Beitragsbild Die strafende Gesellschaft - Der Staat und seine letzte Rettung
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Die strafende Gesell­schaft - Der Staat und seine letzte Rettung

30. August 2020
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Gegen die Krimi­nal­po­litik mit der Angst

Verlagsbeilage der Humanistischen Union in der tageszeitung (taz) vom September 1998 (Redaktion: Roland Otte)

 

von Fritz Sack und Reinhard Kreissl

Je schwächer ein politisches Regime, desto härter die Strafen, die es verhängt. Dieser an vielen historischen Beispielen aufzeigbare Zusammenhang kommt einem bei der derzeitigen Debatte über Innere Sicherheit in den Sinn. Die allseits geforderten Verschärfungen des Strafrechts, die hinter jeder Ecke vermutete Bedrohung „unserer“ Ordnung durch Kriminelle unterschiedlichster Couleur gewinnen ihren tieferen politischen Sinn vor dem Hintergrund allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen. Die Politik des Nationalstaats ist in der Krise. Mit der Europäisierung von Entscheidungsstrukturen, der Globalisierung der Wirtschaft und der Individualisierung der Bewohner verliert der Staat an Souveränität. Unter diesen Bedingungen erscheint die nicht nur symbolische Inszenierung des staatlichen Gewaltmonopols eine wohlfeile Strategie, den Staat zu legitimieren: Wenn der Staat schon die immer wieder versprochenen Arbeitsplätze, die fast im Tagestakt zugesicherten Renten und das geradezu kultisch herbeigewünschte Wirtschaftswachstum nicht mehr sichern kann, so zeigt er doch zumindest im Bereich der Inneren Sicherheit, daß er noch über genügend Überlebenskraft verfügt. Schließlich war schon sein Entstehen von dem Versprechen begleitet, die Gesellschaft durch die Verwaltung aller Gewalt zu befrieden. Aber läßt sich Vergehendes und Überholtes mit der Beschwörung des Anfangs aufhalten oder vergessen machen?

Diese Strategie der inszenierten Rückbesinnung auf den Ursprung und das Eigentliche des Staates hat ihre Kosten. Härtere und längere Strafen verringern die Kriminalität nicht. Eine bessere Ausstattung der Sicherheitsorgane und eine Verdichtung der Überwachung läßt die registrierte Kriminalität in den Polizeistatistiken erst einmal steigen, weil mehr und bessere Augen schlicht mehr sehen und einiges ans staatliche und polizeiliche Tageslicht holen, was sonst im Dunklen geblieben wäre. Pure Repression verschärft nur die Konflikte und Probleme, die zu Kriminalität führen: denn die Verrohung und Brutalisierung einer Gesellschaft fragt nicht danach, ob die sie verursachende Gewalt gesellschaftlichen oder staatlichen Ursprungs ist.

Alles dies ließe sich mit einem Blick in andere Länder studieren und belegen. Die USA haben die derzeit weltweit höchste Inhaftierungsrate, die öffentlichen Haushalte sind überlastet mit den Kosten der Verbrechensbekämpfung, die z.B. in dem Bundesstaat Kalifornien prozentual diejenigen für Bildung und Ausbildung überrundet haben. Eine ganze Generation Jugendlicher aus den urbanen Ghettos, insbesondere Schwarze und Latinos, wird sich perspektiv- und chancenlos in der Illegalität etablieren.

Woher rührt trotz offenkundiger Kosten der Ruf nach dem strafenden Staat? Zum einen versuchen Politiker und Medien, mit markigen Sprüchen von der Angst vor Kriminalität zu profitieren. Zum anderen scheint er mit längerfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen verbunden zu sein.

Wie das Recht Krimi­na­lität schafft

Recht und insbesondere Strafrecht dienen zusehends als Lückenbüßer für den Zerfall der normativen Ordnung und des gesellschaftlichen Konsenses. Recht ist immer weniger Ausdruck geteilter Überzeugungen und zunehmend Instrument zur Verallgemeinerung von Partikularansprüchen. Jeder, der sich im Besitz eines Anspruchs auf ein schützenswertes Interesse wähnt, wendet sich an „das Recht“. Auf diese Weise entsteht eine durchdringende Verrechtlichung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche. Und das fördert die Kriminalität: Organisiere ich nämlich einen Handlungsbereich nach rechtlichen Gesichtspunkten, so führe ich damit die zentrale Differenz von legal und illegal ein. Es handelt sich hier um eine Ironie des Rechtsstaats, der durch sein Wachstum den Bereich illegalen Handelns ausdehnt.

Der Versuch, soziale Probleme durch kriminalisierende Verrechtlichung und strafbewehrte Verbote zu lösen, führt aber in aller Regel nicht zum Ziel. Die Beispiele dieses Prozesses liegen auf der Hand: sexueller Mißbrauch, männliche Gewalt, Drogenkonsum lassen sich durch strafrechtliche Verbote nicht aus der Welt schaffen, und die symbolische Verurteilung durch harte Strafen wird bei weitem aufgewogen durch die Nebenfolgen der Strafe.

Braucht die neoliberale Gesell­schaft mehr Strafe?

Der letzte konservative Premierminister Englands, John Major, brachte 1993 das Prinzip der von ihm und seiner Regierung vertretenen Kriminalpolitik auf die Formel, daß es darum gehe, „weniger zu verstehen und mehr zu verurteilen“. In der politischen Rhetorik hierzulande lautet die Alternative: mehr strafen und weniger nach Ursachen fragen. (Übrigens: der wissenschaftliche Vordenker der bei uns von vielen so heftig gepriesenen sicherheitspolitischen Strategie der „Null-Toleranz“, James Q. Wilson, zog mit der Verhöhnung der „root causes of crime“ gegen das gesellschaftspolitische Projekt der Präsidenten Kennedy und Johnson bereits Mitte der siebziger Jahre zu Felde.) Dies ist die kriminalpolitische Übersetzung des Projekts des Aufbaus einer neoliberalen Gesellschaft. Dieses Konzept operiert bekanntlich mit dem Menschenmodell des „homo oeconomicus“, wonach jeder Mensch sein eigener Nutzenmaximierer ist, im Bösen wie im Guten. Nicht nur ist jeder seines eigenen Glückes Schmied, sondern ebenso ist er es für sein Unglück und sein Ungemach. Die persönliche Verantwortung ist das zentrale Schlüsselwort der Zuweisung und der Bestimmung der gesellschaftlichen Position, die dem einzelnen zukommt, aber auch die entscheidende Zurechnungsformel, über die ihm gesellschaftliche Belohnungen und Bestrafungen zuteil werden.

Daß der Weg in die Zukunft einer von ökonomischen Prioritäten geprägten neoliberalen Gesellschaft eine strafende Kehrseite hat, gehört zu den politisch verschwiegenen Paradoxien des viel gepriesenen Aufbruchs in die neue Gesellschaft. Davon hört man nur wenig in Politik und Öffentlichkeit, umso mehr jedoch von der Notwendigkeit der inneren Wehrfähigkeit des Staates. Die notorische Spannung zwischen einer effizienten und bürgerrechtswahrenden Kriminalpolitik wird sich deshalb weiter verschärfen.

So wird der Ruf nach mehr Strafen nicht nur auf offene politische Ohren stoßen, sondern auch weiter seine gesellschaftspolitische Folgerichtigkeit haben. Das konservative politische Lager wußte dies schon immer. Das links-liberale Lager ist im Begriff, nach- und gleichzuziehen. Es zeigt sich tough on crime und bemüht sich sichtlich, keine Differenzen zur konservativen Sicherheitspolitik aufkommen zu lassen, trotz mancher Nachhutgefechte. Vor dem Hintergrund sich rapide ändernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und zunehmend unberechenbarer dräuender Zukunftsaussichten ist der Rückgriff auf das staatlich garantierte Mittel der Bestrafung eine zwar einfache, aber letztlich wirkungslose und nicht ungefährliche Lösung – daß sie dennoch immer wieder gewählt wird, wirft ein trauriges Licht auf den Zustand unserer Gesellschaft.

Prof. Dr. Fritz Sack und Dr. Reinhard Kreissl sind Kriminologen an der Universität Hamburg. Fritz Sack leitet das Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung und ist im Vorstand der Humanistischen Union.

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