Die lebenslange Freiheitsstrafe - eine Strafe zum Tod
Martin Singe
Grundrechte-Report 1998, S. 37-43
Im Januar 1998 nahm sich der 1981 zu lebenslanger Haft verurteilte Uwe Z. in der Justizvollzugsanstalt Lübeck sein Leben. Ein Jahr zuvor hatte er einen Aufsatz über seine Situation geschrieben, in dem es u. a. heißt: „Für mich ist daher die lebenslange Freiheitsstrafe eine von den Justizbehörden gewollte und vom Staat tolerierte Hinrichtung auf Raten, die den Lebenslänglichen entweder schon während der Haftzeit vernichtet oder ihn als willenlose Marionette zum Krepieren in die Gesellschaft entläßt.“ Sehr viele „Lebenslängliche“ empfinden die ihnen zugemutete Strafform als einen Tod auf Raten. Ein anderer Betroffener hat dies so ausgedrückt: „Man tötet nicht mehr unmittelbar den Körper, sondern man tötet – langsam, aber sicher – den Geist, die Seele, den Willen, die Liebe, die Freude und die Moral. Und die unsichtbaren Waffen dafür sind Unterdrückung, Streß, Demütigung, Deprivation, Hospitalisation, Desozialisierung, Entmutigung und Hoffnungslosigkeit. (…) Der Gefangene lebt, doch nur noch, um sein Leben lang als Strafobjekt, als Objekt der Übelzufügung zu dienen.“
Die Anwendung der lebenslangen Freiheitsstrafe
„Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ So heißt es in Art. 102 GG. Statt dessen gibt es jedoch die extreme Strafform der lebenslangen Freiheitsstrafe. Auch sie kann bis zum Tode dauern. Etwa jeder sechste, der zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist, stirbt noch während der Haftzeit. In den bundesdeutschen Gefängnissen sitzen permanent zwischen 1100 und 1300 Menschen mit einem Lebenslänglich-Urteil in Haft (1985: 1062; 1990: 1194; 1995: 1287). Insgesamt wurden in der Bundesrepublik seit 1945 ca. 2500 Lebenslänglich-Urteile ausgesprochen.
In der Bundesrepublik wird die lebenslange Freiheitsstrafe fast ausschließlich im Kontext des § 211 StGB (98,4 % der Verurteilungen) angewandt. Die Formulierung dieses Strafrechtsparagraphen hat bis heute ihre nationalsozialistische Akzentuierung behalten, der gemäß der Täter, seiner Menschenwürde beraubt, moralisch zur „Sau“ gemacht wird.
Der § 211 StGB lautet:
„(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.“
Dieser „Mörder“paragraph fällt aus der Systematik des Strafgesetzbuches heraus. Definiert wird nicht die Tat, sondern der Täter. „Die „Mördermerkmale“, die die Gesinnung eines Täters beschreiben, sind unbestimmte Rechtsbegriffe. Sie widersprechen dem Bestimmtheitsgebot strafrechtlicher Sanktionen und dem Gesetzlichkeitsprinzip.
Es hält sich hartnäckig das Gerücht, die lebenslange Freiheitsstrafe bedeute heute „nur noch“ 15 Jahre. „Lebenslänglich – das bedeutet in 99 Prozent der Fälle Haftentlassung nach 15 Jahren“ (Express Bonn, 9. 12. 1997). Die Realität bezeugt anderes. Die durchschnittliche Verbüßungsdauer liegt in der Bundesrepublik bei ca. 21 Jahren – im europäischen Vergleich eine Spitzenstellung. In Einzelfällen werden über 25, 30, ja sogar 40 und 50 Jahre Strafhaft angeordnet.
Im Jahr 1977 behauptete das Bundesverfassungsgericht, die lebenslange Freiheitsstrafe sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Allerdings habe der „moderne“ Strafvollzug irreparablen Persönlichkeitsschädigungen entgegenzuwirken, und dem Verurteilten müsse grundsätzlich die Chance verbleiben, irgendwann wieder der Freiheit teilhaftig zu werden. Daraufhin wurde 1982 der § 57a in das Strafgesetzbuch eingefügt, dem gemäß frühestens nach 15 Jahren Haftzeit eine Entlassung auf Bewährung vorgenommen werden kann. Jedoch nur dann, wenn einerseits keine ungünstige Gefährlichkeitsprognose erstellt wurde und andererseits nicht „die besondere Schwere der Schuld“ eine weitere Vollstreckung gebietet. Durch die Einführung des § 57a wurde die Hemmschwelle der Gerichte, die lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen, gesenkt. Außerdem verlängerten sich seitdem die durchschnittlichen Verbüßungsdauern. Selbst das Bundesverfassungsgericht mußte 1992 eingestehen, daß die Straflänge zu Zeiten der Gnadenpraxis verläßlicher berechnet werden konnte als nach Einführung des § 57a. Ein Mehr an Rechtssicherheit war angestrebt worden, doch das Gegenteil wurde erreicht.
Das Bundesverfassungsgericht bestätigte 1983 mit einem neuen Beschluß, daß es nicht verfassungswidrig sei, wenn in Einzelfällen wegen „besonderer Schwere der Schuld“ die Strafdauer bis zum Tod reiche. Anderenfalls würde die Strafform entwertet.
Zur Unvereinbarkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe mit dem Grundgesetz
Die lebenslange Freiheitsstrafe verstößt gegen Grund- und Menschenrechte, sie ist mit dem Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde und dem Grundrecht auf Freiheit und Unverletzlichkeit der Person unvereinbar (vgl. Manifest des Komitees für Grundrechte und Demokratie zur lebenslangen Freiheitsstrafe). Freiheitsstrafen sind schon als solche grundrechtlich problematisch, wird doch – um ein geschehenes Übel auszugleichen – dem Täter ein neues Übel zugefügt, nämlich der Entzug zentraler Grundrechte wie Freiheit der Person, Handlungsfreiheit u. v. m. Zwar ist im Strafvollzugsgesetz von 1977 als zentrales Ziel die Resozialisierung festgeschrieben worden. Aber das doppelte Paradoxon des Resozialisierungsziels ist nicht zu verkennen. Die Inhaftierten sollen just in einer „totalen Institution“ lernen, sich ohne Aggressionen, frei und selbständig zu bewegen, einer Institution also, die unterdrückt und gängelt. Außerdem sollen sie just in jene unveränderten Verhältnisse besser „sozialisiert“ zurückgeschickt werden, die u. a. mit daran schuld gewesen sind, daß sie auch subjektiv schuldig wurden. Im größten Widerspruch zum Resozialisierungsziel steht die Behandlung derjenigen Personen, die zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Sie werden der Perspektivlosigkeit anheimgegeben und systematisch desozialisiert. Eine Lern- und Wandlungsfähigkeit wird ihnen schon durch den grundrechtswidrigen § 211 selbst abgesprochen: „Mörder ist, …“ Und so wird der Täter dann auch gesehen und behandelt, als gefährlicher, zur Wiederholung der Tat neigender Un-Mensch, der dauerhaft von der Gesellschaft ausgeschlossen gehöre.
Die zentralen resozialisierungsorientierten Maßnahmen werden bei Lebenslänglichen frühestens nach 10, meist erst nach 15 oder mehr Jahren angegangen: Vollzugslockerungen, Ausführungen, Hafturlaub, Offener Vollzug etc. Das ist das Zermürbende an dieser extremen Strafform: jahrelang einer völligen Perspektivlosigkeit ausgesetzt zu sein, nicht zu wissen, wie lange der Vollzug letztendlich dauern und ob man überhaupt die eigene Entlassung noch erleben wird. Die Umrechnung der „Schuldschwere“ – ein völlig unbestimmter Rechtsbegriff – in Haftjahre erfolgt erst kurz vor Ablauf der Mindestverbüßungszeit vom Vollstreckungsgericht unter recht willkürlichen Kriterien. Dann erst werden Gutachten und Gefährlichkeitsprognosen hinsichtlich der Frage einer möglichen Entlassung erstellt. Diese Sachverständigengutachten stellen ein Problem für sich dar, da niemand zuverlässig zukünftiges menschliches Verhalten prognostizieren kann. Zudem leistet die gesetzliche Formulierung restriktiver Handhabung Vorschub: Es darf „keine Gefahr“ mehr bestehen, daß die „durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht“ ( § 454 StPO).
Zur Nutzlosigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe
Um die lebenslange Freiheitsstrafe zu rechtfertigen, werden die verschiedensten Gründe vorgetragen. Angeblich habe sie general- und spezialpräventive Wirkungen und diene vor allem dazu, den Wert des menschlichen Lebens im Bewußtsein der Bevölkerung zu verankern. Alle diese Gründe tragen nicht. Die präventive Wirkung der lebenslangen Freiheitsstrafe ist nicht zu beweisen. Europäische Länder, in denen diese Strafform abgeschafft wurde (Norwegen, Portugal, Spanien, Zypern), haben keine höheren Quoten an Tötungsdelikten zu verzeichnen. Tötungshandlungen geschehen in den meisten Fällen in zugespitzten Konfliktkonstellationen, ohne vorherige Berücksichtigung der Schwere der Strafandrohung. Bei vorsätzlichen Handlungen spielen das Entdeckungs- und Bestrafungsrisiko (bei Tötungsdelikten traditionell sehr hoch) eine gewisse Rolle, nicht die Höhe der Strafandrohung. Auch das Bundesverfassungsgericht mußte bereits 1977 zugeben, daß sich „verbrechensmindernde Wirkungen aus einer bestimmten Strafandrohung in der Praxis überhaupt nicht meßbar nachweisen lassen“.
Daß über das Strafrecht die Vermittlung der Werte in das Bewußtsein der Bevölkerung vonstatten gehe, ist eine Mär. Niemand liest im Strafgesetzbuch, um die Unterscheidung von „gut“ und „böse“ für das eigene Gewissen zu lernen.
Die lebenslange Freiheitsstrafe nützt den betroffenen Menschen nicht. Für die Opfer bzw. für ihre Angehörigen wären großzügige und unbürokratische psychosoziale und materielle Hilfeangebote notwendig. Solche gibt es fast nicht. Statt dessen bekommen Opfer im Strafprozeß die Rolle des Nebenklägers oder Zeugen, um bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs behilflich zu sein. So ist der Strafprozeß ungeeignet, dem Opfer bei der Bewältigung von Leid und Ohnmacht behilflich zu sein. Vielmehr wird die traumatische Tat bei den Vernehmungen wiederholt.
Die lebenslange Freiheitsstrafe schädigt dauerhaft die Täter. Schon der Prozeß ist nicht dazu geeignet, daß der Täter Verantwortung für seine Tat übernimmt. Um einem Lebenslänglich-Urteil zu entkommen, wird er geradezu darauf hingelenkt, die Schuld bzw. die Tat selbst zu leugnen oder umzudeuten. Nach Prozeß und Verurteilung wird der Täter den Folgen lang andauernder Haftzeit ausgesetzt. Zu diesen gehören Vereinsamung, Isolation und psychische Beschädigungen, der Verlust von Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen, sozialen Fähigkeiten, Handlungskompetenzen und Eigenverantwortung, die Vernichtung jeglicher ökonomischen Perspektive.
Die lebenslange Freiheitsstrafe schadet recht besehen am meisten der Gesellschaft und ihrer Sicherung vor zukünftigen Gewalttaten. Statt daß die Gesellschaft samt ihren politischen Institutionen alles unternähme, um die Bedingungen zu verändern, die immer wieder dazu führen, daß Gewalttaten begangen werden, erlaubt der Mörderparagraph der „normalen“ Gesellschaft und Politik, tatenlos zu bleiben. Die Gewalthandlungen werden individualisiert, wenn nicht biologisiert. Alle Bürgerinnen und Bürger (und ihre politischen Repräsentanten) können so tun, als handele es sich bei Gewalttätern um anormalen „Auswurf“ jenseits der Normalität. Auch die jüngste, medial angeheizte Debatte um Strafverschärfungen für Sexualstraftäter zeigt, wie sehr symbolische Politik betrieben wird. Strafverschärfungen wurden durchgesetzt, obwohl selbst der Justizminister zugab, daß dies nichts nützen werde. Für die Schaffung der fehlenden Therapieplätze allerdings wurde den Ländern erst einmal fünf Jahre Zeit gelassen, da es am Geld mangele.
Die lebenslange Freiheitsstrafe muß abgeschafft werden!
Seit Jahren gibt es Initiativen zur Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe. 1995 wurde dem Deutschen Bundestag auf Initiative des Komitees für Grundrechte und Demokratie hin eine Petition zur Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe überreicht, die von 4387 Personen und 13 bundesweit tätigen Organisationen getragen wurde. Der Bundestag lehnte dieselbe 1996 unter Wiederholung der inzwischen abgenutzen Argumente ab. Allerdings wird die Irrationalität dieser Strafform immer mehr Menschen bewußt. Nur ein verändertes gesellschaftliches Bewußtsein kann langfristig dazu beitragen, daß auch die Parteien irrationalen und grundrechtswidrigen Strafformen eine Absage erteilen.
Literatur:
Komitee für Grundrechte und Demokratie, Manifest: Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe und die Zurückdrängung der zeitigen Freiheitsstrafen. Auf dem Wege zu gewaltfreien Konfliktlösungen, Köln 1994.
Hartmut-Michael Weber, Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe. Für eine Durchsetzung des Verfassungsanspruches, Baden-Baden 1998.
Weitere Informationen:
Projektgruppe „Wider die lebenslange Freiheitsstrafe“: Komitee für Grundrechte und Demokratie, Bismarckstr. 40, 50672 Köln.