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Verfas­sungs­schutz­be­richte als Staats­pro­pa­ganda. Hoheitliche Verrufs­er­klä­rungen I

Jürgen Seifert

Grundrechte-Report 1998, S. 287-290

Vor drei Jahrzehnten haben Sozialdemokraten durchgesetzt, daß die bisher „internen“ Berichte von Verfassungsschutzbehörden über extremistische Bestrebungen jeweils vom zuständigen Innenminister vorgestellt und veröffentlicht wurden. Das stand im Zusammenhang mit der Entscheidung der damaligen Großen Koalition, weder die neugegründete DKP noch die NPD (samt Hilfsorganisationen) zu verbieten. Verfassungsschutzberichte sollten Instrument einer „geistigen Auseinandersetzung“ sein, zugleich diejenigen „Bestrebungen“ nennen, die von den Ämtern als „verfassungsfeindlich“ angesehen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat 1975 die Klage der NPD gegen die Einstufung als „verfassungsfeindlich“ zurückgewiesen und diese als nicht justiziables „Werturteil“ des Ministers bezeichnet. Das hat die Verwaltungsgerichte (bis hin zum Bundesverwaltungsgericht) nicht gehindert, solche Rubrizierungen zur Grundlage von Entscheidungen über „Berufsverbote“ zu machen.

Diese rechtliche Grauzone, in der Verfassungsschutzberichte erscheinen, hat sich auf den Inhalt ausgewirkt. Selbst Insider beklagen unterschiedliche „Akzentsetzungen“ verschiedener Berichte (zwischen einzelnen Ländern, aber auch gegenüber dem Bund) und einen Tribut an den „Zeitgeist“. Unbestreitbar ist, daß die Verfassungsschutzberichte zu der Auffassung beigetragen haben, Aufgabe dieser Geheimdienste sei die „geistig-politische Bekämpfung extremistischer Organisationen“. Doch ein Blick ins Grundgesetz (Art. 87) und in die Gesetze zeigt, daß die Aufgabe des Verfassungsschutzes auf die „Sammlung und Auswertung von Auskünften, Nachrichten und sonstigen Unterlagen“ über spezifische „Bestrebungen“ beschränkt ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind solche „Bestrebungen“ nur dann als „verfassungsfeindlich“ anzusehen, wenn zu einer „verfassungsfeindlichen Zielsetzung“ auch eine „verfassungsfeindliche Betätigung“ kommt. Ein verfassungsfeindliches Ziel allein (Beispiel: Wahl eines Hohenzollern zum Bundespräsidenten auf Lebenszeit) macht eine Bestrebung dann nicht „verfassungsfeindlich“, wenn dieses Ziel auf verfassungsmäßigem Weg durchgesetzt werden soll. Jeder Staatsanwalt weiß, daß bis zum gesetzlichen Nachweis einer Schuld die Unschuldsvermutung für den Beschuldigten gilt. Die Verfasser von Verfassungsschutzberichten fühlen sich häufig an solche Gebote von Rechtsstaatlichkeit nicht gebunden. Die Kategorie „geistige Auseinandersetzung“ gilt vielfach als Legitimation zu staatlicher Propaganda. Das zeigt folgendes Beispiel.

Am 9. Januar 1997 haben 27 Erstunterzeichner aus Ost- und Westdeutschland in Erfurt eine Erklärung „Verantwortung für die soziale Demokratie“ der Öffentlichkeit übergeben, die zu einer „außerparlamentarischen Bewegung“ gegen Massenarbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit aufrief. Die Erklärung forderte eine „andere Politik“ und eine „andere Regierung“ und schloß mit dem Appell an SPD, Bündnis90/Die Grünen und PDS: „Sie dürfen der Verantwortung nicht ausweichen, sobald die Mehrheit für einen Wechsel möglich ist.“

Es gibt in dieser Erklärung keinen Anhaltspunkt für eine „verfassungsfeindliche Zielsetzung“. Politisch bleibt zu fragen: Wird der Aufruf zu einer außerparlamentarischen Bewegung nicht durch die Aussage über eine zukünftige Regierungsbildung zurückgedrängt? Dieser Widerspruch deutet auf Kompromisse und auf unterschiedliche Interessen. Was macht der Verfassungsschutzbericht aus Bayern (1. Halbjahr 1997, S. 22 f.) aus der Erklärung? Zunächst wird zugestanden, daß „solche Appelle … Forderungen erheben, die für sich betrachtet auch von Demokraten vertreten werden können“. Das heißt, die Ziele sind nicht „verfassungsfeindlich“. Sind es die Aktionsformen, zu denen aufgerufen wird? Auch dafür gibt es keine Anhaltspunkte.

Der Bayerische Verfassungsschutz weiß sich zu helfen. Die Kategorien verfassungsfeindlicher Zielsetzung und Betätigung werden ersetzt durch andere Konstruktionen:

1. Analogievorwurf: Die Erfurter Erklärung, heißt es, „zeige in ihrer Anlage Parallelen zum Krefelder Appell 1980, der bislang erfolgreichsten Kampagne orthodoxer Kommunisten“. Die bloße Behauptung genügt – die Tatsache bleibt ausgeklammert, daß es sich vor 17 Jahren um andere Akteure und einen anderen Inhalt handelte.

2. Konsensschuld: Es gilt als belastend, daß die Erklärung von der PDS und der DKP „begrüßt“ und daß sie im Neuen Deutschland abgedruckt und „kommentiert“ worden ist. Bewußt unterdrückt wird dabei, daß auch andere politische Richtungen sich positiv zu dieser Erklärung geäußert haben und daß der Text auch in der Frankfurter Rundschau und der tageszeitung zu lesen war.

3. Kontaktschuld: Es wird behauptet: „Zehn Personen waren bereits vor 1989 als zum Teil lange Unterstützer und Bündnispartner linksextremistischer Kampagnen bekannt. Überwiegend standen sie der DKP nahe.“

Namen werden nicht genannt. Ich habe folgende westdeutsche Unterzeichner notiert: Die Professoren Elmar Altvater, Rudolf Hickel, Walter Jens, Peter von Oertzen, Norman Paech, Horst-Eberhard Richter, Dorothee Sölle und Uwe Wesel; die Schriftstellerinnen und Journalisten Max von der Grün, Dieter Lattmann, Erika Runge, Eckart Spoo, Gerhard Zwerenz sowie die Gewerkschafter Gisbert Schlemmer (Vorsitzender Holz und Kunststoff) und Horst Schmitthenner (Vorstand IG Metall).

Diese „Erstunterzeichner“ gehören zum linken Spektrum; nahezu alle haben sich aber durch ihre unabhängige und differenzierte Position einen Namen gemacht. Jeder, der zu einer politischen Analyse fähig ist, weiß, daß es blanker Unsinn ist, zehn von ihnen der DKP zuzurechnen. Doch der Verfassungsschutz in Bayern verfährt nach dem seit 1956 (dem Verbot der KPD) entwickelten Muster, „Tarn- oder Hilfsorganisationen“ zu bestimmen: Drei oder vier in Dateien erfaßte „Fellow traveller“ in einem Verein genügen, um alle anderen in Verdacht zu bringen. Man hat bis 1990 jeden Kritiker gegen die Frontstellungen des Kalten Krieges in Dateien gespeichert; sieben Jahre danach sind diese nicht gelöscht – statt dessen werden damit die alten Schlammschlachten fortgesetzt.

Die Einladung von Manfred Roeder, einer Symbolfigur des Rechtsextremismus, in die Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr hat deutlich gemacht, daß in Ministerien des Bundes die Verfassungsschutzberichte selbst dann nicht ernst genommen werden, wenn diese das Niveau bloßer Propagandatexte dadurch überschreiten, daß sie präzise Hinweise auf nachgewiesene rechtsextremistische Betätigung enthalten. Manfred Roeder war wegen solcher Taten rechtskräftig verurteilt worden und wurde in Verfassungsschutzberichten genannt. Dennoch wurde er zu _einem Vortrag geladen. Das Thema „Die Übersiedlung von Rußlanddeutschen in den Raum Königsberg“ hätte Vorsicht geboten, wenn es in der Führungsakademie eine Spur politisch-demokratischer Bildung geben würde. Doch die Verantwortlichen stellten keine Nachforschungen an; als der Hintergrund des Redners bekannt wurde, hieß die Parole: Schwamm drüber. Für Rechtsextremisten gibt es nicht nur Verjährung, sondern eine positive Unbedenklichkeitserklärung des Verfassungsschutzes: Roeders Verein werde nicht mehr als verfassungsfeindlich eingestuft.

Wer diese Beispiele sorgfältig analysiert, muß die Frage stellen: Ist es nicht an der Zeit, Geheimdiensten das Propagandainstrument zu entziehen, zu dem sich Verfassungsschutzberichte entwickelt haben, wenn selbst Ministerien sie als Propagandaschriften behandeln? Geistige Auseinandersetzung ist nicht möglich in der Form hoheitlicher Verrufserklärungen in einer Grauzone des Rechts.

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