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Die Freiheit der Anders­den­ken­den. Das Gesicht der Bundes­re­pu­blik Deutschland im Spiegel der Demon­s­tra­ti­onen wird polizei­li­cher

Wolf-Dieter Narr, Elke Steven

Grundrechte-Report 2002, S. 117-122

Fast werden Demonstrationen, die öffentliche Artikulation bürgerlichen Willens im mehr oder minder losen oder geschlossenen Kollektiv diverser Gruppen, zu Demonstrationen polizeilicher Überlegenheit. Die Polizei ist (fast) überall. Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte stellen nicht selten sogar numerisch die Mehrheit. Die Demonstrierenden verlieren sich irgendwo bunt insular im unterschiedlich grünen, mehr und mehr BGS-Uniformen kenntlich machenden Gewoge. «Die » Polizei hat fast alles im Griff. Sie hat auch gewaltsame Äußerungen «im Griff», indem sie selbst, nicht selten zuerst und hart zugreift.

Das ist eine der Botschaften des demonstrativen Jahrs 2001. Wir kommen darauf zurück. Von zahlreichen kleinen lokalen Demonstrationen nicht zu reden, die wir oft nicht einmal vom Hörensagen oder Lesen kennen, lässt sich das demonstrative Geschehen des ersten Jahres im neuen Jahrtausend in vier große Blöcke aufteilen: in die Tradition demonstrativer Behinderung von Castor-Transporten, welch Letztere im Rahmen fortgesetzter Produktion und Zwischen-, wenn nicht Endlagerung abgebrannter Stäbe erforderlich werden (1); in die fortgesetzten NPD- und Gegen-NPD-Demonstrationen (2); in Demonstrationen, die die Landesgrenzen überschreiten und aus globalisierungskritischem Anlass beispielsweise mit erheblicher Beteiligung Bundesdeutscher im schwedischen Göteborg oder im italienischen Genua stattfinden (3); in gelegentliche Demonstrationen mit oder ohne besondere Symbolbedeutung. So die 1.-Mai-Demonstration in Berlin-Kreuzberg, die auch Elemente des an zweiter Stelle genannten Demonstrationstyps besitzt; so eine Demonstration im Juni 2001 gleichfalls in Berlin, die vor allem unter Beteiligung ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger die insbesondere für Asyl Suchende geltende Residenzpflicht skandalisierte; oder eine Demonstration, die anlässlich der von den USA und den Natostaaten aus dem 11. September gezogenen kriegerischen antiterroristischen Folgerungen in Stuttgart und Berlin zu friedlichen Problemlösungen aufrief (4).

Was wir, die wir zuweilen beobachtend an Demonstrationen teilnehmen, nicht müde werden zu betonen, gilt auch für die in vier Schubladen rubrizierten Demonstrationen des Jahres 2001: Sie sind jeweils für sich zu behandeln und zu bewerten. Darum geht es nicht an, Demonstrationen mit Vorgeschichte, beispielsweise die 1.-Mai-Demonstration in Berlin-Kreuzberg, unbeschadet der historischen Patina, in die sie auch von ihren je neuen Veranstaltern eingekleidet wird, nach einem wie immer gearteten Schema F zu behandeln, das heißt in diesem Fall, sie von politischer und polizeibehördlicher Seite schon im Vorhinein als gewalttätig zu verschreien und entsprechend zu behandeln. Angesichts des knappen Raums werden wir dennoch einige vor sichtig verallgemeinerbare und im Einzelfall immer erneut zu überprüfende Beobachtungen mitteilen:

1. Was schon in den letzten Jahren der Fall war, wird vor allem im Kontext der Anti-AKW-Demonstrationen rund um Gorleben und anderwärts flächendeckend und die Demonstrationen unverhältnismäßig be-, wenn nicht verhindernd praktiziert: großräumige Verbote von Demonstrationen in Form von Allgemeinverfügungen. Diese Allgemeinverfügungen leben nicht nur von höchst dubiosen und nebulösen Gewaltvermutungen in Form des behördlich produzierten Scheins «unmittelbarer Gefahr». Diese Allgemeinverfügungen sind auch dadurch gekennzeichnet, dass sie das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit in seinem Gewicht bis zum Verschwinden minimieren, indem sie irgendwelche Einzelgesetze bis hin zu Bebauungsplänen, als seien sie von gleichem Gewicht, kumulativ dagegen wägen. Ihre Waage und nicht weniger die ihnen Recht gebenden Verwaltungsgerichte sind grundrechtlich nicht eigens geeicht. Grundrechte werden nur pflichthalber genannt, um sie danach sogleich abzuhaken und irgendwelche Einzelgesetze bedeutungsmassiv dagegen zu

platzieren.

2. Durch die Art, wie die Polizei, beauftragt, Gewalt zu verhindern, ihrerseits gewalttätig eingesetzt wird, werden gewalttätige Auseinandersetzungen polizeilich in beträchtlichem Umfang mit inszeniert. Dieser Vorwurf gilt uneingeschränkt beispielsweise für den 1. Mai 2001 in Berlin und das für Kreuzberg ausgesprochene nachmittäglich-abendliche Demonstrationsverbot. Dieser Vorwurf hat auch für eine Reihe von Teildemonstrationen im Rahmen der mehrere Tage umfassenden Demonstration Ende März in Gorleben Geltung. Schlechterdings nicht akzeptabel sind geradezu massenweise geübte polizeiliche «Ingewahrsamnahmen» mit unmittelba rer polizeilicher Gewalt. Solche sind nicht nur am 1. Mai in Berlin, sondern vor allem auch Mitte November erneut bei Gorleben erfolgt. Offenkundig friedliche, beispielsweise als Beobachter und Beobachterinnen des Komitees für Grundrechte und Demokratie erkenntliche und sich selbst zu erkennen gebende Bürgerinnen und Bürger wurden ohne jede Not stundenlang unter nicht akzeptablen hygienischen Bedingungen festgehalten und teilweise, erneut ein grundrechtlicher Skandal, erkennungsdienstlich behandelt. Kein Schutz von Demonstrationen, die erste demokratische Aufgabe der Polizei, und kein Schutz vor Demonstrierenden, die in der Mehrzahl der Fälle ausgeübte Funktion der Polizei, rechtfertigen diese unmittelbare polizeiliche Zwangsgewalt. Offenkundig wird damit eine allgemeine Einschüchterung angestrebt. Polizeiliches Furchterregen soll «normale » Bürgerinnen und Bürger davon abhalten, sich an Demonstrationen zu beteiligen.

3. Die NPD-Demonstrationen und Gegendemonstrationen stellen zweifelsohne ein Problem dar, mit dem polizeilich nicht mühelos verfahren werden kann. Zum einen ist den NPD-Anhängern, mit deren Absichten uns nichts außer unserem hundertprozentigen Widerspruch verbindet, die Freiheit, für ihre stupiden Interessen zu demonstrieren, zu gewährleisten. Wir verstehen gut, dass Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Berlin beschämt, verärgert und zornig reagieren, wenn NPDLeute sich stiefeldick und mit brutalem Habitus durch die Oranienburger Straße bewegten. Nur: Meinungs- und Demonstrationsfreiheit sind exzessiv zu gewährende Rechte. Um einer lebendigen Demokratie und ihrer unvermeidlichen Konflikte willen. Für sie zuerst gilt Rosa Luxemburgs großes Wort: «Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden. » Weil Freiheit, wie Rosa Luxemburg fortsetzt, sonst zum Privileg wird. Zum anderen ist selbstverständlich auch den NPD-Gegnerinnen und Gegnern zu gestatten, sich demonstrativ gegen all das zu wenden, wofür die NPD demonstriert. Da die Polizei jedoch nicht ganz zu Unrecht gewalttätige Übergriffe von der einen Demonstrationsseite auf die andere und umgekehrt befürchtet, trennt sie beide Demonstrationszüge, sodass Anfang März in Dortmund zwei polizeilich geschlossene Demonstrationszirkel aneinander vorbeizogen. Oder, so am 1. Dezember in Berlin, die Gegendemonstration wird in einer Weise von der Polizei unterbunden und mit polizeilicher Gewalt traktiert – nach all den uns vorliegenden Meldungen –, dass von demonstrativer Gerechtigkeit im formalen Sinne nicht mehr die Rede sein kann.

4. Die Bürgerinnen und Bürger, die ins EU-Ausland fuhren oder fahren wollten, um in Göteborg bzw. Genua globalisierungskritisch zu demonstrieren, haben die schlimme Erfahrung gemacht, wie unterentwickelt elementare Grund- und Menschenrechte im Rahmen der Europäischen Union sind, wenn sie über die angeblich verblichenen Grenzen hinweg wahrgenommen werden. Grundlose Festnahmen, mangelnde Möglichkeiten, sich rechtlich zu wehren, rasches Niederknüppeln demonstrativer Akte – so und ähnlich lauten die Erfahrungen vieler junger, alles andere als auf Gewalttaten erpichter Bürgerinnen und Bürger.

Nicht erst durch die neuen Sicherheitsgesetze, die die Sicherheit der grundrechtsgeschützten Bürgerinnen und Bürger drastisch heruntersetzen, ist das gerade repräsentativ-demokratisch zentrale Demonstrationsrecht verstärkt in Gefahr geraten. In Gefahr, polizeilich vereinnahmt und nahezu ganz kassiert zu werden. Wie sich an den Demonstrationen wider die AKW ebenso zeigen lässt wie an den Demonstrationen und Gegendemonstra tionen in Sachen NPD, kann die demonstrative Freiheit nicht allein aus sich selber, sprich aus dem Demonstrationsrecht heraus erneuert und gewährleistet werden. Vielmehr bedürfte es neuer politischer Anstrengungen, damit zum einen die Polizei nicht nur zum Büttel höchst fragwürdiger exekutiver Entscheidungen wird – wie im Falle der Atomenergie, in dem die Exekutive in neoabsolutistischer Weise ihre interessenvolle Sicht der Dinge aus gutem Grund besorgten Bürgerinnen und Bürgern aufherrscht. Anderer politischer Anstrengungen bedürfte es auch, um die Freiheit der Demonstration sowohl den NPD-Anhängern als auch ihren Gegnern, mit denen wir sympathisieren, zu gewähren, ohne eine üble Schlägerei befürchten zu müssen. Wenn politisch-demokratisch solches gewollt würde, dann wäre dies genauso möglich wie ein friedlicher 1. Mai in Berlin-Kreuzberg. Zu befürchten ist stattdessen, dass die üble NPD, die einseitigen Entscheidungen in Sachen AKW, zu deren Durchsetzung die Polizei missbraucht wird, dazu herhalten müssen, das demokratische Urrecht der Demonstration, das darauf angelegt ist, Gewalt zu vermeiden, so zu beschränken, dass vermehrte Polizeigewalt und Gegengewalt die aufschaukelnde, weitere Einschränkungen rechtfertigende Folge sind.

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