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Gen-Da­teien: Auf dem Weg zum entsch­lüs­selten Menschen

In: Grundrechte-Report 1999, Seiten 42 – 48

Am Pfingstwochenende des vergangenen Jahres wird Ronny R., Mörder der elfjährigen Christina N. sowie der dreizehnjährigen Ulrike E., von der Polizei gefaßt. Nicht nur den Angehörigen der Opfer verschafft die Ergreifung des Täters eine gewisse Genugtuung, eine ganze Gesellschaft atmet auf. Am 27. November 1998 verurteilt das Landgericht Oldenburg den dreißigjährigen Ronny R. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.

Mit der Fußballelf zum Speichel­test

Vorausgegangen war der Ergreifung des Täters die größte DNA-Massenuntersuchung in der Kriminalgeschichte der BRD. Rund 18 000 Männer aus der Region Cloppenburg waren dazu aufgerufen, sich von der Polizei „freiwillig“ eine Speichelprobe entnehmen zu lassen. Bereitwillig leistete der überwiegende Teil der Aufgerufenen „Bürgerhilfe“. Ganze Fußballmannschaften und Kegelclubs traten geschlossen an und erklärten, die Teilnahme sei eine Selbstverständlichkeit. Man habe schließlich „nichts zu verbergen“.

Unter Ausnutzung des kollektiven Volkszorns gegen einen Einzeltäter und des Mitleids für die „kleine Christina“ umgingen die Ermittlungsbehörden elegant den verfassungsrechtlich verankerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Zwar betonten sie immer wieder, die Teilnahme am Speicheltest sei freiwillig, gleichzeitig verwies die Polizei aber darauf, sie werde bei denjenigen nachhaken, die der Aufforderung nicht nachkämen. Der in vielen Fällen ausgeübte Gruppenzwang tat ein übriges. Wer konnte es sich unter diesen Umständen wirklich erlauben, als einziger aus der Fußballelf nicht zum Test zu gehen? Die aufgebrachte Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung half jedoch nicht nur den Cloppenburger Ermittlern, Tausende zum „freiwilligen“ Speicheltest zu zwingen. Das Klima eröffnete den Strategen der inneren Sicherheit auf Bundesebene die Möglichkeit zu einer weiteren Grundrechtsdemontage.

Errichtung einer zentralen Gendatei beim BKA  

Unter Berufung auf das Schicksal der „kleinen Christina“ gelang es einer großen Koalition aus Regierung und Opposition, beim Bundeskriminalamt (BKA) eine zentrale DNA-Datei für bestimmte Straftäter einzurichten. Die Inszenierung war gekonnt, das Ergebnis aus rechtsstaatlicher Sicht verheerend.

War zunächst nur davon die Rede, Genprofile von gefährlichen Sexualstraftätern, bei denen Wiederholungsgefahr bestehe, zentral zu speichern, wurde diskret an einem viel weitgehenderen Gesetzentwurf gefeilt. Die Bedenken vor allem der Datenschutzbeauftragten und des Deutschen Anwaltvereins stießen auf taube Ohren. Spätestens mit dem „DNA-Identitätsfeststellungsgesetz“ vom 7. September 1998 (BGBl. I, S. 2646) wurde offenbar, wofür die Schicksale der ermordeten Kinder herhalten mußten.

Das DNA-Idnetitätsfeststellungsgesetz erlaubt:

  • die Entnahme von Speichel oder anderen Körperzellen
  • deren molekulargenetische Untersuchung
  • die zentrale Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters beim Bundeskriminalamt.

Die Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters setzt nicht voraus, daß ein Sexualverbrechen oder ein Mord begangen wurde. Anders als es der Bevölkerung lange Zeit suggeriert wurde, reicht es nach den neuen Vorschriften aus, daß der oder die Beschuldigte einer Straftat „von erheblicher Bedeutung“ verdächtig ist. Hierbei handelt es sich um eine juristisch äußerst schwammige Formulierung. Der Anwendungsbereich des Gesetzes ist auf diese Weise nicht nur erheblich ausgeweitet worden, sondern läßt ganz bewußt die Grenzen der Anwendbarkeit relativ offen. Lediglich beispielhaft nennt das Gesetz unter anderem die gefährliche Körperverletzung sowie den Einbruchsdiebstahl als hinreichend schwere Straftaten. Als zusätzliche Voraussetzung reicht allein die Annahme der Strafverfolgungsbehörde, gegen die Betroffene Person würden wohl auch künftig Strafverfahren eingeleitet werden.

Im Klartext bedeutet das, Daß allein polizeiliche Verdachtsmomente ausreichen, die zentrale Speicherung der Daten beim BKA vorzunehmen, ohne daß sich jemals ein Verdacht bestätigen muß. Um die nunmehr entstehende Datenbank weiter aufzublähen, können auch die bereits verurteilten Straftäterinnen und Straftäter der oben beschriebenen Prozedur unterzogen werden, soweit sie wegen „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ verurteilt worden sind. Was das Gesetz nicht enthält, sind Fristen zur Aufbewahrung oder Löschung der sensiblen Daten. Dagegen ist deren weitere Verarbeitung beim BKA sowie die Weitergabe nicht nur zu Zwecken der Strafverfolgung zulässig.

Bloß ein Finger­ab­druck?

Was aber verbirgt sich eigentlich hinter der molekulargenetischen Untersuchung von menschlichen Körperzellen? Nachgewiesen werden können mit Hilfe der „Polymerase Chain Reaction“ (PCR) zunächst bestimmte Teile der DNA, sogenannte „Short Random Repeats“ (STR). Das sind kurze Abschnitte im menschlichen Erbgut, die zwar jeder Mensch besitzt, die jedoch in ihrer Ausprägung von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind. Mehrere dieser STR liefern ein individuelles Erkennungsmuster. Nach dem augenblicklichen Forschungsstand sind die Bereiche der STR nicht kodierend für besondere Merkmalsausprägungen des Menschen (etwa Augenfarbe). Das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz enthält jedoch keine Beschränkung der Analyse auf diesen nicht kodierenden Bereich der DNA. Vielmehr ist der Gesetzeswortlaut so unklar gehalten, daß auch eine Analyse des kodierenden Bereichs, welcher die menschliche Erbinformation enthält, nicht ausgeschlossen ist. Die Grenzen werden hier nicht mehr durch gesetzliche Vorschriften, sondern durch den jeweiligen Stand der Genforschung bestimmt!

Die massenhafte zentrale Speicherung der gewonnenen Informationen stellt damit einen schwerwiegenden Eingriff in das vom Bundesverfassungsgericht in seinem „Volkszählungsurteil“ entwickelte Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Danach wird der Schutz des einzelnen gegen die unbegrenzte Erhebung und Speicherung persönlicher Daten durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützt. Eingriffe in dieses Recht sind nur in engen Grenzen zulässig. Voraussetzung ist in jedem Fall, daß die Regelungen klar gefaßt sind und das Gebot der Verhältnismäßigkeit beachten. Zwei Voraussetzungen, die das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz nicht erfüllt.

Ein Gesetz wird nachge­schoben

Bemerkenswert ist nicht allein der weitreichende Eingriffscharakter des Gesetzes. Auch seine Entstehung läßt aufhorchen. So ging es bei der Diskussion des Gesetzentwurfes nur am Rande um den Inhalt der neuen Bestimmungen. Statt dessen stand im Mittelpunkt der meisten Medienberichte der Streit zwischen Innen- und Justizressort, ob denn die Errichtung der zentralen Gendatei beim BKA einer speziellen gesetzlichen Grundlage bedürfe. Der nach langem Ringen erreichte Kompromiß bestand darin, die Gendatei sofort zu errichten und die gesetzliche Grundlage nachzuschieben. Eine Vorgehensweise, die mit parlamentarischer Demokratie nicht mehr viel gemein hat.

Das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz ist ein weiterer Baustein im Rahmen einer stetig voranschreitenden Entwicklung auf dem Gebiet der DNA-Analyse zu Zwecken der Strafverfolgung. Bereits im März 1997 hatte mit der Änderung der Strafprozeßordnung die DNA-Analyse im Strafverfahren eine gesetzliche Grundlage erhalten. Danach ist die richterliche Anordnung einer DNA-Analyse völlig unabhängig von Art und Schwere der zur Last gelegten Straftat zulässig. Als gehöre es zum üblichen Gesetzgebungsprozedere, war das heikle Verfahren über Jahre hin ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage angewandt worden. Im März 1997 folgte dann das nachträgliche parlamentarische „Abnicken“. Seither erfreut sich bei Polizei und Staatsanwaltschaft die DNA-Analyse zunehmender Beliebtheit. Selbst in Bagatellfällen einfacher Sachbeschädigung ist sie bereits zur Anwendung gekommen. Einen letzten Schlag gegen den staatlichen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Beschuldigten bieten in diesem Zusammenhang offenbar nur noch die beschränkten finanziellen Mittel der öffentlichen Hand. Mit mehreren hundert Mark liegen die Kosten der DNA-Analyse um ein Vielfaches über denen der Erstellung eines Fingerabdrucks.

Absehbare weitere Verschär­fungen

Die Entwicklung auf dem Gebiet der staatlich verordneten DNA-Analyse wird an dieser Stelle nicht haltmachen. Geplant ist vor allem, nicht nur das Ergebnis der DNA-Analyse zentral zu speichern und die Probe – etwa den Speichelabstrich – zu vernichten, sondern auch die Probe selbst zentral beim BKA aufzubewahren. Dahinter verbirgt sich die Absicht, jeweils dem neuesten Stand der Technik entsprechend Nachuntersuchungen vornehmen zu können. Denn schon in wenigen Jahren wird es nach Ansicht einiger Wissenschaftler möglich sein, anhand der DNA-Analyse äußere Erkennungsmerkmale wie die Farbe der Haare, der Haut und der Augen, möglicherweise auch Charaktereigenschaften und persönliche Anlagen zu ermitteln.

Der Öffentlichkeit werden DNA-Analyse und Gendatei als wirksame Mittel gegen Sexualstraftaten verkauft. Völlig ausgeblendet wird hierbei die tatsächliche Erscheinungsform sexueller Gewalt in unserer Gesellschaft. Während die Zahl sexuell motivierter Morde an Kindern verschwindend gering ist, werden in Deutschland nach Schätzungen von Expertinnen 30 – 50 Prozent aller Mädchen und rund 20 Prozent aller Jungen vor Erreichen der Volljährigkeit sexuell ausgebeutet. In etwa 84 Prozent der Fälle kommen die Täter und Täterinnen aus der eigenen Familie oder dem Bekanntenkreis.

Den Opfern interfamiliärer sexueller Gewalt wird die DNA-Analyse jedoch nicht zu Hilfe kommen. Die Ursachen sexualisierter Gewalt gegen Kinder wird sie weder thematisieren noch zu deren Bekämpfung beitragen. Vielmehr dienen DNA-Analyse und zentrale Gendatei vorrangig dem Zweck, das staatliche Netz aus Überwachung und Datenhäufung noch dichter zu knüpfen und immer neue Schritte hin zur Verwirklichung des „entschlüsselten Menschen“ zu tun. Das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen bleibt dabei auf der Strecke.

Literatur: 

Rainer Hamm, Bürger im Fangnetz der Zentraldateien, in: Neue Juristische Wochenschrift, 1998, Heft 33, S. 2407-2409.

Ulrike Brockhaus, Maren Kolshorn, Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen – Mythen, Fakten, Theorien, Frankfurt a.M. 1993.

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