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Einschrän­kungen der Demon­s­tra­ti­ons­frei­heit bei Anti-­Cas­tor-Pro­testen

Ulrike Donat

Grundrechte-Report 1998, S. 119-125

Die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit im Interesse der Atom-Politik sind einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Bei jedem angekündigten Castor-Transport wurden seit 1994 fast flächendeckend entlang allen möglichen Transportwegen unterschiedslos alle Versammlungen verboten, nicht für _einen Ort, nicht nur für einen Tag, nicht nur für eine Versammlung, sondern alle denkbaren Versammlungen über einen Zeitraum von fünf bis neun Tagen! Noch nicht einmal eine Ausnahmeregelung für eindeutig friedfertige Demonstrationen – etwa: Mahnwachen, Seniorentreffen, Kinder- oder Gesangsveranstaltungen – war vorgesehen, auch 1997 nicht.

Die Versammlungsverbote

Jeweils mit Ankündigung des (geplanten oder tatsächlich durchgeführten) Castor-Transportes wurden in der örtlichen Elbe-Jeetzel-Zeitung fünf- bis sechsseitige (!) Bekanntmachungen abgedruckt, zumeist in drei verschiedenen Verfügungen.

Nicht eine konkrete Versammlung, sondern generell alle denkbaren Versammlungen waren verboten, ohne Rücksicht auf ihre (prognostizierte) Friedlichkeit oder Unfriedlichkeit, ohne Differenzierung danach, ob nur von einzelnen oder von der Versammlung insgesamt Störungen erwartet wurden, und ohne ausreichende Gefahrenprognose.

Versammlungsanmeldungen im zeitlichen bzw. örtlichen Geltungsbereich der Allgemeinverfügungen wurden pauschal ohne Einzelfallprüfung zurückgewiesen. Eine Ausnahmeregelung für angemeldete oder zweifelsfrei friedliche Versammlungen, die nicht unter die angegebene Gefahrenprognose fielen, war nicht vorgesehen.

In eine Rechtgüterabwägung hätte einbezogen werden müssen: Auf der einen Seite steht das Versammlungsrecht Tausender friedfertiger Bürger, die ihrer legitimen Besorgnis vor der Atompolitik Ausdruck verleihen wollten. Auf der anderen Seite steht lediglich das Interesse der privaten Atomanlagenbetreiber und des privaten Transporteurs2. Eine zwingende Notwendigkeit für den Transport war somit in keinem Fall gegeben. Diese Rechtsgüterabwägung wurde nicht nur nicht durchgeführt, sondern verschleiert, indem pauschal auf eine hergesuchte „Gefahr“ seitens autonomer Schienensaboteure hingewiesen wurde. Versammlungsverbote setzen jedoch die Gefahr versammlungstypischer Rechtsverstöße von erheblichem Gewicht voraus. Klandestine Kleingruppenaktionen sind jedoch gerade nicht „versammlungstypisch“ und daher nicht geeignet, die weitreichenden Versammlungsverbote zu begründen.

Die „Gefahrenprognose“ verdient ihren Namen nicht, denn rekurriert wurde auf Schienenanschläge, die typischerweise in kleinen Gruppen und heimlich vorgenommen werden, also nicht versammlungstypisch sind. Unberücksichtigt blieb das breite und im Wendland in vielen Jahren in Hunderten von friedlichen Aktionen bewiesene Potential gewaltfreier Bürgerproteste.

Auch der räumliche und zeitliche Umfang zeigt mehr die Angst der Politik vor den Bürgern als eine konkrete Abwägung im Einzelfall: Verboten waren sämtliche Versammlungen entlang den Schienentransportstrecken von Uelzen und Lüneburg nach Dannenberg sowie 50 Meter rechts und links der Gleismitte, entlang den Straßentransportwegen sowie ebenfalls 50 Meter rechts und links der Straßen und in einem Umkreis jeweils von 500 Meter um den Verladekran bei Dannenberg und um das Zwischenlager in Gorleben. Wer den Landkreis Lüchow-Dannenberg kennt, wird wissen, daß damit jeglicher effektiver Protest „vor Ort“, der auch medienwirksam sein könnte, ausgeschlossen war. Zudem handelt es sich um riesige Flächen. Damit war auch Anwohnern in den Ortsdurchfahrten, Bauern, deren Felder direkt an die Bahnstrecke grenzen, usw. ein demonstrativer kollektiver Protest untersagt. Schließlich war eine bestimmbare Abgrenzung in Feld und Flur illusorisch – der Geltungsbereich konnte nicht einmal von den (zumeist auswärtigen) Polizeikräften bestimmt werden!

Der zeitliche Umfang – zwischen fünf und neun Tagen! – ist beispiellos in der Verfassungsgeschichte.

Nachdem die politischen Mehrheitsverhältnisse im Landkreis Lüchow-Dannenberg nach der Kommunalwahl 1996 wechselten, zog die Bezirksregierung Lüneburg als Polizeibehörde die Befugnisse des Landkreises als Versammlungsbehörde an sich und verfügte trotz Protesten des Landkreises 1997 Versammlungsverbote wie in den Vorjahren.

Nutzen und Auswirkungen der Versammlungsverbote

Eingriffsbefugnis

Alle genannten Verfügungen boten den eingesetzten Polizeikräften innerhalb und außerhalb des Geltungsbereichs der Versammlungsverbote eine generelle Eingriffsbefugnis, so daß vor Ort auf eine gesonderte Einzelfallprüfung verzichtet wurde. Die Polizeifestigkeit von Versammlungen wurde damit von vornherein ausgehebelt.

An jedem Ort zu jeder Zeit innerhalb und außerhalb des Kreisgebietes mußten sich Bürger – speziell solche mit „Tag X“-Klebern – polizeilichen Kontrollen stellen. Autos und Busse wurden durchsucht ohne Rücksicht darauf, ob sie sich in der Verbotszone oder weit außerhalb befanden. Fragen nach der Rechtsgrundlage wurden mit dem Hinweis auf die Versammlungsverbote, weitergehende Fragen mit nicht näher begründeten Platzverweisen beantwortet.

Generell wurde die Freizügigkeit der Bürger (Art. 11 GG) eingeschränkt. In den Ortschaften entlang der Transportstrecke konnten zeitweilig Bürger nicht ohne Polizeikontrolle die Straßenseite wechseln! Es kam zu tagelangen Vollsperrungen der Straßen durch Polizeieinsatzkräfte ohne Absegnung durch die Straßenverkehrsbehörden.

Modernes „Bauernlegen“

Bürgerinnen und Bürger, speziell die bäuerliche Bevölkerung mit landwirtschaftlichen Maschinen, wurden weit außerhalb der Verbotszonen von Polizeikommandos überfallen, verprügelt, die Trecker demoliert.

1997 überfielen SEK-Beamte eine Treckerblockade in Splietau, zu einem Zeitpunkt, als deutlich war, daß die Trecker keine Gefahr für den Castor-Transport mehr darstellen würden. Wahllos und willkürlich wurden die Reifen der Trecker zerstochen, zum Teil an mehreren Rädern. Es entstand ein Sachschaden von 80000 Mark.

Auch sonst kam es vielerorts zu Überfällen auf Bürger, denen eigentlich kein Rechtsverstoß vorgeworfen werden konnte: stundenlange Einkesselungen, Verfolgungsjagden und Überfälle auf einzelne und Kleingruppen, nachts im Wald oder tagsüber mit Hubschraubern, am Rande der Verbotszone und ohne Rücksicht auf anschließende ärztliche Versorgung. Im Gegenteil: Sanitätsdienste wurden behindert uund bedroht.

Bei Kacherin/Quickborn wurden – außerhalb der 50-Meter-Sperrzone – 569 Personen eingekesselt, weil angeblich einige von ihnen Polizisten angegriffen haben. Gegen alle 569 wurden Ermittlungsverfahren wegen kollektiv begangenen Landfriedensbruchs eingeleitet, ohne jeden konkreten Hinweis auf eine zurechenbare „Tatbeteiligung“. Die Ermittlungen verliefen – wie voraussehbar – im Sande, in entsprechenden „Störerdateien“ sind die Betroffenen jedoch erfaßt.

Die Liste der polizeilichen Übergriffe füllt in den Berichten der Demonstrationsbeobachter inzwischen drei dicke Broschüren, gleichermaßen haben die örtlichen Pastoren in ihren Beobachtungsberichten viele Einzelfälle dokumentiert.

Eins haben alle Fälle gemein: Ohne die Versammlungsverbote bzw. ohne die pauschale – und falsche – Grundannahme, jeder Castor-Gegner habe einen Kollektiventschluß mit allen anderen, die Transporte physisch zu verhindern, gäbe es nicht einmal mehr eine annähernde Rechtfertigung des polizeilichen Handelns.

Verhältnismäßigkeit?

Vom Un-Sinn der Versammlungsverbote und ihrer Umsetzung zeugt speziell der Polizeieinsatz gegen die Aktion „X-1000-quer“ vor dem Verladekran im März 1997:

Fünf- bis zehntausend Personen hatten sich unter schriftlicher Selbstverpflichtung auf Gewaltfreiheit vor dem Verladekran versammelt und die Transportstrecke blockiert. Ihre einzige Untat war der Verstoß gegen das Versammlungsverbot. In einem nächtlichen Einsatz wurden sie geräumt, zunächst durch Wegtragen, zur kältesten Stunde im Morgengrauen bei Frost dann unter Wasserwerfer-Einsatz. Als auch dies nicht half, wurden sie von Polizeieinheiten in brutaler Weise von der Straße geknüppelt, es kam zu 500 Verletzten. Die Verletzungsliste reicht von Trommelfelloperationen und multiplen Prellungen bis hin zu Knochenbrüchen, Nierenversagen sowie ernsthaften Kopf- und Augenverletzungen. Die Brutalität des Polizeieinsatzes und die Unverhältnismäßigkeit angesichts des Verhaltens der Demonstranten ist in Videofilmen dokumentiert.

All diese Beispiele zeigen aber, daß die pauschalen Demonstrationsverbote alleine dazu dienen, eine universelle (wenngleich dubiose) Rechtsgrundlage für polizeiliche Allmacht zu schaffen. Ohne Versammlungsverbote hält sich jeder Bürger, über jeden Zweifel erhaben, erlaubtermaßen im öffentlichen Raum auf. Es bedarf dann eines konkreten, personenbezogenen Störer- und Straftatenverdachts, um ihn derartigen Maßnahmen wie Kontrollen, Identitätsfeststellungen, Gewahrsamnahmen, polizeilichen Zwangsmaßnahmen zu unterwerfen. Bürgerliche Freiheitsrechte wurden „elegant“ per Allgemeinverfügung beseitigt.

Rechtliche Bewältigung

Alle Versammlungsverbote wurden zunächst im Eilverfahren, dann auch in der Hauptsache von der örtlichen Bürgerinitiative und anderen Personen beklagt. Auf Grund der Hauptsacheverfahren für die Jahre 1994 und 1995 erließ das Verwaltungsgericht Lüneburg am 6. Mai 1996 ein Urteil, nach dem die Versammlungsverbote vom Umfang und ihrer Begründung her rechtswidrig waren. Dennoch wurden erneut derartige Allgemeinverfügungen erlassen. Die Verfahren gingen in die zweite Instanz.

Der beteiligte Landkreis hat sich inzwischen in allen von ihm erlassenen Allgemeinverfügungen der Auffassung des Verwaltungsgerichts Lüneburg angeschlossen, während die Bezirksregierung Lüneburg in zweiter Instanz weiterhin diese Praxis absegnen möchte, nachdem sie dem Landkreis die Kompetenz entzogen hat. Diese Verfahren sind anhängig vor dem Verwaltungsgericht Lüneburg und dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht. Möglicherweise wird sich das Bundesverfassungsgericht mit den angesprochenen Fragen befassen müssen.

Darüber hinaus kam es zu einer Fülle von Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Verstoß gegen das Versammlungsrecht, Landfriedensbruch usw. Die Bilanz für 1995 lautet: 131 Ermittlungsverfahren, davon nur 8 Anklagen, davon nur eine Verurteilung zu einer Geldstrafe wegen der Frage an einen Polizisten „Sind Sie verrückt?“. In polizeilichen Dateien sind die Betroffenen nach wie vor erfaßt. Strafanzeigen gegen Polizeibeamte wurden in der Regel ohne nennenswerte Ermittlungen eingestellt.

Der weitaus größte Anteil der rechtsstaatlich bedenklichen Maßnahmen aber, nämlich die totale Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten vor Ort durch die „Besatzungsmacht Polizei“, sind nicht justiziabel. Was bedeutet es für Menschen, wenn kilometerlange Reihen von Polizeifahrzeugen vor der Haustür stehen, schwerbewaffnete Polizisten auf den Straßen herumlaufen oder die Schulturnhalle besetzen, Tag und Nacht Hubschrauber im Tiefflug unterwegs sind? Der Schaden für die Demokratie ist unabsehbar.

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