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Beweis­si­che­rung durch Brech­mit­te­l­ein­satz

In: Grundrechte-Report 1999, Seiten 37 – 41

Der Zweck heiligt nicht alle Mittel, so akzeptabel er auch sein mag. Diese Grundregel eines humanen Rechtsstaates ist bei manchen Ministern, Staatsanwälten und Polizisten etwas in Vergessenheit geraten. Jedenfalls praktizierten einzelne Strafverfolgungsbehörden auch 1998 wieder den Zwangseinsatz von Brechmitteln gegen mutmaßliche Rauschgifthändler, um verschluckte Dealerware als Beweismittel sicherzustellen. Nicht nur „amnesty international“ hält dieses Verfahren für „grausam, unmenschlich und erniedrigend“.

Wenn junge Ausländer zum Beispiel in Bremen bei Straßenkontrollen auffällige Schluckbewegungen machen und womöglich noch mit Cola nachspülen, geraten sie schnell in den Verdacht, daß sie gerade Kokainpäckchen verschwinden ließen. Die Polizei verfrachtet sie dann zur Wache, wo sie sich nackt ausziehen müssen und überall durchsucht werden, auch im Anus. Dann werden sie von einem Gerichtsmediziner mit polizeilicher Unterstützung gezwungen, den Brechsirup „Ipecacuanha“ zu trinken. Wer nicht spurt, wird festgehalten oder gefesselt und bekommt das Mittel zwangsweise eingeflößt: per Schlauch durch die Nase in den Magen. Die Folge ist wiederholtes Erbrechen, in Einzelfällen tagelang.

Vor 1995, als noch Polizeiärzte statt Gerichtsmediziner die Bremer Einsätze leiteten, wurde „Ipecacuanha“ zusammen mit Abführmitteln eingeflößt, was besonders heftig wirkte. Zeitweilig setzten die Polizeiärzte auch das umstrittene Brechmittel „Apomorphin“ ein, das per Spritze verabreicht wird.

Allein in Bremen mußten seit 1992 Hunderte von Verdächtigen die Prozedur über sich ergehen lassen, vor allem Schwarzafrikaner. Wie die Innenbehörde im September 1998 mitteilte, wurden 1997 in fast drei Viertel aller Fälle tatsächlich Drogenpäckchen erbrochen. Das heißt aber auch: Mehr als 25 Prozent der Betroffenen wurden sinnlos dieser Qual unterzogen – entweder weil die verschluckten Rauschgiftbeutel bereits den Darm erreicht hatten oder weil die Opfer unschuldig waren.

Die Hamburger und die Stuttgarter Staatsanwaltschaft sowie die Strafrechtsprofessor(inn)en Edda Weßlau und Lorenz Böllinger halten den Brechzwang bei Kleindealern (und um solche handelt es sich meist) bereits seit Jahren für unverhältnismäßig, also rechtswidrig. Anwälte weisen zudem darauf hin, daß in vielen Fällen ohnehin schon genug Beweise vorlägen und das Erbrochene nicht unbedingt für eine Anklage gebraucht würde.

Mit anderen Begründungsschwerpunkten hat das Oberlandesgericht Frankfurt die Prozedur für rechtswidrig erklärt. In seinem Urteil vom 11. Oktober 1996 (Az. 1 Ss 28/96) stellte der 1. Strafsenat fest, ein Beschuldigter dürfe nicht zur aktiven Mitwirkung bei seiner Überführung gezwungen werden. Die Brechmittelvergabe sei zudem ein „unerlaubter Eingriff in die körperliche Unversehrtheit“ und ein Verstoß „gegen die Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde und gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht“. Es widerspreche der menschlichen Würde, „den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen“. Der betroffene werde unter entwürdigenden Umständen „auf rechtswidrige Weise funktionalisiert und nur mehr dem Zwecke des Hervorwürgens unterworfen“. Die Wahrheit im Strafverfahren dürfe „nicht um jeden Preis“ erforscht werden, mahnten die Frankfurter Richter.

Die Strafverfolger in Hessen und auch in Berlin zogen aus diesem eindeutigen, wenn auch unter Juristen umstrittenen Urteil die Konsequenz, ihre bisherige Praxis aufzugeben. Bremens eigentlich liberaler Justizsenator, Bürgermeister Henning Scherf (SPD), und sein erzkonservativer Innensenator Ralf Borttscheller (CDU) wollen dagegen nicht auf dieses Mittel zur Dealerbekämpfung verzichten. Scherf meint offenbar sogar, daß die Grundrechte nur für rechtstreue Bürger gelten. In einem Interview mit dem Autor sagte er wörtlich: „Die jungen Männer, die sich ihrer Strafverfolgung entziehen wollen, haben mit dieser Art Kriminalität den verfassungsrechtlichen Schutz verlassen, und man muß sie mit vertretbaren Mitteln verfolgen.“

Auch die Staatsanwaltschaft Düsseldorf wendet nach eigenen Angaben den Brechzwang weiterhin an, allerdings nur „vereinzelt“, da sich viele Ärzte dieser Methode verweigern.

Immerhin können sich die Düsseldorfer und Bremer Brechmittel-Verfechter auf entsprechende Entscheidungen ihrer regional zuständigen Gerichte berufen. Deren Begründungen lassen allerdings eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema vermissen. Das OLG Düsseldorf hat 1994 den Brechzwang in nur wenigen Zeilen und ohne große Abwägungen gebilligt. In ähnlich knappen Formulierungen befand das OLG Bremen im Mai 1998, gegen die Prozedur gebe es „keine durchgreifenden Bedenken“, da sie weniger belastend sei als U-Haft bis zum nächsten Stuhlgang. Mit keinem Wort gingen die Bremer Richter dabei auf die ausführlichen Gegenargumente ihrer Frankfurter Kollegen ein.

Die Verfechter übersehen nicht nur die Kollision mit der Menschenwürde, sondern auch die medizinischen Gefahren. Nach Paragraph 81 a der Strafprozessordnung sind bei einem Beschuldigten körperliche Eingriffe zur Beweismittelsicherung erlaubt, „wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist“. Mediziner weisen auf mehrere Gefahren beim gewaltsamen Einführen des Nasenschlauchs hin: Er könnte zum Beispiel die Speiseröhre verletzen oder unbemerkt in der Lunge statt im Magen landen. Der Bremer Hausarzt Hans-Joachim Streicher mußte nach eigenem Bekunden „mehrfach erleben, daß mit Ipecac traktierte Patienten körperlich und seelisch traumatisiert waren“. In einem Fall registrierte er Erosionen der Magenschleimhaut und blutiges Erbrechen über mehrere Tage. Die Bremer Gesundheitssenatorin Christine Wischer (SPD) hatte schon 1995 vergeblich gefordert, Brechmittel nur einzusetzen, wenn Drogenbeutel zu platzen drohten und daher Lebensgefahr bestehe.

Eines der wenigen Zugeständnisse der Bremer Staatsanwaltschaft an ihre Kritiker ist die Anordnung, die Betroffenen vor und nach der Prozedur zu untersuchen. Dies scheint aber nur sehr oberflächlich zu geschehen. Ein häufig eingesetzter Gerichtsmediziner spricht nicht mal Englisch und kann sich daher mit einigen der vorgeführten Ausländer nur schwer verständigen. Nach dem erzwungenen Erbrechen werden die geschwächten Personen dann ohne größere Nachbetreuung auf die Straße gesetzt.

In einem Fall brach ein sechzehnjähriger Schwarzer nach seiner Entlassung vor dem Polizeigebäude zusammen, so daß ein Rettungswagen kommen mußte. Er will zudem bei der Brechmittelvergabe geschlagen worden sein. Auch andere Vorgeführte behaupten, sie seien mißhandelt, schikaniert und beschimpft worden: „Sie behandeln uns wie Tiere.“

Ein fünfzehnjähriger Schwarzer stellte bereits 1994 in einem Protokoll für das Bremer „Anti-Rassismus-Büro“ seine Erlebnisse so dar: „Diese Flüssigkeit schmeckt extrem streng und scheußlich. So scheußlich, daß ich nicht alles trinken kann und einen Teil davon auf den Boden spucke. Plötzlich packt mich der Polizeiarzt an den Haaren und drückt und zieht mich mit Gewalt auf die Liege, auf der ich sitze. Dabei schlägt er mir immer wieder mit der Faust ins Gesicht und auch auf die Augen. Auch einer der beiden Polizisten schlägt mir mit der Faust ins Gesicht, der andere auf den ganzen Körper. Sie fesseln mich mit Plastikbändern an den Armen und Beinen. Der Arzt hat plötzlich einen Schlauch in der Hand und schiebt ihn mir in die Nase (…). Ich schreie, daß ich kein Dealer bin und ob sie mich umbringen wollen. Ich habe Todesangst (…). Das Blut läuft mir aus der Nase (…). Ungefähr eine halbe Stunde lang kotze ich immer wieder (…). Sie finden nichts.“

Da bisher alle beschuldigten Beamten rechtswidrige Übergriffe bestritten haben, endeten alle Strafanzeigen gegen sie mit einer Einstellung des Verfahrens. Als sich deshalb in einem Fall ein Anwalt beim Generalstaatsanwalt beschwerte, beschied dieser ihn Anfang 1998 denkbar knapp: Er weise die Beschwerde gegen den Einstellungsbescheid „aus dessen zutreffenden Gründen“ zurück. Kein einziges Wort zu der sechzehnseitigen Argumentation des Anwalts, in der er die Aussagen der Beamten zu widerlegen suchte. „amnesty international“ hatte schon bei früheren Mißhandlungsvorwürfen gerügt, Ermittlungen gegen Bremer Polizisten würden „allem Anschein nach weder umfassend noch unparteiisch geführt“. Ein Anwalt drückte es so aus: Staatsanwälte, die sonst eher unnachgiebig seien, hätten „Beißhemmungen gegenüber der Polizei“. Da hat er wohl recht. 

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