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Gefährliche Orte - Bürger­rechte in der Präven­ti­ons­falle

Manfred Mahr

Grundrechte-Report 1998, S. 222-226

Mitte der siebziger Jahre wurde mit der Einführung des § 129 a StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen) ein Ermittlungstatbestand eingeführt, der den ursprünglichen Sinn des Strafrechts aushebelte. In Verknüpfung mit § 129 StGB (Bildung krimineller Vereinigungen) wurde eine Handlungsstrategie eingeleitet, Straftaten bereits weit im Vorfeld der Vorbereitung konkreter Handlungen begründen zu können. Tausende Verfahren wegen „Unterstützung“ oder „Werbung“ für eine terroristische Vereinigung sprechen Bände: „über 95 % der Betroffenen wurden mit ergebnislosen, einschüchternden, eventuell jahrelangen Ermittlungsmaßnahmen, überproportional auch mit Untersuchungshaft, überzogen“ (vgl. BAG Kritischer Polizistinnen und Polizisten, 1989, S. 4.)

Der Frontalangriff auf den Rechtsstaat fand Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre seine Fortsetzung mit den einsetzenden Novellierungen der Länderpolizeigesetze. Auch hier fand ein Systembruch statt: Während ursprünglich die Polizei nur bei konkreten Gefahren einschreiten durfte, wird sie jetzt bereits weit im Vorfeld konkreter Gefahren aktiv. Die Diskussion über sogenannte „ereignisunabhängige Kontrollen“ (vgl. dazu den Beitrag von Denninger in diesem Band), die vor zwanzig Jahren angehenden Polizeibeamten noch als rechtsstaatswidrige Todsünde vermittelt wurde, ist fast müßig geworden. In der Polizeipraxis finden sie heute bereits in jedem Bundesland statt. Da mittlerweile in allen Landespolizeigesetzen die Überprüfung von Personen an sogenannten „gefährdeten Objekten“ oder „gefährlichen Orten“ vorgesehen ist, diese aber allein aufgrund der Definitionsmacht der Polizei zu solchen erklärt werden (können), erübrigt sich in der Praxis jede juristische Spitzfindigkeit. Hier gilt allemal das in Polizeikreisen kolportierte ungeschriebene Gesetz, daß fast alles möglich sei – man müsse sich nur eine gute Begründung einfallen lassen.

Das heute geltende Polizeirecht hat eine Situation geschaffen, die betroffenen Bürgern kaum noch Möglichkeiten bietet, sich im Einzelfall gegen willkürliches Polizeiverhalten zur Wehr zu setzen, weil es sich formal hinter geltenden Rechtsvorschriften verschanzen kann. Wie hier die Mechanismen ablaufen können, hat der Parlamentarische Untersuchungsausschuß „Hamburger Polizei“ eindrucksvoll aufgezeigt (vgl. Drucksache der Hamburgischen Bürgerschaft 15/6200). Völlig unterschätzt wird von Juristen, welche Wirkungen Gesetzesformulierungen auf die Rechtsanwender ausüben, welche Signale an sie ausgesendet werden. Nur ein Beispiel: Mit der scheinbar harmlosen Vorschrift, daß rechtmäßig erhobene Daten mit dem Fahndungsbestand abgeglichen werden können, werden Bürger, die mit der Polizei in Kontakt geraten, praktisch zu potentiell Verdächtigen erklärt. Dieser psychologisch begründete Prozeß läuft unterschwellig und nur in den wenigsten Fällen bewußt ab. Diese vergleichsweise harmlose Vorschrift vermittelt ungewollt die Grundintention der sogenannten „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“, wie es klarer eigentlich nicht dargestellt werden kann. Liegen Vorwürfe gegen Polizeibeamte wegen willkürlichen Verhaltens und Machtmißbrauch vor, reagieren Regierungsverantwortliche in der Regel entweder damit, daß Sachverhalte heruntergeredet werden, oder es erfolgt (bei klarer Beweislage) ein Hinweis, daß auf „Vollzugsdefizite“ im Rahmen des Dienstunterrichts eingegangen werde. Sind die Vorwürfe gravierender, werden auch schon mal Ausbildungsreformen bei der Polizei angekündigt. Nur kann keine Polizeiausbildung langfristig die nachhaltig negative Wirkung von Gesetzesformulierungen ausgleichen, die den polizeilichen Adressaten grundsätzlich zum Verdächtigen stempeln, aber doch täglich angewendet werden müssen.

Ein Beispiel aus Hamburg, das ich im September 1997 zum Gegenstand einer Kleinen Anfrage an den Hamburger Senat gemacht habe (Drucksache 15/8049 vom 26. 09. 97):

Paulo S. ist als Streetworker bei dem Präventionsprojekt Hein&Fiete beschäftigt. Er befand sich mit seinem Freund gegen 2.17 Uhr auf dem Nachhauseweg. Als sie mit ihren Fahrrädern von der Rentzelstraße in die Lagerstraße abbogen, kam plötzlich von hinten ein Zivilfahrzeug mit hoher Geschwindigkeit herangerast. Die Fahrzeugtüren wurden noch während der Fahrt aufgerissen und die beiden jungen Männer „mit einer Stange“ bedroht. Aus Angst vor einem schwulenfeindlichen oder rassistischen Übergriff versuchten sie daraufhin zu entkommen. Herr S. wurde zu Fuß verfolgt und hielt an, als er merkte, daß sein Freund nach einer Kollision mit dem Fahrzeug der unbekannten Männer gestürzt war. Herr S. wurde dann mit dem Gesicht auf die Fahrbahn gedrückt und durfte sich nach eigener Einschätzung zehn Minuten nicht bewegen. Erst jetzt klärte sich langsam für die beiden Männer, daß sie von Polizeibeamten festgenommen worden waren.

Die Antwort des Senats weist aus, daß die gesamte Polizeiaktion ein Mißverständnis war. Eine etwa zwanzig Minuten vorher stattgefundene Sachbeschädigung in der drei Kilometer entfernten Innenstadt mit äußerst vagen Fahndungshinweisen auf zwei Personen mit Fahrrädern, Baseballkappen und dunkler Kleidung reichte aus, um über die beiden jungen Männer herzufallen, als seien sie gesuchte Schwerverbrecher. Die Polizisten hatten sich zuvor weder ausgewiesen noch waren sie durch ihr Verhalten als solche erkennbar. Für die Beamten war die Sache klar: „Halt! Jetzt haben wir euch!“ Mit diesen Worten wurden die beiden Männer überwältigt. Nach Angaben der beiden jungen Männer fühlten sie sich auch durch die anschließende Behandlung am Polizeirevier (Unterbringung in Zellen bis zum nächsten Vormittag, Entkleidung vor Beamten, rüde Ansprache) zutiefst erniedrigt. Die Beschwerde ist mittlerweile Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens gegen die drei Beamten wegen Verdachts der Freiheitsberaubung und Körperverletzung im Amt geworden.

Wenn man den Beamten zugute hält, daß ein Anhalten und eine (ergebnisoffene!) Überprüfung vielleicht noch gerechtfertigt war, läßt die Art der Durchführung eine Grundhaltung zutage treten, die die „Verdächtigen“ schon verurteilt hatte. Wer zudem als verdeckt eingesetzter Beamter nicht Sensibilität besitzt, sich im Einzelfall eindeutig als Polizeibeamter erkennen zu geben, und dann auch noch erwartet, daß der polizeiliche Adressat vor ihm strammsteht, geht davon aus, daß ihm eigentlich nichts passieren kann. Nur wenige von Polizeihandlungen negativ betroffene Bürger beschweren sich, zumal wenn es sich um Personen mit geringer Beschwerdemacht handelt. Vergleichbare Sachverhalte habe ich wiederholt zum Gegenstand parlamentarischer Anfragen gemacht. In Einzelfällen war erkennbar, daß die Anfragen innerdienstlich etwas bewirkt haben, in vielen Fällen stand Aussage gegen Aussage. Häufig mußte Beschwerdeführern abgeraten werden, daß man ihren Fall öffentlich macht, weil sich dann der Druck auf sie noch verschärft hätte. Legt man im dargelegten Fall noch als harmlosestes Motiv das sogenannte „Jagdfieber“ zugrunde, bleiben doch gleichwohl die Auswirkungen verheerend: Menschen geraten in vergleichbaren Fällen in Gefahr, von Polizeibeamten durch konkludentes Handeln erkannt, ermittelt, überwältigt und verurteilt zu werden. Nur selten hat man die Möglichkeit, derartigen Beschwerden systematisch auf den Grund zu gehen.

Abschließend bleibt festzuhalten: Vieles spricht dafür, daß die straf- und polizeirechtlichen Gesetzesnovellierungen der letzten Jahre mit ihren zum Teil verdeckten Intentionen einen erheblichen Anteil an einem praktizierten Polizeiverständnis haben dürften, das Bürger zu schnell zu potentiellen Verdächtigen abstempelt. In vielen Fällen wähnen sich Polizeibeamte durch weit auslegbare Rechtsvorschriften gedeckt. Nur wenn sich Menschen mit Beschwerdemacht zur Wehr setzen, kann im Einzelfall polizeiliches Fehlverhalten offengelegt werden. In den meisten Fällen bleibt es unentdeckt (vgl. hierzu die Untersuchungen des Ausschusses „Hamburger Polizei“, Drucksache 15/6200).

Die Ausstrahlung der geltenden Gesetze mit ihren verdeckten Intentionen gebiert mitunter eine polizeiliche Praxis, die eine unabhängige Kontrollinstanz unverzichtbar macht. In Hamburg haben Bündnis 90/Die Grünen jetzt bei den Koalitionsverhandlungen eine gesetzlich verankerte unabhängige Polizeikontrollkommission durchgesetzt. Leider beharrt die SPD darauf, daß diese Kommission ehrenamtlich tätig werden soll. Sollte sich aufgrund dieser strukturellen Vorgabe ihre Ineffektivität erweisen, wird in einem zweiten Anlauf die Professionalisierung dieser neuen Einrichtung in Angriff genommen werden müssen.

Literatur:

BAG Kritischer Polizistinnen und Polizisten, Das politische Strafrecht – Anfang vom Ende der bürgerlichen Freiheitsrechte? Privatdruck, Hamburg 1989.

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