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Die Würde des Menschen im Sterben

Till Müller-Heidelberg

Grundrechte-Report 1998, S. 33-37

Am 15. November 1994 wurde durch Grundgesetzänderung dem Bundesgesetzgeber die Kompetenz gegeben, das Recht der Organtransplantation zu regeln. Zuvor hatte ein Alleingang des rheinland-pfälzischen Landtages mit einem Landesgesetz, welches die sogenannte Widerspruchslösung vorsah, zu allseitiger Empörung geführt. Die nun einsetzende Diskussion mit mehreren Anhörungen im Bundestagsausschuß für Gesundheit kreiste hauptsächlich um zwei Problempunkte. Die eine Frage war die: Wann ist der Mensch tot, nach dem sogenannten irreversiblen Hirntod? Und die andere Frage: Dürfen Organe nur mit Zustimmung des Organspenders entnommen werden (enge Zustimmungslösung), oder reicht (da bisher nur in etwa fünf bis zehn Prozent der Fälle der Versterbende vorher einen eindeutig dokumentierten Willen geäußert hat) gegebenenfalls die Zustimung der engsten Angehörigen (erweiterte Zustimmungslösung)?

In der Schlußdebatte am 25. Juni wurde die verfassungsrechtlich gar nicht existierende Fraktionsdisziplin aufgehoben – ging es doch um Grundfragen des Verfassungsverständnisses und des Menschenbildes. Dabei schien anfangs alles so einfach: Per Gesetz sollte der Hirntod als Tod des Menschen definiert werden, und wenn schon nicht die Widerspruchslösung wie in der früheren DDR, dann sollte wenigstens die erweiterte Zustimmungslösung gelten, weil etwa zweimal mehr transplantierbare Organe angefordert als angeboten werden.

Zumindest in einem Punkt hat die Diskussion einen Fortschritt erbracht: Man kann den Tod des Menschen nicht per Definition „beschließen“. Er unterliegt medizinisch und biologisch wechselnden Erkenntnissen sowie ethisch und religiös sich ändernden gesellschaftlichen Anschauungen. Kein irdischer Gesetzgeber kann naturwissenschaftliche Gesetze oder religiöse und ethische Wahrheiten durch irdisches Gesetz festlegen und „beschließen“ (so schon die Humanistische Union in ihrer Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für Gesundheit am 25. September 1996). Denn der Mensch, dessen „Hirntod“ festgestellt worden ist, hat weiterhin lebendige Funktionen. Zwar steht fest, daß bei nachgewiesenem Hirntod dieser menschliche Körper nie mehr von selbst „richtig“ leben kann – aber mit Hilfe der Apparatemedizin wird der Körper eben absichtlich lebendig gehalten, weil dies die Voraussetzung für eine spätere Explantation von Organen ist. Der Körper wird ernährt, die Stoffwechselfunktionen bleiben bestehen, das Herz schlägt, den Puls kann man fühlen, die Angehörigen streicheln die warme Hand, die Haut schwitzt, bei Durchführung der Explantation erhöht sich der Blutdruck, der Körper reagiert, ja der hirntote Mensch kann bekanntlich Schwangerschaften austragen, wie die Schwangerschaften der Hirntoten von Erlangen und Filderstadt gezeigt haben. Wie kann da gesetzlich „beschlossen“ werden, ein solcher Mensch sei tot?

Deshalb ergab sich in der Debatte ein breiter Konsens, daß der sogenannte Hirntod zwar „der entscheidende Einschnitt im Prozeß des Sterbens, nicht aber der endgültige Tod selbst“ ist (so der CDU-Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer) und daß „die Definition des Todes keine Aufgabe der Politik oder des Gesetzgebers“ ist (so Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer). Der Gesetzgeber kann lediglich auf dem Wege der Konvention über den Zeitpunkt, von dem an die Entnahme eines lebenswichtigen Organs rechtlich und ethisch zulässig sein soll, entscheiden, wie der Bundestagsabgeordnete Eckart von Klaeden im Anschluß an die im Laufe der Diskussion ebenfalls geänderte Auffassung der beiden großen christlichen Kirchen ausführte. Der Tod ist kein Zeitpunkt, sondern ein fließender Vorgang, er „vollzieht sich prozeßhaft“ (MdB Dr. Rupert Scholz). Und zur rechtlichen Seite führte Bundesjustizminister Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig aus, daß mit dem nachgewiesenen Hirntod die Pflicht des Arztes zur Aufrechterhaltung der Körperfunktionen endet und „wechselt in die Pflicht, den natürlichen Sterbeprozeß nicht weiter aufzuhalten“. Wer den Hirntoten unautorisiert an die Maschine anschließt, macht sich nach geltendem Recht strafbar. Es ist also nur dann gerechtfertigt, den natürlichen Sterbeprozeß zu verlängern, wenn eine Einwilligung vorliegt.

Wenn man von dieser in allen Bundestagsfraktionen anerkannten Auffassung ausgeht, daß das Sterben kein punktuelles Ereignis, sondern ein fließender Vorgang ist, der mit dem Hirntod keinesfalls beendet ist, sondern allenfalls beginnt, weil nämlich tote Organe nicht transplantiert werden können, sondern nur lebendige, dann ist es unverständlich, daß sich dennoch die Mehrheit des Bundestages für die sogenannte erweiterte Zustimmungslösung entschied. Die Bundestagsabgeordnete Monika Knoche von Bündnis 90/Die Grünen hat aus dieser Erkenntnis zu Recht den „Rechtsstatus eines Menschen im Zustand des irreversiblen Hirnorganverlustes formuliert: Wir sagen, er ist ein Sterbender und damit ein Grundrechtsträger“. Der oberste, in Artikel 1 des Grundgesetzes geschützte Wert ist die Würde des Menschen – sie steht auch dem Sterbenden zu. Wie die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes bestätigt, bestimmt nur der Patient selbst, ob und welche medizinischen Hilfen er akzeptiert, ob und welche lebensverlängernden Maßnahmen er bei sich angewendet wissen will, ob und in welchem Umfang er die Apparatemedizin für seine Persönlichkeit akzeptiert. Da eine Transplantation nach Feststellung des Hirntods medizinisch nur möglich ist unter Anwendung der Apparatemedizin (damit nämlich der Körper „weiterlebt“), ergibt sich daraus zwingend, daß eine Organentnahme nach Feststellung des Hirntods nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Betroffenen erfolgen darf, da nur er entscheiden kann, ob überhaupt die Apparatemedizin zur Verlängerung seines kreatürlichen Lebens eingesetzt werden soll, und da folglich nur er bestimmen kann, ob der Sterbeprozeß nach Hirntod durch medizinische Apparatetechnik hinausgezögert bzw. wann er durch Abschalten aller Apparate beendet werden soll.

Die Menschenwürde endet nicht mit dem Hirntod! Sie entfaltet „über den Tod hinaus Schutzwirkung“ (Bundessozialgericht, NJW 1997, 823f.). Dies bedeutet, daß auch nach Feststellung des sogenannten Hirntods nicht Angehörige über den sterbenden Menschen entscheiden dürfen. Und schon gar nicht darf das Argument, welches im Vordergrund der gesamten Diskussion über die enge oder erweiterte Zustimmungslösung steht, daß nämlich der Bedarf an transplantierbaren Organen doppelt so groß sei wie das „Angebot“, irgendeine Rolle spielen. Denn so gerne man denjenigen auch helfen möchte, die auf ein Organ warten – so eindeutig ist es auf der anderen Seite doch, daß der Mensch nicht Objekt eines möglichen Bedarfs an seinen Körperteilen werden darf.

Allein die enge Zustimmungslösung für die Organtransplantation hätte daher dem Verfassungsverständnis des allein über sich selbst entscheidenden, den Inhalt seiner Menschenwürde selbst bestimmenden Menschen entsprochen, wie es auch die Konferenz der Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern am 14./15. März 1996 beschlossen und ebenso die Ärzteorganisation IPPNW im „Nürnberger Kodex“ vom 20. August 1997 bekräftigt hat.

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