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Menschen­würde 3. Klasse

Zum Asylbewerberleistungsgesetz

In: Grundrechte-Report 1999, Seiten 27 – 32

Der Artikel 1 des Grundgesetzes verpflichtet den Staat und seine Behörden zur Wahrung und zum Schutz der Menschenwürde. In diesem Sinne ist einst auch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) geschaffen worden, um allen Menschen, die in Deutschland leben, die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Das Asylbewerberleistungsgesetz unterschreitet inzwischen erstmals den Standard des Menschenwürdigen, indem es eine bestimmte Gruppe aus der allgemeinen sozialrechtlichen Versorgung ausgrenzt. Dabei werden die Leistungen unter die in der Bundesrepublik geltende Armutsgrenze abgesenkt, die Entfaltung der Persönlichkeit wird durch das Sachleistungsprinzip erheblich eingeschränkt, der Individualisierungsgrundsatz wird zugunsten pauschaler Regelungen aufgegeben, eine medizinische Minimalversorgung gefährdet das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Die Kosten der Menschen­würde

Die nochmalige drastische Verschärfung und Ausweitung des Gesetzes zum 1. Juni 1997 muss als schlimmste politische Entgleisung im „Europäischen Jahr gegen Rassismus“ bezeichnet werden. Asylsuchende, Bürgerkriegsflüchtlinge, Flüchtlinge mit Duldung, Meldefrist oder Grenzübertrittsbescheinigung erhalten von diesem Datum an drei Jahre lang (vorher: ein Jahr) nur noch (drastisch gekürzte) Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.

Gegen die geballte Kritik von Kirchen, Wohlfahrts- und Ärzteverbänden, Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen, des UNHCR peitschte die Mehrheit von CDU/CSU, FDP und SPD kurz vor der Sommerpause 1998 eine nochmalige Verschärfung des Leistungsgesetzes für Asylsuchende durch den Bundestag, die ohne sorgfältige Kalkulation der Folgen und unter Einführung weiterer unbestimmter Rechtsbegriffe bereits am 1. September 1998 in Kraft getreten ist.

Durch diese Gesetz werden Menschen vogelfrei gestellt, wie erste Erfahrungen – insbesondere in Berlin – zeigen. Entgegen dem in der Öffentlichkeit von Politikerinnen und Politikern hervorgerufenen Eindruck sind von dieser Neuregelung auch Bürger-)Kriegsflüchtlingen in erheblichem Ausmaß betroffen. Denn das Gesetz sieht vor, dass die Leistungen für Ausländerinnen und Ausländer, die angeblich eingereist sind, „um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen“, auf ein Versorgungsniveau in der Nähe von Null reduziert werden können. Eine solche „Um-zu-Regelung“ war bisher schon Bestandteil des Sozialhilfegesetzes.

Bürger­kriegs­flücht­linge mitbe­troffen

Die von Flüchtlingsverbänden bei Novellierung des Asylbewerberleistungsgesetzes geäußerten Befürchtungen sind bereits eingetreten: Sozialbehörden bedienen sich der gesetzlichen Neuregelung als Legitimation für rigorose Leistungsverweigerung. Der Einzelfall wird nicht, nur pro forma oder sogar zum Nachteil des Flüchtlings geprüft. Einen schnellen und wirksamen Rechtsschutz gibt es faktisch nicht – im Gegenteil: Erste Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Berlin zeigen dieselbe Geisteshaltung wie die Beschlüsse der Sozialämter. Die 32. Kammer des VG Berlin fertigte mit Beschluß vom 30. Oktober 1998 einen im April nach Deutschland geflohenen Kosovo-Albaner so ab: „Das Gericht läßt die Angabe des Antragstellers dahinstehen, er habe den Kosovo wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen verlassen, denn dieser Gefahr war er bereits in Ungarn entronnen.“ Wenn er weder dort noch in den anderen Durchreiseländern geblieben sei, so zeige dies seine alleinige Absicht, in Deutschland Sozialleistungen zu beziehen: „Mag seine Ausreise aus der Heimat auf respektable Gründe zurückzuführen sein , die Einreise in Deutschland jedenfalls ist prägend von der Absicht bestimmt, hier auf deutsche Kosten zu leben.“ (Az: VG 32 A 4/98.98)

Über 200 Flüchtlingen haben von Mitte September bis Anfang November 1998 in Berlin Einschränkungsbescheide erhalten, in denen die Ämter den Flüchtlingen ohne Begründung ankündigen, die Versorgung mit Lebensmitteln und Obdach, Taschengeld und medizinischen Leistungen völlig einzustellen. Betroffen sind vor allem Kriegsflüchtlinge aus dem Kosovo, Deserteure aus der Bundesrepublik Jugoslawien und Palästinenser aus dem Libanon. Der psychische Druck auf Kriegsflüchtlinge, endlich auszureisen, wird mit diesem Gesetz erhöht: „Ausländer-raus-Politik“ mit den Mitteln des Sozialhilferechts!

Was vor einigen Jahren, selbst zum Zeitpunkt des Asylkompromisses, noch undenkbar und „verfassungswidrig“ erschien, wird nach Dutzenden von gravierenden Asylrechtsänderungen zu Lasten der Flüchtlinge, ihrer „scheibchenweise“ vollzogenen Entrechtung, einer immer subtileren und schleichenden Verfeinerung von Eingrenzungs- und Ausgrenzungsmethoden, welche die Flüchtlinge zu bloßen Objekten der Überwachung und Fürsorge machen, als „zumutbar“ angesehen. Der ehemalige Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch (FDP) begründete sein Ablehnung gegenüber den verschärften Bestimmungen des Asylbewerberleistungsgesetzes mit den Worten: “ Es ist unwürdig, einen Menschen und seine Familie ausschließlich zum Objekt der Verwaltung zu machen und ihrem Ermessen auszuliefern.“

Drei-­Klas­sen­-­Me­dizin 

Die Einschränkung der Leistungen auf das „unabweisbar Notwendige“ im Krankheitsfall verstößt nicht nur gegen die ärztliche Ethik und Berufsordnung, sondern markiert auch den direkten Schritt – so der Beauftragte für Menschenrechte, Dr. Montgomery – „in ein Drei-Klassen-Medizin: die der Reichen, der weniger Reichen und die der armen Schweine.“

Wenn einem zwölfjährigen stark sehbehinderten Flüchtlingskind beim Spielen mit gleichaltrigen deutschen Freunden die Brille zerbricht und Ärzte bei den Sozialbehörden darum kämpfen müssen, daß eine Brille eine Krankheit lindert und keinesfalls die Behebung einer „Befindlichkeitsstörung“ darstellt, dann stellt dies eine Verletzung des Diskriminierungsverbots Art. 2 Satz 2 i.V. mit Art. 12 des Sozialpakts dar, nach dem auch Deutschland die Voraussetzungen dafür zu schaffen habe, „für jedermann im Krankheitsfall den Genuß medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Betreuung“ sicherzustellen. Im Lichte internationaler Vereinbarungen, welche die neue Bundesregierung im Hinblick auf notwendige ausländerrechtliche Veränderungen und Anpassungen im Koalitionsvertrag zu überprüfen zugesagt hat, stellt dies ebenfalls einen eklatanten Verstoß gegen Art. 3 ( „Wohl des Kindes“) i.V. mit Art. 24 der UN-Kinderrechtskonvention dar, nach dem die Vertragsstaaten verpflichtet sind, Kindern „das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“ sowie die Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit zu sichern (Art. 24 Satz 1).

Psychotherapeutische Behandlung ist im Asylbewerberleistungsgesetz nicht vorgesehen. Es verwehrt damit Verfolgten den notwendigen Schutz vor und die medizinische Behandlung von Folterschäden. Dies bedeutet für einen großen Teil der Flüchtlinge im Asylverfahren eine Fortsetzung der Traumatisierung, und die Nichtbehandlung von Folteropfern muß einen Einstieg in weitere Dehumanisierung befürchten lassen.

Staatliches Unrecht

Eine der Wurzel des Rassismus liegt in der Ungleichbehandlung, der rechtlichen und sozialen Ausgrenzung von Menschen; sein Kern bestand und besteht in wirtschaftlicher, rechtlicher und sozialer Ungleichheit, in der Vorherrschaft über andere, Fremde wie Minderheiten. Die Einführung eines dauerhaft geringeren Existenzminimums für eine ganz bestimmte Gruppe hier lebender Menschen und ihre Ausgrenzung mit den mitteln des „Sozialrechts“ ist staatlich organisierter Rassismus.

Der sozialpolitische Grundkonsens in der Bundesrepublik Deutschland, Hilfsbedürftigen ein Leben in Würde zu ermöglichen, wird damit vollends verlassen. Auch wenn das Gesetz mit den Mitteln der Rechtsstaatlichkeit auf den Weg gebracht wurde: Menschen zum Zwecke der Kostenersparnis und Abschreckung in Sondergesetze zu zwingen, ist juristisch kodifiziertes Unrecht und beschädigt nachhaltig die Substanz und die Glaubwürdigkeit des sozialen und demokratischen Rechtsstaats.   

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