Der Albanien-Einsatz der Bundeswehr
Jürgen Seifert
Grundrechte-Report 1998, S. 251-255
Die Entscheidung über Krieg und Frieden muß fest in den Händen des Parlaments liegen – über diesen Punkt waren sich alle im Bundestag vertretenen Parteien einig, als sie 1968 in Art. 87 a Abs. 2 GG den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr regelten: Das Grundgesetz läßt „ausdrücklich“ nur bewaffnete Einsätze als Verteidigung zu. Dafür wurde in Art. 115 a festgelegt, daß die Feststellung, ob ein Fall der Verteidigung vorliegt, vom Bundestag (hilfsweise vom Gemeinsamen Ausschuß) mit zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen mindestens der Mitglieder des Bundestages getroffen werden muß.
Das sollte nicht so bleiben. Als Verteidigungsminister hat der Staatsrechtler Rupert Scholz behauptet, durch den Beitritt der Bundesrepublik zur UNO sei alles anders geworden; in einem „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ komme Art. 24 GG zum Zuge. Außerparlamentarische Linke, SPD-Parteitage und die SPD-Bundestagsfraktion stritten darüber, ob die Bundesrepublik „Blauhelme“ stellen dürfte. Bundeswehr und Teile der Union beriefen sich nun auf die sogenannte Prärogative der Exekutive. Bundesregierung und Bundeswehr wußten nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes die neuen Konflikte im Golf und auf dem Balkan geschickt auszunutzen. Als das Bundesverfassungsgericht am 12. Juli 1994 in dieser Frage entschied, war es bereits als Erfolg anzusehen, daß das Gericht unmißverständlich klarstellte: Für einen „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“ sei „die grundsätzlich vorherige konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages erforderlich“ (BVerfGE 90, 286). Diejenigen, denen für solche Fälle der Freiraum der Exekutivmacht unerläßlich gilt, fragten, aus welchem Satz des Grundgesetzes das Gericht diesen Feststellungsbeschluß ableite; die Gegner machten dagegen auf die paradoxe Rechtslage aufmerksam, daß zur Verteidigung der Bundesrepublik ein Beschluß erforderlich sei, der mit Zweidrittelmehrheit (mindestens die Mehrheit des Bundestages) gefaßt sei, für einen bewaffneten Einsatz außerhalb der Bundesrepublik im Rahmen der NATO jedoch die einfache Mehrheit genüge.
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Leitsatz ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es Sache des Gesetzgebers sei, „jenseits der im Urteil dargelegten Mindestanforderungen und Grenzen des Parlamentsvorbehalts für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte die Form und das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestalten“.
Mit anderen Worten: Durch ein „Einsatzgesetz“ kann festgelegt werden, daß ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte nur nach einem mit der Mehrheit des Bundestages („Kanzlermehrheit“) gefaßten Beschluß zulässig ist und daß dem Bundestag das Recht vorbehalten bleibt, durch einen solchen Beschluß festzustellen, ob der Einsatz „der Wahrung des Friedens“ dient und nicht als Angriffshandlung (Art. 24 Abs. 2 u. Art. 26 Abs. 1 GG) anzusehen ist. Doch ein solches Gesetz gibt es bis heute nicht.
Dies wußte man in der Bundesregierung im März 1997 zu nutzen. Die Möglichkeit, die „konstitutive Entscheidung“ des Bundestages ansatzweise auszuhebeln, boten die Unruhen in Albanien. Durch einen Anlagebetrug, in den auch die Regierung verwickelt war, hatten große Teile der Bevölkerung ihr Vermögen verloren. Die Folge war ein bewaffneter Volksaufstand im Süden des Landes, der auch auf die Hauptstadt Tirana überzugreifen drohte. In Tirana schützten Posten der Armee nur noch das Regierungsviertel. Die Polizei war nicht mehr zu sehen. Die USA und Italien (in beiden Ländern ist die Rechtslage dafür anders) versuchten ihre Landsleute zu evakuieren. Die Amerikaner stoppten alle Rettungsflüge, als ein US-Helikopter mit einer SA-7-Rakete beschossen worden war.
Die Bundeswehr hatte (vermutlich mit Unterstützung der Italiener) ihren Einsatz exakt vorbereitet. Streitkräfte in diesem Umfang und die notwendige Logistik sind nicht ad hoc zu mobilisieren. Eingesetzt waren:
„a) Heeresfliegerkräfte, bestehend aus fünf mittleren Transport-Hubschraubern CH-53 und einem Rettungshubschrauber CH-53 sowie Kräften zur militärischen Eigensicherung (89 Soldaten),
b) drei Transportflugzeuge C-160 Transall (24 Soldaten),
c) die Fregatte Niedersachsen in internationalen Gewässern zur Unterstützung von See aus (210 Soldaten)“ (BT-Drucksache 13/7233).
Die Bundesregierung beruft sich darauf, am 14. März 1997 habe der „Abgleich mit der Lage der Verbündeten“ gezeigt, „daß ein Transfer deutscher Staatsbürger auf dem Landweg nicht mehr verantwortbar war“ (ebd.). Am Vormittag wurden durch Verteidigungsminister Rühe und Außenminister Kinkel „Experten“ der Koalition und Opposition (auch SPD-Fraktionsvorsitzender Rudolf Scharping) vertraulich unterrichtet. Um 11.35 Uhr hat die Bundesregierung den Einsatz deutscher Streitkräfte angeordnet. Als am Nachmittag die Hubschrauber landeten, kam es zu einer Schießerei, bei der nach unbestätigten Presseberichten ein Albaner getötet wurde. Die Militär-Hubschrauber flogen etwa 110 Personen, darunter 20 Deutsche, aus.
Die Bundesregierung beruft sich auf „Gefahr im Verzuge“. Angesichts der „anarchistischen Zustände im Land“ war der „Einsatz deutscher Streitkräfte … die einzig verbliebene Möglichkeit“. Sie legte dem Bundestag am 18. März 1997 eine Entschließungsvorlage vor, in der es heißt:
„Der Deutsche Bundestag billigt den von der Bundesregierung am 14. März angeordneten und am selben Tage durchgeführten Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Evakuierung … aus Albanien.“
Der Bundestag hat in seiner Sitzung am 19. März 1997 offenbar die Brisanz des Problems nicht erkannt. Die Entschließung wurde ohne Aussprache an den Auswärtigen Ausschuß überwiesen. Der vom Bundesverfassungsgericht für erforderlich gehaltene Vorbehaltsbeschluß (die „grundsätzlich vorherige konstitutive Zustimmung“) wurde sowohl von der Regierung als auch vom Parlament übersehen. Wenn sich die Streitkräfte auf einen solchen Einsatz vorbereiten, wäre es auch möglich gewesen, vor dem Einsatz eine Beschlußvorlage vorzulegen, über die (notfalls auch im Gemeinsamen Ausschuß) hätte entschieden werden können. Doch keine der Möglichkeiten für einen „konstitutiven“ parlamentarischen Feststellungsbeschluß wurde genutzt. So ist zu vermuten, daß die Aktion nicht nur zum Schutz von Bürgern geplant und durchgeführt wurde, sondern auch dazu, um einen Präzedenzfall für zukünftige Einsätze „bewaffneter Streitkräfte“ bei „Gefahr im Verzuge“ zu schaffen. Vermeintlicher Sachzwang wurde konstruiert, um Entscheidungsmacht durchsetzen zu können.
Seit zwei Jahrhunderten gibt es in Demokratien die Auseinandersetzung zwischen den Kräften, die eine Entscheidungsmacht der Exekutive über Einsätze der bewaffneten Streitkräfte durchzusetzen versuchen, und jenen, die das Entscheidungsrecht des Parlaments in diesen Fragen als Signum eines demokratischen Staates ansehen. In diesem Zusammenhang sind die fehlenden Konsequenzen aus dem Albanien-Einsatz ein schlechtes Zeichen: Weniger das Verhalten von Bundeswehr und Bundesregierung sind das Problem als die Unfähigkeit von Demokraten, die eigenen Rechte zu kennen und zu sehen, in welcher Weise sie in dieser Frage ausgehebelt wurden. Die Übernahme amerikanischer Raketenabwehrraketen im NATO-Bereich durch die Bundeswehr zeigt, wie wichtig und wie akut ein „Einsatzgesetz“ ist. Es geht darum, durch die formelle Regel eines parlamentarischen Feststellungsbeschlusses zu verhindern, daß die Bundesrepublik sich auf Grund eigenmächtigen Handelns der Exekutive plötzlich in einem Krieg befindet.