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Die Gen-Datei muss gesperrt werden

Klaus Rauschert

Grundrechte-Report 2002, S. 64-67

Der Grundrechte-Report hat die Problematik des «genetischen Fingerabdrucks» seit 1999 in jedem Jahr aufgegriffen. Mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) dazu sowie das Unvermögen der Bundesregierung, einen rechtmäßigen Zustand herzustellen, geben Veranlassung, das ein viertes Mal zu tun.

Das BVerfG hat am 3. Oktober 1999, am 14. Dezember 2000 und am 15. März 2001 über insgesamt acht Verfassungsbeschwerden entschieden, die gegen gerichtliche Anordnungen zur Herstellung und Speicherung von DNA-Identifizierungsmustern erhoben worden waren. In fünf Fällen hat es den Verfassungsbeschwerden stattgegeben und die Beschlüsse der Amts- und Landgerichte aufgehoben. In allen acht Fällen ging es nicht um Maßnahmen in anhängigen Strafverfahren ( § 81a StPO), sondern um Anordnungen gegen Verurteilte «zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren» nach dem Identitätsfeststellungsgesetz (DNA-IFG) vom 7. September 1998 (BGBl I S. 2646). Es ging also um die Fälle, die aus bürgerrechtlicher Sicht von Anfang an als besonders problematisch empfunden worden sind. Das BVerfG hat diese Sicht bestätigt. Von Bedeutung sind dabei sowohl der verfassungsrechtliche Ausgangspunkt als auch die Bewertung der – in allen acht Fällen weitgehend übereinstimmenden – Sachverhalte.

Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt der Entscheidungen ist, dass eine Anordnung, ein DNA-Identifizierungsmuster – einen «genetischen Fingerabdruck» – herzustellen und zu speichern, stets in das Grundrecht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung eingreift (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG). Solange die Anordnung ausschließlich der Identitätsfeststellung dient, also vor allem nicht der Feststellung persönlicher Eigenschaften oder Merkmale, verletze sie, so das Gericht, zwar nicht den «absolut geschützten Kernbereich der Persönlichkeit», aber sie könne trotzdem nur mit einem «Gemeinwohlbelang von hohem Rang» gerechtfertigt werden. Als einen solchen sieht das BVerfG in ständiger Rechtsprechung auch eine funktionstüchtige Strafrechtspflege an. Nur muss der Grundrechtseingriff dieser auch wirklich dienen. Deshalb seien die Begrenzungen, die das DNA-IFG vorsieht, von Verfassung wegen zwingend geboten: Die Beschränkung auf Straftaten «von erheblicher Bedeutung» und die Voraussetzung einer «Negativprognose »: dass im konkreten Fall «Grund zu der Annahme besteht», dass gegen den Verurteilten «künftig erneut Strafverfahren wegen einer der vorgenannten Straftaten zu führen

sind».

An dieser verfassungsrechtlichen Norm maß das BVerfG nun die ihm vorgelegten acht Sachverhalte. Es stellte fest, dass in fünf Fällen die Amts- und Landgerichte die Negativprognose offenbar überhaupt nicht geprüft hatten; meist war diese Voraus setzung mit einer Wiederholung des Gesetzeswortlauts abgetan worden. Eine sechste Verfassungsbeschwerde war wegen formaler Mängel erfolglos, obwohl der Sachverhalt im Wesentlichen gleich war. In zwei Fällen fand das BVerfG die Negativprognose ausreichend begründet – in einem Viertel der Fälle also. Man sollte wohl davon ausgehen, dass dieser Anteil repräsentativ ist; Beobachterinnen und Beobachter aus den Bürgerrechtsorganisationen haben den Anteil rechtmäßiger Verfahren noch deutlich niedriger eingeschätzt (vgl. Martin Singe, Grundrechte- Report 2001, S. 50ff.).

Aus bürgerrechtlicher Sicht ergeben sich zwei Folgerungen aus den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen. Zunächst: Die in der Gen-Datei beim Bundeskriminalamt gespeicherten DNA-Identifizierungsmuster sind nicht nur hin und wieder, sondern ganz überwiegend auf rechtswidrige Weise gewonnen worden; sie dürfen nicht gespeichert und in Strafverfahren nicht verwertet werden. Die Bundesjustizministerin hat der Humanistischen Union (HU), die sie deshalb angeschrieben hatte, dazu erklärt, dass dies in einem späteren Strafverfahren doch geltend gemacht und berücksichtigt werden könne und müsse. Aber dieser Hinweis läuft darauf hinaus, dass die Rechtswidrigkeit der Herstellung und Speicherung dann geltend gemacht und geprüft werden muss, wenn mit Hilfe der Gen-Analyse ein Täter überführt worden ist. Das ist der das Verfahren beobachtenden Öffentlichkeit kaum zu vermitteln. Es führt kein Weg daran vorbei, die Rechtmäßigkeit zu überprüfen, bevor das gespeicherte Muster in ein neues Verfahren eingeführt wird. Das könnte zwar bedeuten, dass der gesamte gegenwärtige Bestand der Gen-Datei einer Sperre unterworfen werden muss, bis diese Überprüfung stattgefunden hat. Auch ein solcher Schritt müsste der Öffentlichkeit vermittelt werden. Aber wer dieser Konsequenz entgehen will, muss erklären, wie er das Grundrecht wirksam schüt zen will. Wenn Verstöße folgenlos bleiben, werden die Gerichte auch künftig wenig Neigung haben, von ihrem «praxisorientierten » – das heißt arbeitssparenden – Weg abzugehen. Eine weitere bürgerrechtliche Folgerung aus den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen lautet, jeder weiteren Grundrechtseinschränkung im Gesetz wachsam zu widerstehen. Einen ersten Versuch hat es im Mai 2001 in Form einer bayerischen Bundesratsinitiative bereits gegeben: Die Beschränkung auf «Straftaten von besonderer Bedeutung» sei zu eng und müsse beseitigt werden (BR-Drs. 360/01). Das BVerfG hatte klargestellt, dass dies mit der Verfassung nicht vereinbar wäre. Es wäre gefährlich zu meinen, die weitere Voraussetzung der «Negativprognose » allein schütze vor Ausuferungen. Das ist das Wesen der Salami-Taktik: Jede einzelne Scheibe, die fortgenommen wird, scheint kaum Gewicht zu haben. Die Verfechter eines Vorrangs der Sicherheitspolitik haben eine Vision vor Augen: eine Gen-Datei, in der alle Menschen gespeichert sind. Ihr muss eine andere entgegengesetzt werden: Die genetische Struktur der in ihm lebenden Menschen geht den Staat nichts an.

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