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Das Recht auf Religi­ons­un­ter­richt für kleine Religi­ons­ge­mein­schaften

Jürgen Lott

Grundrechte-Report 1998, S. 109-114

Das Grundgesetz bestimmt, daß der Religionsunterricht an den allgemeinbildenden öffentlichen Schulen „ordentliches Lehrfach“ ist. Seine Erteilung ist Sache des Staates, denn das „gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates“ (Art. 7 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2). Der Religionsunterricht ist Bestandteil der schulischen Erziehung, und seine Inhalte und Erziehungsziele müssen sich im Rahmen der Erziehungsziele der Schule bewegen. Unbeschadet dieser staatlichen Verantwortung und Durchführung ist der Religionsunterricht „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ zu erteilen.

Das Grundgesetz beantwortet nicht direkt die Frage, für welche unter den Schülern vertretenen religiösen Bekenntnisse und Weltanschauungen Religionsunterricht zu erteilen ist. Art. 7 Abs. 3 Satz 2) spricht von „den Religionsgemeinschaften“, mit deren „Grundsätzen“ der Unterricht in Übereinstimmung stehen muß, und macht keinerlei Einschränkungen. Die gängige Interpretation dieser GG-Regelung versteht noch heute recht eigenwillig unter „Religionsgemeinschaften“ nur die beiden christlichen Kirchen.

Aus der im Grundgesetz niedergelegten weltanschaulichen und konfessionellen Neutralität des Staates folgt zwingend das grund_sätz_liche Verbot der Privilegierung bestimmter Bekenntnisse. Die „öf_fentlich-rechtlichen“ Religionsgemeinschaften ge_nie_ßen „gleiche Rechte“; die Vereinigungen, die sich „die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen“, sind den Religionsgemeinschaften gleichgestellt (Art. 137 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG). Nach dem allgemeinen Grundsatz der Parität muß der Staat zudem alle Weltanschauungen gleich behandeln.

Entgegen der staatlichen Neutralitätspflicht und dem Privilegierungsverbot kommt diese Praxis einem Zwei-Klassen-Recht gleich. Auf der einen Seite gibt es das Recht der etablierten christlichen Großkirchen, auf der anderen Seite gibt es größere und kleinere christliche und anders religiöse Gemeinschaften, denen man zwar formal das Grundrecht aus Art. 4 GG zugesteht, ihnen aber im Ergebnis den Grundrechtsschutz nimmt. In der Vergangenheit haben sich die christlichen Kirchen keineswegs für eine Gleichbehandlung anderer Religionsgemeinschaften eingesetzt. Darüber wird erst jetzt – und mehr implizit – im Blick auf den Islam nachgedacht, und auch nur deshalb, weil die Kritik an dieser Privilegierung der Kirchen zunimmt und die Frage nach Alternativen zum herkömmlichen Bekenntnisunterricht insgesamt provoziert.

Für den Staat als Erziehungs- und Schulträger stellen sich aufgrund der faktischen pluralistischen und multireligiösen Situation unserer Gesellschaft in diesem Zusammenhang u. a. folgende Fragen:

Wie soll nach berechtigten und unberechtigten Wünschen auf Erteilung von Religionsunterricht unterschieden werden, wenn sich Schüler bzw. Eltern auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen? Mit welchen Argumenten soll den Mitgliedern bestimmter Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften der Zugang zum Religionsunterricht und damit zur Schule verwehrt werden? Wer soll darüber urteilen? Verschiedene Kriterien werden in der Diskussion erwogen:

Formale Qualität der Institution und zahlenmäßige Größe

Die Möglichkeit einer Auswahl sowohl nach der formalen Qualität der diesen Unterricht erteilenden Institutionen (Körperschaft d. ö. R. oder juristische Personen in Gestalt eines eingetragenen Vereins e. V.) als auch nach ihrer zahlenmäßigen Größe ist verfassungsmäßig fragwürdig. Aus dem Grundsatz der religiösen Neutralität des Staates und dem Verbot der Diskriminierung wegen religiöser Anschauungen hat der Staat „auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten“, wobei es weder auf die soziale Relevanz noch auf die zahlenmäßige Stärke ankommt (vgl. BVerfG. NJW 1995, 2477, 2478 – Kruzifix).

Bei der Wahrnehmung des individuellen Grundrechts auf freie religiöse Betätigung kommt es nicht auf die Größe der Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft an, der die Schüler angehören, sondern auf die Einforderung dieses persönlichen Rechts einerseits und die faktische Möglichkeit des Staates, ihm zu entsprechen. Für die Frage des schulischen Religionsunterrichts hieße das, daß ggf. pädagogisch sinnvolle Gruppengrößen (z. B. zwölf Teilnehmende) festgelegt werden können, von deren Erreichen die Erteilung von Religionsunterricht abhängig gemacht werden könnte. Dabei wäre offenzuhalten, daß die Gruppengröße nicht nur in einem Jahrgang, sondern auch in einer Jahrgangsstufe, einer Schule, einem Schulbezirk etc. erreicht werden kann.

Inhaltliche Bewertung der Glaubens- und Weltanschauungslehre

Eine inhaltliche Bewertung der Glaubens- und Weltanschauungslehren durch den Staat (z. B. in Gestalt der Schulbehörde) dürfte ebenfalls nicht zulässig sein. Da Art. 4 GG keine inhaltliche Beschränkung kennt, müßten strafrechtlich relevante Tatsachen geltend gemacht werden. Es darf sicher nicht zwischen „staatsnahen“ und „staatsfernen“ Religionsgesellschaften unterschieden werden, wie das in der Vergangenheit faktisch der Fall gewesen ist. Staatliche Benachteiligungen wegen politisch möglicherweise mißliebiger Programmatik sind unzulässig. Der Grundsatz, daß eine Partei oder Organisation ihren verfassungsmäßig geschützten Status erst durch eine rechtsstaatlich erfolgte Verbotsentscheidung verliert, muß auch gegenüber den Religionsgemeinschaften angewandt werden.

Der Schulträger muß einkalkulieren, daß in einer unübersichtlichen weltanschaulichen Situation nicht ausgeschlossen werden kann, daß auch Lehren verbreitet werden, die mit dem Grundgesetz und unserer Rechts- und Werteordnung nicht oder kaum zu vereinbaren sind. Daß religiöse Lehren den modernen Staats-, Rechts- und Lebensauffassungen widersprechen und widerstreiten, ist bekanntlich heute nicht selten. Man denke nur an in allen Religionen – einschließlich der christlichen – begegnende „fundamentalistische“ Verhaltensformen oder an bestimmte moderne Ideologien unter religiösem Gewand.

Eine inhaltliche Grenze für inhumane und totalitäre Inhalte des Religionsunterrichts einer Religionsgemeinschaft könnte allenfalls aus den Erziehungsgrundsätzen und -zielen sowie den pädagogischen Schulzielen konstruiert werden, die in der jeweiligen Landesverfassung bzw. im Schulgesetz formuliert sind, weil der Religionsunterricht – obwohl er „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ (Art. 7 Abs. 3) zu erteilen ist – gleichwohl als „ordentliches Lehrfach“ im Rahmen der für die Schule insgesamt geltenden Bestimmungen steht.

Strukturelle Voraussetzungen

Axel von Campenhausen nennt Bedingungen, die religiöse Vereinigungen bzw. Gesellschaften erfüllen müßten, um als „Religionsgemeinschaften“ betrachtet zu werden. Folgendes muß vorhanden sein:

– Verbände ein- und desselben Bekenntnisses, die sich die allseitige Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben zum Ziel gesetzt haben;

– „es muß sich auch tatsächlich (nicht nur nach Behauptung und eigenem Selbstverständnis, J. L.) nach geistigem Gehalt und äuße_rem Erscheinungsbild um eine Religionsgemeinschaft handeln“;

– geistliche Institutionen müssen bestehen;

– ein stabiles mitgliedschaftliches Substrat, das einen Lebensverband auf religiöser Grundlage bildet;

– Strukturen, die eine klare Organisationsform mit Verfahren der Willensbildung, mit Organen und mit Instanzen erkennen lassen, die authentisch und verbindlich über Lehre und Ordnung zu entscheiden haben.

Zusammenfassend heißt das: „Eine Religionsgemeinschaft setzt nach alledem den Zusammenschluß natürlicher Personen auf Grund übereinstimmender Auffassungen (Konsens) in religiöser Hinsicht und ein umfassendes Bekenntnis dieses Konsenses nach außen voraus.“

Solche strukturellen Bedingungen sind als Auswahlkriterium höchst fragwürdig, weil mit ihnen stillschweigend die Verfassungsstruktur der christlichen Großkirchen zur Norm und zum Entscheidungskriterium erhoben wird. Dies verkennt, daß Religionen sehr unterschiedliche Strukturen und Institutionen entwickeln können. Andernfalls bedient man sich der beliebten Gleichsetzung von Religion und Kirche. Allenfalls könnte „die Gewähr der Dauer“ als institutionelle Mindestvoraussetzung geltend gemacht werden sowie die Existenz eines Organs, das die „Grundsätze“ festzulegen befugt ist, mit denen ein solcher Unterricht in Übereinstimmung stehen muß.

Fazit

Religionsunterricht gilt in der Bundesrepublik Deutschland als Teil der durch Art. 4 Abs. 2 GG gewährleisteten Religionsausübungsfreiheit. Dieses Recht steht nicht allein den deutschen Staatsbürgern, sondern allen in der BRD wohnenden Menschen zu. Die Religionsfreiheit des Grundgesetzes ist nicht an den Kreis christlich-abendländischer Religion gebunden. Der Genuß der Religionsfreiheit steht Anhängern fremder Religionen ebenso zu, ohne daß dies davon abhängig ist, daß sie (oder die Kirchen) in ihren Heimatländern gleiche Rechte haben.

Die Kirchen können in einer pluralistischen Gesellschaft kein Monopol mehr in Sachen Religion reklamieren. Die für die Beurteilung maßgebenden Kriterien für das Erteilungsrecht von Religionsunterricht müssen Kriterien staatlichen Rechts sein und im Zusammenhang des gesellschaftlichen Bildungsauftrags von Schule und ihren Erziehungszielen sowie ihren didaktischen Leitvorstellungen stehen. Dazu gehören auch mindestens eine wissenschaftliche Ausbildung, fachliche und pädagogische Qualifikation der Lehrkräfte sowie die Orientierung der Vermittlung an den Menschenrechten, den Grundrechten der Verfassung und den Erziehungszielen der Schule.

Eine ganz andere Frage ist, ob man aus pädagogischen Gesichtspunkten diese Konsequenz aus Art. 7 GG überhaupt für sinnvoll und erstrebenswert hält. Das Nebeneinander unterschiedlicher bekenntnismäßiger Religionsunterrichte in der schulischen Stundentafel – katholischer und evangelischer neben russisch-orthodoxem und jüdischem, ggf. mehreren islamischen und je nach Region buddhistischem Religionsunterricht usw., ergänzt durch entsprechenden Unterricht für Freidenker – kann pädagogisch nicht wünschbar sein. So stellt sich die Frage nach sinnvollen Alternativen zur gegenwärtigen Situation eines die christlichen Großkirchen privilegierenden sowie die plurale und multireligiöse Situation anachronistisch ignorierenden konfessionellen Religionsunterrichts nachdrücklich.

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