keine neue Verbrechensform – und so ist es kein Wunder, daß die „gemeinsamen Richtlinien über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität“ der Justiz- und Innenminister der Länder von 1990/1991 als Kriminalitätsbereiche nahezu das gesamte Strafgesetzbuch nennen. Wenn es keine „neue“ Verbrechensform gibt, taugt diese auch nicht als Begründung für neue Strafverfolgungsbefugnisse.

Nichtsdestoweniger wurde mit dieser Begründung im Frühjahr 1998 von Koalition und SPD der Große Lauschangriff mittels einer Verfassungsänderung durchgesetzt. In Wohnungen soll nun heimlich durch Wanzen und andere Geräte gelauscht werden, nirgendwo soll es mehr Sicherheit vor dem Staat geben. Wer kann denn auch etwas dagegen haben, wenn Straftäter belauscht werden? Nur: Täter belauscht man nicht, man verhaftet sie. Belauscht werden allenfalls Verdächtige, und die sind bis zur rechtskräftigen Verurteilung zunächst einmal unschuldig. Verdächtig kann jeder der 80 Millionen Einwohner in Deutschland werden. Schon jetzt sind nach einer Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen die Deutschen mit einem 13 mal höheren Risiko betroffen als US-Amerikaner, bei 3499 genehmigten Telefonabhöraktionen 1992 wurden 500.000 Personen abgehört, einem letztendlich Verurteilten stehen 77,5 Personen gegenüber, die im Rahmen einer solchen Maßnahme überwacht wurden. Und seit 1992 haben sich die genehmigten Telefonüberwachungen fast verdoppelt! Auch erfaßt der Große Lauschangriff Unverdächtige, mit denen sich ein Verdächtiger in Verbindung setzen könnte. Das Recht eines Angeklagten, zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten, das Zeugnisverweigerungsrecht seiner Angehörigen – all dies wird beseitigt. Die Straftaten, die wirklich die Masse der Bevölkerung bedrohen – Kfz-Diebstahl, Handtaschenraub, Wohnungseinbruch – können mit dem Großen Lauschangriff weder verhindert noch aufgeklärt werden. Und schließlich: Der doch angeblich so intelligente, finanzstarke und geschäftsähnlich handelnde Täter der sogenannten „Organisierten Kriminalität“ weiß, wie er sich gegen Lauschüberwachung zu wehren und abzusichern hat – der „normale“ Bürger weiß dies nicht und hat nicht die nötigen Mittel – gerade er also wird hiervon betroffen.

Fazit: Die neue Verbrechensform der „Organisierten Kriminalität“ gibt es nicht, wir brauchen also auch keine neuen Befugnisse und schon gar nicht den Großen Lauschangriff. Zur Verbrechensbekämpfung ist er untauglich, aber er „dient“ der Einschüchterung der Bürgerinnen und Bürger, weil ja jeder jederzeit abgehört werden könnte, und er führt damit zum Abbau von Bürgerfreiheiten, Demokratie und Rechtsstaat.

Dr. Till Müller-Heidelberg ist Rechtsanwalt in Bingen und Bundesvorsitzender der Humanistischen Union.

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