Feindbild Organisierte Kriminalität - Brechstange gegen Freiheitsrechte
Peter-Alexis Albrecht
Grundrechte-Report 1998, S. 23-29
Der Begriff der „Organisierten Kriminalität“ ist in seinem Inhalt ein polizeilich bestimmter Begriff, der in der deutschen Kriminalpolitik, aber auch in Strafrechtswissenschaft und Rechtsprechung unkritisch rezipiert wird. Die polizeiliche Konstruktion des Begriffs macht zugleich die vorgetragene empirische Grundlage unbrauchbar, wie sie sich in Lagebildern und Forschungsberichten des BKA darstellt. Die Existenz organisierter Kriminalität soll danach anhand der OK-Definition, mittels eines OK-Erhebungsrasters und unter Zuhilfenahme der polizeilichen Kriminalstatistik nachgewiesen werden. Dabei wird der Begriff als global auftretende Bedrohung konstruiert und aus internationalen Vorbildern abgeleitet. Um Mißverständnisse auszuschließen, betone ich, daß die Dekonstruktion eines Begriffes nicht verleugnet, daß es in einer durch internationale Verflechtung bestimmten Gesellschaft, die meint, das Drogenproblem nur durch Repression bewältigen zu können, durchaus auch schwere Formen von sozialschädlichem Verhalten (z. B. internationale Wirtschaftskriminalität, Umweltkriminalität, Waffenhandel) gibt.
Eine abstrakte Bedrohungsvokabel
Die deutsche Diskussion versucht an US-amerikanischen Vorbildern anzuknüpfen. Diese Vorbilder haben den real historischen Hintergrund der Prohibition in der Geschichte der zwanziger Jahre. Aber auch die sozial, politisch und national spezifizierten Gebilde der italienischen Mafia, Cosa Nostra etc. werden – ihrer Inhalte entkleidet – in Beschlag genommen. Die aus den USA bekannten Bandenkriege wurden in der Rezeption der amerikanischen Kulturindustrie selbst zum Mythos stilisiert und standen am Beginn immer wieder neu erklärter Kriege gegen Drogenhandel und Kriminalität. Diese Kriege und die Vermittlung von law and order waren stets wahlstrategische Nagelproben für machtbewußte Politiker.
„Organized Crime“ ist das Produkt einer Kulturindustrie, die die Legende des Al Capone in Serien- und Filmkitsch pflegt, und gleichzeitig das Instrument einer militärisch aufgerüsteten Sicherheitspolitik. Trotz aller Aufrüstung bleiben Drogenhandel und Korruption in den USA als soziale Problemlagen bestehen. Trotz des evidenten Irrtums, durch die Militarisierung der inneren Sicherheit soziale Konflikte lösen zu können, hat die deutsche und europäische Kriminalpolitik dieses mangelbehaftete Modell innerer Sicherheit importiert. Das Vorhandensein organisierter Kriminalität nachzuweisen wird allerdings durchaus als Problem erkannt.
Das Kriminaljustizsystem wird damit zum Erhebungsinstrument einer absurden, weil tautologischen Erhebung: Je weniger man findet, um so stärker wird der Druck auf die Strafrechtsordnung, die vorhandene Hypothese des organisierten Verbrechens unter Beweis stellen zu müssen. Nichts wäre schlimmer als das Eingeständnis, daß die politische Begründung für die Abschaffung rechtsstaatlicher Prinzipien ohne die suggerierte empirische Grundlage bleibt. Die Hypothese dient als Begründung von Strafrechtseingriffen, in der rational unbegründeten Hoffnung, daß sie sich schon als richtig herausstellen werde. Organisierte Kriminalität hat den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. So leichtfertig wird das rechtsstaatliche Strafrecht politisch gelenkten Erkenntnisinteressen untergeordnet.
Als empirische Begründung nachgerade hilflos wirkt die BKA-Aussage, daß die seit 1991 bearbeiteten 2844 Ermittlungsverfahren eindeutig das Vorhandensein Organisierter Kriminalität belegten. Bereits in der kriminologischen Einführung des ersten Semesters wird Jurastudenten vermittelt, daß von kriminellem Verhalten erst nach einem rechtskräftigen Urteil gesprochen werden kann. Das Trichtermodell strafrechtlicher Verarbeitung abweichenden Verhaltens vermag zu verdeutlichen, daß das Kriminaljustizsystem einen Großteil seiner Verfahren noch vor dem Urteil erledigt. Der Beginn eines Ermittlungsverfahrens kann vielleicht belegen, daß die Ermittlungsbehörde bei der Erforschung eines inkriminierten Verhaltens aktiv war, nicht aber den Kriminalitätsgehalt des erforschten Sachverhalts selbst.
Legt man ökonomische und politische Strukturen zugrunde, wird die gesamte Unschärfe des Begriffes der Organisierten Kriminalität nochmals deutlich. Die Grenzen zwischen abweichendem und normkonformem Verhalten sind gerade auf dem Unternehmenssektor fließend. Wenn man Kartellabsprachen und Korruptionsaffären der letzten Jahre betrachtet, stellt man fest, daß es völlig legale Unternehmen waren, die zu verbotenen ökonomischen Mitteln gegriffen haben. Im Kriminaljustizsystem kommt fast niemand auf den Gedanken, hier von Organisierter Kriminalität zu sprechen. Dieser Begriff taugt nicht für eine auch nur annähernde Beschreibung der Strukturprobleme, die er erfassen soll. Er reduziert vielmehr bewußt deren Komplexität. Seine Verwendung entbindet von der Verantwortung, als risikobehaftet erkannte Strukturen politisch, d. h. unter demokratischem Diskurs und Handeln zu reformieren. Der kriminalpolitisch vorherrschende Bedeutungsinhalt des Kürzels „OK“ lenkt somit von den realen Strukturproblemen in Gesellschaft und Ökonomie ab.
Historischer Rückblick
Dieser aktuelle kriminalpolitische Zustand ist nicht neu. Der Begriff der Organisierten Kriminalität steht in der Kontinuität von Begriffen, die Staat, Gesellschaft, Politik und Rechtsprechung als Hebel gebraucht haben, um die Idee des rechtsstaatlichen Strafrechts, die in der Ausgewogenheit von gesetzlich gesicherter Freiheit und Effizienz bestand, schrittweise aus den Angeln zu heben. Es sind drei Elemente, die die Bedeutung dieser Begriffe kennzeichnen:
(1) Zum einen werden gesellschaftliche Problemlagen, die einer politischen Lösung harren, strafrechtlich übersetzt, indem man Rechtsgüter schafft, deren Inhalt in Verkürzungen des Problems selbst besteht.
(2) Das Rechtsgut korrespondiert zum anderen mit Personen, die als bedrohlich für seine Existenz gelten.
(3) Letztlich: Bedrohtes Rechtsgut und bedrohende Person verlangen aus der Sicht der Politik nach Maßnahmen, die sich theoretisch mit Ausprägungen staats- und strafrechtlicher Präventionsbegründung zu legitimieren versuchen.
Im Kaiserreich, vor allem aber in Weimar bilden sich Tätertypen heraus. Der Tätertypus ist ein Element staatlicher Reaktion im Umgang mit strukturellen Problemlagen. Er dient einer konkret-individuellen Personalisierung dieser Problemlagen. Er wird empirisch unter dem Gebot des folgenorientierten Strafrechts begründet und hat die Verschärfung des Strafrechts in seinem Rücken. Der Topos vom Vertrauen des Bürgers in die Rechtsordnung sichert die Kriminalisierung der Tätertypen präventionstheoretisch und gesellschaftspolitisch ab.
Im Kaiserreich ging es noch um den gemeingefährlichen Sozialdemokraten, in Weimar dann um den Republikfeind, den Wucherer, den Inflationsgewinnler. Parallel dazu entwickelten sich mit dem Schutz der Republik und der Wirtschaftsordnung neue Rechtsgüter. Die Entwicklung von Tätertypen und die Definition struktureller Problemlagen, denen strafrechtlich begegnet werden sollte, waren miteinander verschränkt. So wurden in Anbetracht der ersten, ökonomisch schwerwiegenden Krise Weimars im Jahre 1923 die Tatbestände des Wuchers und – im Nebenstrafrecht – der Preistreiberei und des sogenannten „Kettenhandels“ eingeführt. Beide Tatbestände verweisen auf inflationär bedingte Wirtschaftsmechanismen, die einzelne Personen zur Gewinnoptimierung nutzten. Der Tätertyp wird in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts zu einem salonfähigen politischen Begriff. Machtpolitisch opportune Strafrechtswissenschaft macht ihn sich zu eigen.
Der Tätertypus entwickelt sich weiter in die Figur des gefährlichen Gewohnheitsverbrechers. Sie verkörpert einen Täter, der zu seiner Tat durch die Betätigung seiner bösen Gesinnung kam. Die Figur erlaubt all das, was der autoritären NS-Herrschaft politisch unerwünscht war, über die neu entstandene Spur des Maßregelvollzuges wegzusperren, abzusondern. Untersuchungen zum gefährlichen Gewohnheitsverbrecher sind scheinbar um Tatsachen bemüht. Sie setzen sich mit körperlichen Merkmalen, ethnischer Herkunft und Gesinnungscharakteristika auseinander. Sie sind empirisch absurd und verdecken, daß mit dem Gewohnheitsverbrecher eine mythische Figur geschaffen wurde, die dem NS-Staat bürgerlich-autoritäre Politik- und Wissenschaftsansätze schmackhaft machen und die vollständige Abschaffung des zuvor schon durchlöcherten rechtsstaatlichen Strafrechts begründen sollte. Der Gewohnheitsverbrecher beschreibt kein sozial existentes Phänomen, sondern personifiziert den gedachten Feind des politischen Systems.
In der deutschen Nachkriegsgeschichte werden gesellschaftliche Problemstrukturen nicht länger personalisiert, dafür aber auf eine allgemeine Bedrohungsebene gehoben. Die Organisierte Kriminalität ist die Verkleidung für unbekannte Strukturen, der Rettungsanker für ungenaues Wissen. Als Zufluchtsort für demokratische Reformunfähigkeit täuscht er politische Gestaltung bloß vor. Organisierte Kriminalität ist eine historisch gewachsene Ausrede der Politik, die das Kunststück beinhaltet, die eigentlichen problembehafteten Strukturen einer Gesellschaft ungelöst zu belassen und dennoch den Kampf um Ordnungskompetenz gewinnen zu können.
Funktionen des Begriffs
Empirisch unbegründet und mit antiliberalen Tendenzen versehen, erhält der Begriff der Organisierten Kriminalität seine Legitimation durch die machtpolitischen Interessen derer, die ihn verwenden und rezipieren. Die Begriffsinteressenten und -rezipienten finden sich in Politik, Polizei und Justiz.
a) Politische Interessen: Die Politik hält Ausschau nach Kommunikationsmedien. Wahlen werden mit Klischees gewonnen, Differenziertheit stört bei der Kommunikation zwischen Parteien und Wählern. Komplizierte Sachverhalte zu vermitteln wird trotz der Zunahme an Informationsmöglichkeiten immer schwieriger. Sind Klischees aus Realität und Unterhaltungsindustrie erst einmal durch die veröffentlichte Meinung eingeführt, werden sie für die Politik hochattraktiv. Organisierte Kriminalität wird zu einem vorrangigen Wahlkampfthema, und es entsteht ein parteipolitisches Wettrennen um die subtilsten Bekämpfungsstrategien.
b) Polizeiliche Interessen: Diese werden deutlich an dem Erfolg, den der Begriff für die Machtstellung der Polizei innerhalb des Kriminaljustizsystems bedeutet. Die Polizei mobilisiert – organisationstheoretisch durchaus plausibel – Ressourcen, die ihr ansonsten kaum zur Verfügung gestellt werden. Der Haushaltsgesetzgeber kann sich den Forderungen, Organisierte Kriminalität zu bekämpfen, kaum entziehen. Der Preis ist – wie ehemals bei der Terrorismusbekämpfung – die Umschichtung von Sach- und Personalmitteln innerhalb der Polizei, und zwar zu Lasten der Sektoren, die sich den modernen Anforderungen der Kriminalitätskontrolle nicht zu stellen haben.
c) Juristische Interessen: Dem Kriminaljustizsystem liefert der Begriff der Organisierten Kriminalität die Legitimation, das Strafverfahren von angeblich komplizierenden und verfahrensbehindernden normativen Elementen zu bereinigen. Dies wird vornehmlich unter dem Aspekt der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege diskutiert und judiziert. Diverse Gesetzesreformen der jüngsten Zeit haben das Ermittlungsverfahren zu einem Geheimverfahren umgestaltet, unbeteiligte Dritte in einem bisher ungekannten Ausmaß dem staatlichen Ermittlungsapparat ausgeliefert und insgesamt Grundrechte ausgehöhlt. Das Strafverfahren verkümmert zu einem Produkt exekutivischer Allmacht.
Angesichts der allseitig politischen Nützlichkeit des Begriffs Organisierte Kriminaltät ist zu erwarten, daß die Zerstörung der Grundlagen eines rechtsstaatlichen Strafrechts noch keinesfalls an einem Endpunkt angelangt ist.